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DAS BLÄTTCHEN/1004: Statthalter der Barbarei


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 20/2009 - 28. September 2009

Statthalter der Barbarei

Von Wolfgang Schwarz


Im Jahr der 70. Wiederkehr des deutschen Überfalls auf Polen gebührt dem Philologen und Historiker Markus Roth das Verdienst, ein bisher ungeschriebenes, in Deutschland nahezu vollständig verdrängtes Kapitel der Geschichte der deutschen Gewalt- und Terrorherrschaft in Polen akribisch aufgearbeitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben - das Agieren der deutschen Zivilverwaltung im sogenannten Generalgouvernement.

Unter diesem Begriff subsumierten die Nazis jene Teile des polnischen Staatsterritoriums, die nicht direkt dem Deutschen Reich einverleibt worden waren. Bis zum Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 war dieses Gebiet in vier Distrikte mit jeweils eigenem deutschen Gouverneur aufgeteilt - Warschau, Radom, Krakau und Lublin. Dann kam Galizien als fünfter Distrikt hinzu. An der Spitze der deutschen Herrschaftspyramide amtierte Generalgouverneur Hans Frank mit Sitz in Krakau.

Das Fundament beziehungsweise die operative Basis dieser Pyramide bildeten jedoch sogenannte Kreis- und Stadthauptleute, die für die über sechzig territorialen Verwaltungseinheiten des Generalgouvernements (Landkreise und größere Städte) eingesetzt wurden und vor Ort mit ihren Apparaten eine entscheidende Säule der deutschen Besatzungsherrschaft bildeten. Vorrangig organisierten, realisierten und sicherten sie die systematische Ausplünderung der polnischen Industrie und Landwirtschaft, die Rekrutierung von polnischen Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich (insgesamt über 1,2 Millionen) und nicht zuletzt als logistische Voraussetzungen für den Holocaust den Zusammentrieb jüdischer Menschen zum Abtransport in die Vernichtungslager oder auch für Massaker an Ort und Stelle.

Diese Funktionselite der Kreis- und Stadthauptleute hatte, wie Roth detailliert nachweist, derart große Handlungsvollmachten und -spielräume, daß sie gerade im Hinblick auf den Holocaust nicht nur als Transmissionsriemen des in Berlin vorgeplanten und von der SS exekutierten Massenmordes fungierte, sondern auch als zusätzlich treibende Kraft bis hin zur direkten persönlichen Beteiligung an Tötungsaktionen.

Die Gruppe der Kreis- und Stadthauptleute in Polen umfaßte etwa 130 Personen. Roth hat in den historischen Akten in deutschen und polnischen Archiven die Namen praktisch sämtlicher Akteure gefunden und - häufig recht detailliert - deren Lebensläufe rekonstruiert.

Was da zum Zuge kam, waren keine sozial Deklassierten, keine Kriminellen, keine Parvenüs, wie sonst so häufig in der NSDAP und ihren nachgeordneten Formationen und Organisationen. Die Kreis- und Stadthauptleute, so Roth, waren "hinsichtlich sozialer Herkunft, Bildung und Ausbildung eine recht homogene Gruppe. Sie stammten aus dem bürgerlichen Milieu des Mittelstandes, hatten eine gute Schulbildung ... und meist auch studiert ... und noch in den Krisenjahren der Weimarer Republik einen Berufseinstieg in der Verwaltung, als Rechtsanwälte oder in der freien Wirtschaft gefunden". Einen übergroßen Anteil stellten Rechtsanwälte; auffällig war auch der sehr hohe Prozentsatz Promovierter.

Das Kriegsende haben die meisten dieser Funktionsträger - von Verlusten an Macht und persönlichem Wohlstand abgesehen - persönlich unbeschadet überstanden. Es gab kaum Fälle, in denen sich die Entnazifizierungsverfahren, die sie in den westlichen Besatzungszonen zu durchlaufen hatten, spürbar negativ auf die weitere Karriere ausgewirkt hätte. Bereits damals wirkte jene Melange aus Verschleiern, Lügen, Verdrängen, aus alten Seilschaften und Netzwerken sowie wohlwollender Ignoranz oder gar Patronage einer Mehrheit der neuen Amts- und Verantwortungsträger, die jede systematische Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen in der alten Bundesrepublik dauerhaft verhindert hat. Der beginnende und sich rasch zuspitzende Kalte Krieg tat ein übriges.

Schon Ende der vierziger Jahre, so Markus Roth, konnten sich die meisten ehemaligen Kreis- und Stadthauptleute "ihrer beruflichen Reetablierung und Karriere (widmen). Fast allen eröffnete sich ein Weg, der ihrem Ausbildungsniveau und ihrem vor dem Krieg erreichten Stand entsprach: Den klassischen Verwaltungsbeamten und den Juristen gelang ein rascher Einstieg in den öffentlichen Dienst oder in die Justiz der Bundesrepublik, wo sie unbehelligt Karriere machten und bisweilen hohe Positionen erreichten."

Wie etwa Hans-Adolf Asbach (1904-1976), Kreishauptmann von 1940 bis 1943, der zum Landesminister für Arbeit, Soziales und Vertriebene in Schleswig-Holstein (1950-1957) avancierte. Ein erst 1961 einsetzendes Ermittlungsverfahren, bei dem es unter anderem um den Vorwurf einer direkten Beteiligung Asbachs an der Ermordung von 2000 Juden im polnischen Rohatyn 1942 ging, verlief im Sande.

Von den ehemaligen Kreis- und Stadthauptleuten ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht ein einziger rechtlich zur Verantwortung gezogen worden. In den allermeisten Fällen gab es nicht einmal Ermittlungsverfahren. Kamen sie doch zustande, wurden sie häufig auf eine Weise verzögert, die dem Tatbestand der Rechtsvereitelung zumindest nahekam, und letztlich - bis auf eines - ohne Prozesseröffnung eingestellt. Der einzige Prozeß, der tatsächlich stattfand, endete mit Freispruch.

Insgesamt hinterläßt die Lektüre der betreffenden Kapitel des Buches von Markus Roth den Eindruck, daß die bundesrepublikanische Politik und Justiz die Verbrechen dieses Personenkreises insgesamt noch unwilliger und inkonsequenter verfolgte als andere Nazi- und Kriegsverbrechen - soweit dies überhaupt noch möglich war.


Markus Roth: Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen. Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Wallstein Verlag Göttingen 2009, 556 Seiten, 39 Euro


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 20, 12. Jg., 28. September 2009, S. 16-18
Herausgegeben vom Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2009