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CORREOS/143: Mexiko - Die Verdammten in den Gefängnissen


Correos des las Américas - Nr. 168, 23. November 2011

MEXIKO
Die Verdammten in den Gefängnissen
Die Spirale der Gewalt auf den Strassen betrifft auch das Leben im Knast.

von Philipp Gerber


Am 7. November 2011 berichteten die Medien, bei einer Razzia im zentralen Gefängnis von Acapulco seien 160 Fernseher und 53 Kampfhähne gefunden und 19 Prostituierte aufgegriffen worden. Als "Luxusleben hinter Gittern" wird das dann dargestellt. Der Gefängnisdirektor wurde verhaftet. Solche Meldungen kursieren immer mehr. Fakt ist: Mit der eskalierenden Gewalt draussen setzen die Verbrecherbanden auch drinnen ihre eigenen Regeln brutal durch.

Wie der Staat mit den Gefangenen umgeht, wird öffentlich nicht thematisiert. Der Arzt Raymundo Diaz vom "Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit" war am Tag nach der Razzia im berüchtigten Knast von Acapulco, wo er politische Gefangene medizinisch betreut. "Die Häftlinge erzählten uns von zahlreichen Übergriffen während der Polizeiaktion. Es gab Schläge, Tränengaseinsatz, Diebstahl und Misshandlungen". Doch diese würden nicht publik.

"Zentren zur sozialen Wiedereingliederung" werden die Gefängnisse in Mexiko euphemistisch genannt. Doch von Sozialarbeit keine Spur: "Das Vollzugswesen hat schon gegeben, was es konnte, oder vielleicht gab es nie Resultate. Heute produziert es mehr Probleme als dass es zur Wiedereingliederung des Individuums beträgt", urteilte Luis González Placencia, Präsident der Menschenrechtskommission von Mexiko Stadt. 90 % der Häftlinge sitzen ohne ein faires Verfahren, ja ohne stichfeste Schuldbeweise ein. Oft genügt eine wacklige Zeugenaussage, damit jemand zu jahrzehntelangen Strafen verurteilt wird, wie der hierzulande heiss diskutierte Dokumentarfilm "Presunto culpable" (Mutmasslich schuldig) an einem Fall in Mexiko Stadt veranschaulicht.

Mexiko leidet nicht nur unter der Gewalt der blindwütigen Auseinandersetzungen im sogenannten "Drogenkrieg" und unter einer fast ausnahmslosen Straflosigkeit. Für das eine oder andere Verbrechen müssen Schuldige her, zur Erfüllung der Erfolgsquoten der Strafverfolgungsbehörden. Und diese Schuldigen werden produziert.

Beispiele gefällig? Nur einige wenige erlangen grösseres Aufsehen: Die Französin Florence Cassez, verurteilt zu 60 Jahren wegen Entführung. Ihre Verhaftung wurde vom Polizeiministerium tags darauf extra für Televisa nachgestellt, sie liessen die Journalisten im Glauben, die Verhaftung passiere live. Oder die vom Menschenrechtszentrum ProDH betreuten Fälle von indigenen Frauen wie Basilia Ucán Nah oder Jacinta Francisco Marcial, welche ohne Übersetzung bzw. ohne Rücksicht auf ihren Analphabetismus zu langjährigen Haftstrafen für Taten verurteilt wurden, mit denen sie nichts zu tun hatten, wie Revisionsverfahren zeigten.

Andere "mutmasslich Schuldige" haben weniger Glück. So der Grundschullehrer Alberto Patishtan, der im Juni 2000 für den Mord an sieben Polizisten verhaftet wurde. Der "professionelle Hinterhalt" im chiapanekischen Hochland war wohl eine interne Abrechnung wegen dunkler Geschäfte, vermutete damals die EZLN. Zwei Personen, die einander nicht mal kannten, wurden dafür verhaftet. Ein Zapatist aus Unión Progreso und Patishtan aus dem Hauptort von El Bosque. Das einzige Gemeinsame der beiden: Sie störten den lokalen Gemeindepräsidenten; Patishtan organisierte Proteste gegen seine korrupte Amtsführung. Das Menschenrechtszentrum nahm sich der Verteidigung des Zapatisten an, der nach fast einem Jahr Untersuchungshaft auch frei kam. Blieb der Lehrer als Sündenbock, 60 Jahre Knast. Entlastungszeugen wurden nicht gehört, der einzige Belastungszeuge ist verschwunden. Patishtan sitzt seit über 11 Jahren, der 40-jährige hat inzwischen grosse gesundheitliche Probleme.

Ein Dutzend indigene Gefangene in Chiapas, angeführt von Patishtan, starteten diesen Herbst einen unbefristeten Hungerstreik. 2008 führte ein früherer Hungerstreik zur Freilassung von 40 politischen Gefangenen, da die Regierung Sabines schwere Imageschäden befürchtete, sollte der Streik fatale Folgen haben. Dieses Jahr wurde der Streik nach 39 Tagen am 6. November wegen grosser gesundheitlicher Probleme und der Weigerung der Behörden, unabhängigen Ärzten Zutritt zu gewähren, abgebrochen. Es gibt nun zwar eine neue Untersuchung der Fälle und zwei der Hungerstreikenden wurden nach 8 Jahren vorzeitig entlassen. Doch insbesondere dem Sprecher der Aktion, Alberto Patishtan, hat der Streik nur geschadet: Nach drei Wochen wurde er nächtens aus der Streikgruppe gezerrt und in ein Gefängnis im nordmexikanischen Sinaloa entführt. Die illegitime Verlegung 2.000 km von den Angehörigen entfernt bedeutet eine weitere unglaubliche Schikane. Ob Patishtan tatsächlich in Sinaloa einsitzt, kann bisher niemand bestätigen, denn Besuche werden keine erlaubt.

In der gleichen Nacht wurden in vielen Knästen des Landes wie Patishtan hunderte von Häftlingen verlegt, angeblich "mit ihrem Einverständnis". Ihre Reise ging auf die Gefängnisinsel "Islas Marias", einhundert Kilometer vor der Küste von Nayarit gelegen. 1.127 Häftlinge zählte die Strafkolonie bis Mitte Oktober 2011. Dann wurden 2.500 neue Häftlinge innerhalb weniger Tage auf die Insel geflogen. Die Hauptinsel der ansonsten unbewohnten Islas Marías ist die grösste Vollzugseinrichtung Mexikos, welches ganz human als "Gefängnis ohne Mauern" mit geringer Bewachung dargestellt wird, denn das Meer beziehungsweise die Haie reichten zur Fluchthinderung aus. Die Gefangenen könnten sich frei bewegen und auf das Leben nach der Strafe vorbereiten, so die Behörden. "Die Bedingungen sind schwierig, es herrscht eine unerbärmliche Hitze", meint hingegen die Anwältin Alba Cruz Ramos von der oaxaqueñischen Menschenrechtsorganisation Codigo DH. "Auch ist die medizinische Versorgung schlecht. Aber die grösste Strafe ist die Isolation. Es gibt keine Telephonverbindung zu Familie und Anwälten und bloss ein Versorgungsschiff das die Insel ab und zu anfährt". Die massive Verlegung passierte, "weil sie Platz in den überfüllten Gefängnissen für neue Häftlinge brauchen", meint Alba Cruz.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 168, 23. November 2011, S. 14
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2012