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CORREOS/120: Wirtschaftsbaustelle Kuba


Correos des las Américas - Nr. 165, 15. März 2011

Wirtschaftsbaustelle Kuba

"Dass die Partei in einer kritischen wirtschaftlichen Situation und vor der Notwendigkeit tief greifender Veränderungen diese öffentlich zur Debatte stellt, sucht seinesgleichen und zeugt von einem soliden sozialen Grundkonsens in der Bevölkerung."

Von Franco Weis


Wer dachte, sich die diesjährige Jahresabschlussrede von Präsident Raúl Castro vor dem Parlament sparen zu können, beging einen groben Fehler. Das Risiko bestand: In verschiedenen Reden hatte Raúl Castro immer wieder die Erwartung wichtiger Ankündigungen enttäuscht und stattdessen um mehr Zeit gebeten. Nun, der seit vier Jahren als Präsident amtierende Raúl Castro sparte auch dieses Mal nicht mit beissender Kritik an Bürokratie, Ineffizienz und Schlendrian, skizzierte jetzt aber auch die Wegroute: "Entweder wir korrigieren unseren Kurs, solange noch Zeit ist, oder wir werden untergehen und die Anstrengungen ganzer Generationen mit in den Abgrund reissen. Dieser kommende Parteikongress ist der letzte der historischen Generation; uns bleibt nur noch wenig Zeit. Ohne falsche Bescheidenheit denke ich, wir haben die Verpflichtung, unsere moralische Autorität vor der Bevölkerung dafür einzusetzen, die Richtung zu weisen und ... einige unserer Irrtümer der letzten fünf Jahrzehnte zu berichtigen. Heute ist es revolutionär und ehrlich für ein Kader in Würde zurückzutreten, falls er/sie sich müde oder nicht in der Lage fühlt, die neuen Aufgaben zu erfüllen; dies ist der Absetzung immer vorzuziehen".


Rege Debatte

Ein Meilenstein wird der Parteikongress im April sein, an dem die gegenwärtige landesweite Diskussion auf der Basis eines 291 Punkte und 12 Kapitel umfassenden Dokumentes zur Wirtschafts- und Sozialpolitik ihren Abschluss findet. Bislang 6 der 11 Millionen EinwohnerInnen Kubas haben laut der Parteizeitung "Granma" vom 4. Februar an diesem Prozess teilgenommen, der allen BürgerInnen (nicht nur Parteimitgliedern) offen steht. Selbst wenn die Zahl um Mehrfachteilnahmen entschlackt wird, darf davon ausgegangen werden, dass schliesslich die Mehrheit der Gesamtbevölkerung sich in an diesem Prozess beteiligt haben wird. 5000 Personen sind damit beschäftigt, die Anregungen und Kritiken aus den Versammlungen zu systematisieren.

Dass nicht an allen Versammlungen offen diskutiert wird und sich die Verantwortlichen nicht immer daran halten, die Anregungen der TeilnehmerInnen zu notieren, statt zu versuchen, sie zu beantworten, ist richtig. Genauso, dass ein Teil der Leute daran entweder gar nicht interessiert ist, das Vertrauen verloren hat oder nach den beiden vorherigen ähnlichen Prozessen müde geworden ist. Aber, dass die Partei in einer kritischen wirtschaftlichen Situation und vor der Notwendigkeit tief greifender Veränderungen diese öffentlich zur Debatte stellt, sucht seinesgleichen und zeugt von einem soliden sozialen Grundkonsens in der Bevölkerung.

Ein zweiter Schritt in diesem Prozess wird die zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 2011 stattfindende Parteikonferenz sein. Da dürfte es vor allem um personelle Neubesetzungen gehen. In der Regierung hat Raúl in diesen vier Jahren schon heftig umgebaut - die meisten Ministerien wurden neu besetzt, etliche MinisterInnen unehrenvoll wegen Ineffizienz, Fehlern oder Verfehlungen entlassen. Ein Grossteil des Kabinetts ist zwischen 45 und 55 Jahren alt und hochqualifiziert auf dem jeweiligen Spezialgebiet - von den 5 Personen ausser Raúl Castro, an die Fidel im Juli 2006 Verantwortung delegierte, ist einzig Esteban Lazo noch im Amt.


Fragen, nicht Bürokratie

Eine erste Lektüre dieser vorgeschlagenen Programmpunkte lässt etliche Fragen offen. Aber anlässlich der Parlamentsdebatte - über die in den Medien mit Spezialsendungen und -beilagen breit berichtet wurde - wurde klar, dass sehr viele und seriöse Studien durchgeführt worden waren, um diesen bis 2015 reichenden Umstrukturierungsplan zu formulieren.

Die Ausgangslage ist klar - so kann es nicht weitergehen, denn es wird mehr ausgegeben als eingenommen und somit lautet die Frage, wie die Kluft zwischen sozialen Errungenschaften und deren Kosten und der Wirtschaftsleistung und Produktivität geschlossen werden kann. Auf die Dauer ist eine künstliche Vollbeschäftigung nicht aufrechtzuerhalten, wo eigentlich nur ein Bruchteil der Arbeitenden wirklich gebraucht wird und Zehntausende jahrelang Lohn beziehen, obwohl ihre Unternehmen stillstehen oder chronisch Verluste einfahren. Das wirkt auch lähmend und demotivierend für Anpackende, deren Lohntüte gleich leer ist. Die ländliche Provinz Habana (nicht die Stadt, die eine eigene Provinz ist) wurde kürzlich zweigeteilt - die neuen Strukturen in beiden Provinzen beschäftigen weniger als 60% der vorherigen Angestellten und die Einsparungen gehen durch die ganze Hierarchie. Dies soll schrittweise auf Gemeindeebene und in allen Provinzen angewandt werden, die Zahl der Freigestellten, die von der lokalen Bürokratie in den produktiven Bereich abwandern soll, wird sechsstellig sein. Ein stark technologisiertes Gesundheitswesen anstelle des präventiven Modells des/der FamilienärztIn ist ebenso wenig finanzierbar wie der Anspruch aller auf Gratisunistudium mit garantiertem Arbeitsplatz, egal wie viele AbgängerInnen der jeweiligen Fachrichtung das Land braucht.

In der Bevölkerung herrscht weitgehend Konsens, dass es so nicht weiter gehen kann. Auch die klare Haltung, dass es nicht um eine Rückkehr zum Kapitalismus geht, wird geteilt. Andrerseits herrscht Unsicherheit angesichts der Tatsache, dass bis 2015 die Hälfte der Angestellten im nichtstaatlichen Sektor tätig sein soll. Eine andere Frage ist, was mit RentnerInnen, einfachen Staatsangestellten, allein stehenden Familienmüttern und anderen einkommensschwachen Gruppen geschieht, wenn die Subventionen, beispielsweise rund die Hälfte der Grundnahrungsmittel, wegfallen. Die berühmte Libreta, das Bezugsbuch für günstige Grundnahrungsmittel, viel kritisiert während all der Jahre, war noch nie so beliebt wie heute. Ihre geplante Abschaffung wurde in vielen Versammlungen heftig kritisiert; dies vor allem auch deshalb, weil der erwähnte Übergang von generellen Vergünstigungen zu gruppenspezifischen Unterstützungen je nach Bedürfnis relativ unklar ist. Und wie ist die Dezentralisierung politischer und ökonomischer Macht - nach dem Grundsatz "Alles auf der niedrigstmöglichen Ebene regeln" - zu organisieren, dass sie nicht dazu führt, dass sich Macht (und Ressourcen) in den autonomeren Unternehmen und in Gemeinden und Provinzen auf kleine Zirkel konzentrieren? Eine wichtige Frage ist, wie die politische Kontrolle des ganzen Veränderungsprozesses durch die Partei, die legale durch eine gestärkte Behörde und die soziale durch die Bevölkerung garantiert werden kann.

Ein erhebliches Widerstandspotential weist die mittlere Bürokratie auf, seit jeher vorwiegend parasitär und lähmend, deren Existenz und relative Privilegien auf der arbeitenden Bevölkerung und, so Raúl Castro, "unnötigen und übertriebenen Verboten und Beschränkungen" basieren. Auf der Strasse, aber auch in LeserInnenbriefen inklusive in der "Granma", mehren sich die spezifischen Klagen, die dann auch zu heftigen Strafen führen; es bleibt zu hoffen, dass diese Kombination von politischem Willen und aktiver BürgerInnenbeteiligung gegenüber den Burrokraten (Wortspiel das am 1. Mai radikale Linke mit sich trugen - burro heisst im Spanischen der Esel) die Oberhand behält.


Sozialismus, nicht Miami

Sicher können nicht alle Antworten in einem Dokument erwartet werden, aber die Absicht ist klar. Es geht nicht um eine Rückkehr zum Kapitalismus - die Mehrheit der KubanerInnen weiss, dass sie nicht ins TV-Miami, sondern in die Zustände etwa in der Dominikanischen Republik führen würde - sondern darum, das sozialistische Modell zu erneuern und zu aktualisieren, ohne "erneut zu kopieren", wie Raúl Castro in seiner Rede sagte, anspielend auf die sowjetlastige Vergangenheit und auf Spekulationen, ob dies nun das chinesische oder das vietnamesische Modell sei. Mit beiden Ländern findet allerdings ein intensiver politischer Austausch statt und zufälligerweise war es in Vietnam ebenfalls der 6. Parteikongress, der die wirtschaftliche Öffnung beschloss, allerdings einiges zahmer als die kubanische Variante, so ein Kenner.

Die Frage kann auch lauten, ob der Staat, wie Ende der Sechzigerjahre in Rahmen der Sozialisierungsoffensive beschlossen, auch noch das letzte verkaufte Butterbrot schmieren muss, oder ob dies nicht Private tun können, die dafür Steuern zahlen, statt, wie heute allzu oft, die Hälfte des Schinkens nach Hause zu nehmen. Offensichtlich ist die Liste solcher in Frage kommender Tätigkeitsbereiche ebenso gross wie die Unzufriedenheit mit den staatlich organisierten Dienstleistungen, den illegalen oder halblegalen privaten AnbieterInnen, die in die staatliche Mankobresche springen und dem dafür existierenden Schwarzmarkt an Materialien.


Lohnfrage entscheidend

Die staatlichen Leitplanken sind klar festgelegt. Die Akkumulation an Reichtum wie Land und Hausbesitz ist weitgehend auf den Eigenbedarf beschränkt. Auf angestellter Arbeitskraft wird eine progressive Steuer erhoben, die ab der/dem zehnten ArbeitnehmerIn drei Minimallöhne ausmacht - also muss da schon einiges an Wert erarbeitet werden, damit sich das auch lohnt. Für Kooperativen - neu sollen sie nicht nur im landwirtschaftlichen Bereich, wo sie den Grossteil des lokal produzierten Essens sichern, möglich sein - gelten andere, vorteilhaftere Bedingungen. In der kubanischen Gesellschaft, in der Werte wie Solidarität, Dienst an der Gemeinschaft und Gerechtigkeit nach wie vor solide verankert sind, haben die Kooperatividee und ihre Ideale gute Chancen, an Stellenwert zu gewinnen und als ideologisches Gegengewicht zu kurzfristigem Gewinnstreben zu figurieren. Ausserdem verfügt das Land über eine gebildete Bevölkerung wie kaum ein Land im Süden, oder wie es ein zentralamerikanischer Experte vor kurzem ausdrückte: "Eine ländliche Gemeinde in Kuba hat mehr Humankapital als jede zentralamerikanische Provinzhauptstadt".

Wie dieser wirtschaftspolitische Umbau ausgeht, ist schwierig vorauszusehen. Bereits jetzt zeigt sich auf den Strassen eine Dynamik, die heutigen Grenzen auszuloten und auszureizen, das heisst, den informellen Handel mit oder ohne Bewilligung zu beginnen. Noch weit davon entfernt, Teil der Kultur zu werden, ist hingegen das mit dem Steuern Zahlen - mit eine Voraussetzung für die angestrebte Umverteilung. Obwohl die kubanische Gesellschaft 20 Jahre internationalen Tourismus erstaunlich gut überstanden hat, sind die ideellen und physischen Widerstandskräfte der zu lokalen Löhnen Arbeitenden langsam ausgereizt. Es braucht dringend Sauerstoff und zwar in erster Linie in Form von Löhnen, welche die Lebenshaltungskosten effektiv decken und wohl erst in zweiter Linie als grössere Räume der Mitbestimmung zum Beispiel am Arbeitsplatz oder im Wohnquartier. Doch dafür, genauso wie für die Rentenanpassung, muss zuerst der entsprechende Wert produziert werden und wie schnell dies geschehen wird und kann, wird ein entscheidender Faktor für den Erfolg dieses Prozesses sein. Der Zeithorizont 2015 ist wohl realistisch, um spürbare Resultate zu erzielen und wird von einer Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden. Aber äussere Umstände wie Wirbelstürme, Dürren, Weltwirtschaftskrise und die Abhängigkeit von Venezuela als Handelspartner sind wunde Punkte in dieser Gleichung. Nun, vielleicht wird die dieses Jahr endlich erwartete Bohrplattform mit spanisch/norwegischer Beteiligung - extra ohne US-Technologie hergestellt - ja auch fündig und die wirtschaftliche Gleichung bereichert sich um die Variable Energieselbstversorgung oder gar Öleinnahmen und dann sieht alles wieder ganz anders aus.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 165, 15. März 2011, S. 18-19
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2011