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CORREOS/112: Venezuela - Hoffnung auf die junge Generation gegen die alten Opportunisten


Correos des las Américas - Nr. 164, 9. Dezember 2010

VENEZUELA
Strafwahl in Anzoátegui
Hoffnung auf Luisa und Carolina gegen die alten Opportunisten.

Von Barbara Rimml


«Und, was meint ihr zu den Wahlen?» Es ist vielleicht drei Uhr morgens, nach einem langen Wahlsonntag und langen Stunden des Wartens im Pressezelt auf die Verkündung des Wahlresultates durch Tibisay Lucena, der Präsidentin des CNE (Consejo Nacional Electoral - Nationaler Wahlrat). Wir sind zurück im Hotel und stillen unseren Hunger. Bisher hatte ich die Angestellten des CNE, die uns betreuten, nicht nach ihrer politischen Einschätzung gefragt. Aber jetzt interessiert mich ihre Meinung. Wir sitzen zu viert am Tisch, eine Frau und zwei Männer um die fünfzig. Der Venezolaner zuckt mit den Schultern. «El resultado de siempre - Das übliche Resultat: 60:40.» «Aber mit einigen Überraschungen», ergänzt die Frau. «Zum Beispiel Anzoátegui.» Das Resultat im Staat Anzoátegui hat alle überrascht. Das oppositionelle Wahlbündnis erzielte einen Erdrutschsieg und gewann alle 6 Parlamentssitze. Der Staat Anzoátegui liegt östlich von Caracas, verfügt mit Puerto La Cruz über einen bedeutenden Industriestandort und war bisher klares Territorium der Regierungspartei. Ich erkundige mich nach den Gründen. «Voto castigo - eine Strafwahl» meinen meine Gesprächspartner einhellig. Ihrer Meinung nach ist Tarek William verantwortlich, der in Anzoátegui regierende Gouverneur des PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela).

Nach der Wahlbegleitung mache ich Ferien und besuche für einige Tage meine venezolanische Freundin Luisa in Puerto Píritu, einer kleinen Stadt an der Karibik, vier Stunden Busfahrt von Caracas weg. Sandstrand, Lagune, sanfte Tropenwaldhügel. Puerto Píritu hätte eigentlich das Zeugs zum Tourismus, aber die Restaurants am Strand wurden geschlossen. Der Bürgermeister wollte es so. «Voto castigo», das meinen auch die Leute hier in Anzoátegui. Aber wegen der «Alcaldes», der Bürgermeister des PSUV. Der Bürgermeister in Puerto Píritu zum Beispiel, der sich selbst in Anlehnung an den Gouverneur Tarek den Beinamen «el poeta - der Dichter» gegeben hat, schuldet einigen Gemeindeangestellten schon neun Monatslöhne! Das erzählen mir alle Leute in Puerto Píritu. Das berichtet auch das Radio, als die Angestellten eine Protestaktion durchführen. Der Bürgermeister selbst kommt auch zu Wort und redet von alten Schulden, die sie noch begleichen müssten, und von Leuten, die auf der Lohnliste aufgeführt seien, ohne für die Gemeinde zu arbeiten. Die Leute vor Ort erzählen andere Geschichten. Von Bekannten des Bürgermeisters, die auf einmal Geld für schöne Villen haben. «Und dann kommt er und bestellt eine Arepa mit doppeltem Käse», ereifert sich Pedro, und äfft jedes Wort des Bürgermeisters mit abgrundtiefer Verachtung nach, «Con doble queso. Und weisst du, was er mir gesagt hat? Ich lebe von der Müllabfuhr. Weisst du, was er mir gesagt hat? Ich würde Geld erhalten, wenn Ramón den Zorro fängt.» Da ich die Geschichte von Zorro nicht kenne, erklärt er mir den Zusammenhang. «Also nie. Er ist ein Dieb. Er ist ein Dieb wie die anderen auch. Früher habe ich für Chávez gestimmt. Ich habe daran geglaubt, dass es anders wird. Aber jetzt habe ich die Opposition gewählt. Die sind alle gleich. Wenn es hier die Lagune nicht gäbe, wo die Leute wenigstens fischen können, dann wäre es hier gefährlich. Dann wären wir hier am Strand schon lange ausgeraubt worden.» Pedro klingt bitter und wütend. Auch in Carolinas Stimme schwingt Bitterkeit mit. Sie arbeitet für die Gemeinde, hat zwei kleine Kinder und wartet schon seit drei Monaten auf ihren Lohn. Trotzdem engagiert sie sich weiter für die PSUV-Jugend. Sie unterscheidet zwischen den Idealen, den Ideen des «revolutionären Prozesses» in Venezuela und den korrupten Politikern, die denselben Prozess gefährden. Da der Alcalde aber auch der Präsident der lokalen PSUV-Sektion ist, macht er solchen jungen Idealistinnen das Leben schwer. «Sie sagen, wir hätten nicht genug Kampagne gemacht, deshalb hätten wir die Wahlen verloren.» Sie lacht bitter. Trotzdem will sie nicht aufgeben und weiter kämpfen. Auch gegen solche Leute in der Partei. «Aber es ist ermüdend. Sehr.»

Der Alcalde von Puerto Píritu ist kein Einzelfall. Geschichten von Opportunisten, die wichtige Positionen besetzen und diese für sich selbst nutzen, höre ich einige. Das Problem sei, dass diese korrupten Opportunisten, die dem revolutionären Prozess so sehr schaden, sehr gut verankert und an der Macht seien. «Aber wir müssen Wege finden, wie wir von unten her die Dinge verändern können», meint Luisa. «Die Alcaldías müssen durch die Consejos Comunales ersetzt werden.» Die Brise weht vom Meer herauf und erfrischt in dieser warmen Tropennacht. Ich liege in der Hängematte, wir trinken kühles Bier und philosophieren über die Revolution. Trotz Widersprüchen und Hindernissen ist Luisa, wie die vielen anderen Anhängerinnen und Anhänger der bolivarischen Revolution, auch weiter bereit, dafür zu kämpfen und einzustehen. Es bleibt zu hoffen, dass diese neue, junge Generation von Luisas und Carolinas die Opportunisten ersetzen, die jetzt an der Macht sind. Und dass sie dann den Verlockungen von Korruption und Eigennutz widerstehen!


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 164, 9. Dezember 2010, S. 6
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2011