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CORREOS/090: Offene Worte aus Venezuela


Correos des las Américas - Nr. 160, 21. Dezember 2009

Offene Worte aus Venezuela

Von Vladimir Villegas


General a.D. Alfredo Müller Rojas war ein führender Militär und wurde 2008 von Hugo Chávez zum Vizepräsidenten der neuen Vereinten Sozialistischen Partei von Venezuela, PSUV, ernannt. Ein Militär der eigenen Art, der am Fernsehen auch mal gerne über marxistische Ästhetik-Theorien redet. Der Interviewer war früher Direktor des Staatsfernsehen VTV und Botschafter in Mexiko.


General Alfredo Müller Rojas versichert, der Sozialismus des XXI Jahrhunderts stelle eine Berichtigung des sozialistischen Vorschlages dar, der nicht beabsichtige, die Vorlage der ehemaligen Sowjetunion zu kopieren. Für ihn verzerrte sich jenes Modell unter anderem, weil man einen Staatskapitalismus aufbaute: «Die Idee der Sowjets blieb Erinnerung. Es entstand eine staatliche Bürokratie, die jener in jedem kapitalistischen Land entsprach und die sich total von den Massen abkoppelte».

FRAGE: Und passiert nicht das Gleiche hier?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Nein. Hier werden keine staatskapitalistischen Unternehmen aufgebaut. Was entsteht, sind kommunale, auch private Unternehmen. Und sie werden die Steuern zahlen müssen, die der Staat verlangt.

FRAGE: Braucht es für den Sozialismus des XXI Jahrhunderts eine neue Bourgeoisie in Venezuela?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Es braucht keine Bourgeoisie. Und das Wachstum der Bourgeoisie wird auch nicht stimuliert. Klar, zu einem gegebenen Zeitpunkt erscheint nicht die Bourgeoisie, sondern irgendein Bürokrat. Hier nennt man eine Mittelklasse Bourgeoisie, die weder mittel noch gross ist, wie Benedetti mal sagte. Es sind Leute, die bis gestern in einem Rancho lebten und die man in die private und die staatliche Bürokratie versetzte, was auf das gleiche herauskommt. Die eine braucht die andere. Das ist nicht die Bourgeoisie ... die Bourgeoisie ist Cisneros [venezolanischer transnationaler Kapitalist].

FRAGE: Aber man spricht von einer Boliburguesía (bolivarische Bourgeoisie), die Banken kauft, Versicherungen, im Ölgeschäft ist .... Existiert sie?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ja. Sie existiert und stellt eine Schwäche des Prozesses dar. Es geht nicht darum, dass sie nicht tun sollen, was sie tun. Das Problem ist, dass man sie gleich wie die alte Bourgeoisie behandeln sollte. Doch sie geniessen Privilegien.

FRAGE: Einer der Gründe für die Scheidung zwischen Führung und Basis sind die AnführerInnen mit mehreren Regierungsämtern.

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Nun, es fehlt uns an Leuten ... Das ist die Tragödie. Die einzige Partei, die einige politisch geschulte Kader hatte, war Causa R und danach der PPT. Die andern nicht. Der PCV ist seit der Epoche von Medina eine bürokratisierte Partei. Ihr Ziel war, die Gewerkschaftsbürokratie zu dominieren. Um nicht vom MAS zu reden. [Causa R spaltete sich in den 70er Jahren vom PCV, der venezolanischen KP ab; von ihr trennte sich in den 90er Jahren der Partido Patria para Todos, um die Kandidatur Chávez' zu unterstützen. Causa R und MAS sind heute bedeutungslose Teile der Rechten].

FRAGE: Sie sagen, es fehlt an Leuten, aber der Präsident wollte beispielsweise keine Leute vom PPT als Gouverneure...

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ja, aber was vom PPT bleibt, ist ein wenig bürokratisch. Sie streben nach Posten. Ich habe ihnen das ins Gesicht gesagt. Wir PPT-Kader, die in den PSUV gingen, führen die Diskussion dort drin. Dort gibt es eine Debatte ...

FRAGE: Und der Präsident hört auf euch?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Der Präsident erhält ein Dokument mit den Sitzungsbeschlüssen und er übernimmt sie.

FRAGE: Man hat den Eindruck, dass der Präsident wenig Kritik verträgt.

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Niemand ist Kritik gegenüber absolut gleichgültig. Niemand hat es gerne, kritisiert zu werden. Du hast gesehen, dass ich ihn öffentlich kritisiert habe und er wurde sauer. Etwa, als ich ihm gesagt habe, dass er in einem Nest voller Skorpione sitze.

FRAGE: Und sitzt er weiter in diesem Nest?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Er sitzt weiter in diesem Nest.

FRAGE: Hat es heute weniger Skorpione als früher?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ungefähr gleich viel. Und einige sind die gleichen wie früher. Als der Fall Baduel aktuell war, vor dem ich ihn gewarnt habe, rief er in einem Liveprogramm von Vanessa Davies an, die mich interviewte, um sich mit mir zu versöhnen und die Kritik zu akzeptieren. [Baduel: Verteidigungsminister, bis er 2007 offen zu den Rechten überlief].

FRAGE: Es gibt viel Kritik an der Regierung und man bekommt keine Debatte im PSUV mit, um die Regierungsführung zu hinterfragen.

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Doch, die gibt es seit mehr als einem Jahr, und sie wird sehr hart geführt, bezüglich einiger Regierungsgeschäfte, deren Verantwortliche jetzt einen Prozess haben. Einige Personen haben unheilvoll gehandelt und die Glaubwürdigkeit des Präsidenten selbst in Mitleidenschaft gezogen.

FRAGE: Gibt es immer noch Personen mit einer unheilvollen Amtsführung?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ich glaube schon. Ich habe mich in verschiedenen Szenen bewegt und überall die gleiche Kritik gehört, so dass sie stimmen muss. Auch der Präsident hat zum Ausdruck gebracht, dass diese Funktionäre keine Initiative zeigen und die ganze Verantwortung an ihm hängen bleibt. So wird sein Status als grosser Mann abgenutzt. Denn die Leute fragen, wer sie ernennt.

FRAGE: Wenn er all dies weiss, warum verändert er nichts?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ich stelle mir diese Frage. Aber es gibt strategische und taktische Aspekte, die mit der Erhaltung gewisser Gleichgewichte zusammenhängen, die man nicht einfach missachten kann und die dazu zwingen, gewisse Entscheide mit gewissen Personen in einem gegebenen Moment zu fällen.

FRAGE: Chávez hinterfragte den Gouverneur von Lara, Henry Falcón, aber man hört keine kritischen Fragen an Funktionäre, die vielleicht eine grössere Verantwortung tragen. Zum Beispiel im Wohnungsbereich.

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Aber es ist vom strategischen und taktischen Gesichtspunkt aus nicht das Gleiche ... der Gouverneur von Lara und wer sich um Wohnungen kümmert. Damit antworte ich dir... [Falcón: «chavistischer», machthungriger Politiker. Wird von den Rechten als Präsidentschaftskandidat gegen Chávez gehandelt].

FRAGE: Fidel Castro sagte, er sehe die Möglichkeit, dass in Lateinamerika rechte Regierungen zurückkehren. Man denkt an Venezuela.

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Möglich. Das geschah in Argentinien mit dem Peronismus, der einen Menem hervorbrachte. Oder der weniger lang zurückliegende Fall der sandinistischen Revolution. Daniel Ortega beging eine Reihe von Fehlern, verlor die Macht und es kam Violeta Chamorro. Das Einzige, was es Ortega erlaubte, wieder an die Macht zu gelangen, war, dass die Streitkräfte sandinistisch waren. Sonst wären sie der nicaraguanischen Linken gekommen, wie sie es bei uns mit Carmona Estanga versucht haben [Putschist von 2002].

FRAGE: Sind die venezolanischen Streitkräfte so bolivarisch wie die nicaraguanischen sandinistisch?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Nein. Und das ist bekannt. Es handelt sich um eine Bürokratie, die sich nach den Gesetzen der Bürokratie richtet.

FRAGE: Also, für viele dort ist: «Patria, socialismo o muerto» ein Lippenbekenntnis?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ein Lippenbekenntnis.

FRAGE: Und diese Situation kann umgedreht werden?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Sie wurde am 11. April umgedreht [11.4.02: Putschversuch].

FRAGE: Ist der Anführer ersetzbar? Die Umfragen sagen, dass heute eine Mehrheit keine Wiederwahl haben will.

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Dieser Entscheid steht dem Leader zu. Wie den guten Toreros. Man muss wissen, wann man den Abgang zu machen hat.

FRAGE: Fidel Castro hatte mit Raúl seinen Nachfolger. Gibt es hier einen Raúl?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Es gibt mehr als einen, wirkliche Revolutionäre, aber sie sind sehr respektvoll und verstehen die Rolle, die Chávez gespielt hat. Zum jetzigen Zeitpunkt ist er unersetzlich.

FRAGE: Wer soll für den PSUV für das Parlament kandidieren?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Das Profil der Kandidaten wird der Parteikongress bestimmen. Das Schlimmste, was man machen kann, ist, den Wunsch der Basis zu missachten. Ich habe davor gewarnt, denn es gab Strömungen in der Partei, die das per Fingerzeig von oben, von der Leitung oder vom Präsidenten her, erledigen wollten. Wenn wir aufgrund der Regierungsführung eine gewisse Unterstützung in unserer eigenen Basis verloren haben, werden wir damit mehr verlieren, falls wir das so handhaben.

FRAGE: Bleibt Chávez noch eine Weile?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: So weit absehbar, ja. Auch wenn vieles von den Parlamentswahlen abhängen wird. Es handelt sich um eine entscheidende Konjunktur für den Prozess. Worum es geht, ist dass die eigenen Mitglieder das verstehen. Ich sehe nicht, dass man den Wahlen die Beutung beimisst, die ihnen zukommt. Wir verfolgen weiter eine falsche Kommunikation, eine defensive, und lassen Chávez gegen Personen wie den Matacuras (Priestermörder, Leopoldo Castillo) oder Carla Angola antreten... [Beide vom Ultrafernsehkanal Globovisión. Castillo war in den frühen 80er Jahren venezolanischer Botschafter in El Salvador und dort anscheinend mit der Ausspionierung von mit der Guerilla sympathisierenden Nonnen und Priester bertraut].

FRAGE: Chávez hat dazu aufgerufen, mit den Verbündeten zu reden...

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Ich bin nicht dagegen, aber es ist beispielsweise richtig daran zu erinnern, dass Lina Ron half, den PSUV aufzubauen und danach weg ging. Ihr sind die Sicherungen durchgebrannt. [Bekannte frühere Chavistin, die im August 09 mit einem bewaffneten Angriff auf Globovisión der Rechten ein gefundenes Propagandafressen lieferte].

FRAGE: Der PSUV wird seinen Verbündeten keine Räume zugestehen?

ALFREDO MÜLLER ROJAS: Es geht nicht darum, dass wir sie nicht zugestehen, sondern darum, dass sie keine haben. Wie viele Stimmen machen der PPT oder Lina Ron? Nicht einmal 0.5%. Wen ziehen sie an? Wenn sie denken, dass sie die Bürokratie auf Kosten des PSUV bekommen, scheint mir, dass wir dumm wären. Das ist meine Position, ich kenne die des Präsidenten nicht.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 160, 21. Dezember 2009, S. 18-19
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2010