Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

CORREOS/054: Nicaragua - Soziale Errungenschaften, sandinistische Wahlerfolge


Correos des las Américas - Nr. 156, 22. Dezember 2008

NICARAGUA
Soziale Errungenschaften - sandinistische Wahlerfolge

Sieg der Sandinistas? Sind die Rechten schlechte Verlierer? Massiver Wahlbetrug? Im Anschluss an die Gemeindewahlen vom 9. November 2008 spitzte sich das gespannte Klima immer mehr zu und artete hier und da in Gewaltakte aus. Eine Kampagne der Destabilisierung nimmt ihren Gang.

Von Sergio Ferrari und Gérald Fioretta


In diesem Klima ist es nicht einfach, den Wahlsieg der Sandinistischen Befreiungsfront FSLN bei den Kommunalwahlen zu bilanzieren. Dies aus drei Gründen. Erstens, weil die Opposition die Ergebnisse nicht akzeptiert und lautstark "Wahlbetrug" reklamiert. Zweitens, weil der 'Pakt' zwischen dem amtierenden Präsidenten Daniel Ortega und dem Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán seit einiger Zeit Zweifel an einer unabhängigen Regierungsführung sät. Drittes Problem: Die Fehler im politischen Umgang mit der Opposition und den sandinistischen Dissidenten, was die komplexe Situation des Landes noch unterstreicht.


Klarer Wahlsieg

Laut offiziellen Angaben vom 20. November 2008 obsiegte der FSLN in der Mehrheit der 146 Gemeinden, die sich an den Wahlen beteiligten. In 7 Gemeinden der Nordatlantikregion waren die Wahlen auf Januar verschoben worden - nachdem die Region letzten September vom Hurrikan Felix verwüstet wurden. Das Schlussergebnis spricht dem FSLN 105 Kommunen zu (18 mehr als 2004), 37 gewinnt der liberal-konstitutionalistische PLC und 4 die ALN (Allianz des Dissidenten der rechtsorientierten PLC).

Nach fast zweijähriger Amtszeit musste die regierende FSLN keine "Strafstimmen" einstecken, wie dies bei Wahlen oft vorkommt. Das Wohlwollen gegenüber der Regierungspartei stieg sogar merklich auf dem Land, auch in jenen Bezirken, in denen die Opposition die Wahlen erneut gewonnen hat. Der rechtsorientierte PLC muss sich mit den drei Bezirkshauptorten Granada, Boaco und Bluefields zufrieden geben und dem FSLN die restlichen 14 überlassen, inklusive der Landeshauptstadt.


Managua: die umstrittenen "Trophäe"

Im umkämpften Hauptstadtbezirk weigert sich die Opposition, ihre Niederlage zu akzeptieren und klagt seit dem Wahltag vom 9. November über angeblichen Wahlbetrug.

Der PLC schickte Eduardo Montealegre in den Wahlkampf. Der mit Diplomen nordamerikanischer Universitäten geschmückte Bankier konnte auf die Unterstützung der Wirtschaftselite Nicaraguas und das Wohlwollen der USA zählen. Als Gegenkandidat traf er auf Alexis Argüello, der sich als dreimaliger Boxweltmeister sicherer im Ring bewegt als auf der Finanzbühne - und dafür vom Volk verehrt und geliebt wird. Ein sinnbildlicher Klassenkampf an der Urne.

Laut offiziellen Resultaten erzielte Alexis Argüello 51% der abgegeben Stimmen, während Eduardo Montealegre auf 46% kam. Diesem klaren Sieg aber tritt Montealegre als "Opfer" und harter Kämpfer entgegen. Dies in einem verzweifelten Versuch, innerhalb der Rechten die politische Führerschaft zu erringen, die bisher von Arnoldo Alemán geprägt war.

Auch nach der erneuten Stimmenauszählung durch die oberste Wahlbehörde weigert sich Montealegre, die bestätigte Niederlage anzuerkennen, was bei den FSLN-Wählern für Frustration sorgt und einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Dies aus gutem Grund: Als die Sandinisten 1990 nach 11-jähriger Revolution die Wahlen verloren, räumte Daniel Ortega seine Niederlage an der Urne unmittelbar und mit Würde ein. Und 1996 akzeptierte der Sandinismus ein weiteres Wahl eine Wahlniederlage, obwohl die Wahl Alémans von Unregelmässigkeiten geprägt war.


Politische Polarisierung - alle tragen Verantwortung

Der Wahlausgang nährt die Destabilisierungskampagne gegen die aktuelle Regierung. Daran sind verschiedene Akteure beteiligt: Die rechtsgerichtete Opposition, ein Grossteil der Bewegung für einen erneuerten Sandinismus (MRS), die Botschafter der USA und einiger Länder der EU, die einflussreichen nationalen und internationalen Medien und gewisse NGOs, die in den vergangenen Wochen von Ortega bezichtigt wurden, «Instrumente der Opposition und des Imperialismus» zu sein.

Angesichts dieser Kampagne bläst die nicaraguanische Regierung, unterstützt von den Mitgliedländern der ALBA (Bolivarianische Alternative der Amerikas), zum Gegenangriff. Eine formelle Protestnote richtet sich gegen den Generalsekretär der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), José Insulza. Ihm wird vorgeworfen, mit seiner Kritik am Wahlprozedere Öl ins Feuer gegossen zu haben.

Die politische Polarisierung hat in den letzten Monaten ein beunruhigendes Ausmass angenommen - dies in einem Land, in dem die Schrecken vergangener kriegerischer Ereignisse immer noch gegenwärtig sind.

Die "First Lady" Rosario Murillo, Koordinatorin der Volksräte und Sprecherin der Regierung, hat der lokalen Frauenbewegung den Kampf angesagt. Diese gut organisierte, starke Bewegung setzt sich unter anderem für die Wiedereinführung und Straffreiheit des therapeutischen Schwangerschaftsabbruchs ein, der vor einem Jahr vom Parlament für illegal erklärt wurde. Murillo widersetzt sich diesen legitimen Forderungen, indem sie die "Kultur der einfachen Frauen" verteidigt, die sich - laut Murillo - gegen jede Art von Abtreibung stellen. Sie stützt so die Parolen der erzkonservativen römisch-katholischen Hierarchie.

Die sogenannt "politisch engagierten" NGOs (zu denen auch die Frauengruppen gehören) - sie werden von der europäischen Entwicklungszusammenarbeit und nordamerikanischen Agenturen finanziert - haben vor einiger Zeit der von ihnen als 'autoritär' betitelten Regierung den Kampf angesagt. Sie unterstützen Kampagnen, die sich für die Aufhebung des Abtreibungsverbots einsetzen.

Der sandinistische Führungszirkel bezahlt damit den Preis für ihre vertikale Vision der Militanz und der Radikalität im Umgang mit sandinistischen Dissidenten. Eine engstirnige Dynamik, die rasch in Ächtung oder Beleidigung umschlägt und Feindbilder produziert.

Auf beiden Seiten des politischen Spektrums ist eine gefährliche Sturheit auszumachen, die das Land noch stärker in die Polarisierung treibt. Die Attacken gegen die "Regierung des Wiederaufbau und der nationalen Einheit" sind wenig hilfreich für eine Führung, die nach 16 Jahren neoliberaler Politik ein verelendetes Land voranbringen soll.

In diesem Kontext suchten Regierungsfunktionäre nach juristischen Vorwänden, um Druck auf unbequeme NGOs auszuüben und der Konservativen Partei und dem MRS die Teilnahme an den Wahlen zu untersagen. Die dissidenten Sandinistas des MRS schlossen sich in der Folge der Wahlkampagne "Alle gegen Ortega" an. Damit riefen sie quasi zur Wahl der Rechten auf, indem sie mit dem bürgerlichen Kandidaten Montealegre eine Allianz bildeten. Eine für die FSLN schwierige Position, die nur schwer verdaulich ist.

In diesem vergifteten Klima findet die Regierung Argumente, um die angebliche imperialistische Einmischung - nicht nur durch die Opposition, sondern auch durch NGOs und die selbsternannten Leader der Zivilgesellschaft - an den Pranger zu stellen.

Die Mehrheit der WählerInnen scheint aber diese auf Strukturen zielende Debatte kaum zu beschäftigen. Die Wahlresultate zeigen, dass ihnen die von der Regierung angestossenen Programme zur Lösung der sozialen Probleme und der Energiekrise wichtiger sind als die die politische Polarisierung, die sich vor allem auf die Eliten Managuas konzentriert.


Erfolge des Sandinismus

Nachdem der Krieg der 1980er Jahre bereits tiefe Spuren in der Volkswirtschaft hinterlassen haben, sind die Auswirkungen des Sozialabbaus der nachfolgenden, neoliberalen Regierungen (1990-2006) nicht weniger dramatisch.

Über ihr Regierungsprogramm versucht nun die sandinistische Verwaltung, einen Grossteil des Budgets zugunsten sozial schwacher Gruppen einzusetzen und begleitet diese Strategie mit politischen Entscheiden wie z.B. der Halbierung der "Mega-Löhne", werlche sich die vorherigen Regierungen ausbezahlt hatten. Die obere Grenze liegt neu bei monatlich 3000 US-Dollar für die Exekutive. Die Verstaatlichung - oder anders ausgedrückt: "Ent-Privatisierung" - des Bildungs- und Gesundheitswesens gilt als wichtigstes Zeichen dieser neuen Etappe. Mit dem von Kuba und Venezuela unterstützen Programm "Ja, ich schaffe es" (Yo si Puedo) konnte die Analphabetismus-Rate, die 2006 noch bei 23% lag, bis Mitte 2008 auf 13% gesenkt werden. Das sandinistische Ziel ist es, die Quote bis Juli 2009 auf 0% zu senken.

Das erneut öffentliche - und kostenlose - Gesundheitswesen hat überraschende Konsequenzen. Laut offizieller Angaben verzeichnete die von Kuba geleitete 'Operación Milagro' (Kampagne zur Wiedererlangung des Augenlichtes) in 18 Monaten 25.000 durchgeführte Operationen zur Heilung des grauen Stars. Im gleichen Zeitraum verdoppelten sich die ärztlichen Untersuchungen und die chirurgischen Eingriffe nahmen um 37% zu. Die Kindersterblichkeit sank in den letzten Monaten von 90 auf 79 (bei 100.000 lebend geborenen Kindern).

Mit dem Programm 'Hambre Cero' (Null Hunger) hat sich in den vergangenen 18 Monaten die Nahrungssicherheit und die Lebensqualität von 32.000 Bauernfamilien verbessert. 2009 sollen 15.000 weitere Familien in den Genuss eines sogenannten 'Produktionspaketes' kommen. Jedes 'Paket' entspricht dem Wert von 1500 US-Dollar und enthält eine Kuh, Schweine, Geflügel, Saatgut und landwirtschaftliches Werkzeug. Die begünstigten Familien verpflichten sich, im Laufe eines Jahres 25% des Paket-Wertes - in Naturalien - zurückzuerstatten, damit weitere Familien in den Genuss des Programmes kommen können.

Bereits heute kann eine bedeutende wirtschaftliche Erholung festgestellt werden. Seit der FSLN das Land regiert, stieg das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf von 950 auf 1023 US Dollar. Nachdem die Regierung die Kreditvergabe an Landwirte verdreifachte, steigerte sich auch der Nahrungsmittelexport beträchtlich. Mit der Unterstützung Venezuelas und der ALBA versucht die Regierung, die dramatische Energiekrise unter Kontrolle zu bringen, welche das Land während Monaten lähmte - mit bis zu 12-stündigen Stromunterbrüchen pro Tag. Die Situation hat sich inzwischen enorm verbessert. Die Gründung eines venezolanisch-nicaraguanischen Unternehmens soll für die Zukunft Rohöllieferungen zu festgelegten Preisen garantieren.

So fällt der Vorhang über einem Wahltheater in einem Land, in dem Polarisierung, Konfrontation und Streit "aus dem Bauch heraus" seit ewigen Zeiten Teil der politischen Szenerie ist. Einem Land, in dem die Leute auf der Strasse aber über einen "guten Riecher" für realistische und praktische Vorschläge haben. So sprachen sich die Wähler 1990 für das Ende des Krieges aus. Und 2006 wünschte die Mehrheit erneut eine Regierung, die sich dem Volk verpflichtet fühlt. So gesehen ist das Resultat der Gemeindewahlen 2008 auch eine Anerkennung der sichtbaren Anstrengungen, welche die aktuelle Regierung mit ihrer Politik zu Gunsten ausgegrenzter Bevölkerungsschichten eingeleitet hat.


Übersetzung: Veronika Pfranger


*


Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 156, 22. Dezember 2008, S. 9-10
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Röntgenstrasse 4, 8005 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch

Correos erscheint viermal jährlich.
Abonnement: 45,-- CHF


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2009