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CORREOS/053: Stürmische Zeiten in Kuba


Correos des las Américas - Nr. 156, 22. Dezember 2008

Stürmische Zeiten in Kuba

Schon fast apokalyptische Wirbelstürme und Tiefschläge aus der globalen Wirtschaft bedrängen die Menschen auf der Insel. Viele Probleme bleiben ungelöst - und dennoch zeigt Kuba, dass statt Profitschlagen aus der Not Solidarität möglich ist.

Von Franco Weis


Bis Ende Juli herrschte in Kuba ein gewisser Optimismus vor. Die Wirtschaftsleistung stieg wie erwartet, die internationalen Beziehungen waren weiter gefächert denn je zuvor und die Leute hofften, dass die dringendsten Probleme in absehbarer Zeit weniger werden würden. Dann wurde der Ferienmonat August jäh beendet - Hurrikanalarm. Gustav, so hiess er, schlug schliesslich im Westen von La Habana zu und durchquerte das Land von Süden nach Norden mit Winden von bis zu 340 km/h (da stieg das Messgerät aus) und hinterliess ein Bild der Zerstörung in der Isla de la Juventud und in Pinar del Río. Zehntausende Dächer waren "abgedeckt", tausende von Häusern zerstört oder schwer beschädigt, Strom- und Telefonleitungen am Boden, aber - dem kubanischen Zivilschutzsystem sei dank - alle wohlauf. Die Hügelzüge sahen aus wie abgebrannt, kein Blatt war den Bäumen verblieben, die nicht entwurzelt wurden. Die besten Tabakfelder des Landes waren schwer geschädigt, rund 4000 Trocknungshäuser am Boden.

Aber die Leute waren optimistisch. Sofort wurde Hilfe organisiert, hunderte FacharbeiterInnen unterstützten die Wiederherstellung von Strom und Telefon, das Militär half die Strassen zu räumen, eine Kulturbrigade legte den Tag durch mit den Leuten Hand an und erfüllte die Nacht mit Musik, Lastwagenkarawanen mit neuen Dachblechen rollten in die betroffenen Gebiete und luden ihre wertvolle Ware direkt bei den betroffenen Häusern ab. Diese "Ärmel hoch und das schaffen wir schon"-Mentalität erhielt nur zwei Wochen danach einen herben Dämpfer. Der Hurrikan Ike verwüstete ein Gebiet, dass seit 50 Jahren keinen Wirbelsturm mehr erlebt hatte. Die ganze Insel lang wütete Ike zuerst mit starken Winden und dann vor allem auch mit viel Regen und durchquerte schliesslich erneut Pinar del Río.

Nun waren lange Gesichter zu sehen. Allen war klar, dass dies die Möglichkeiten des Landes bei Weitem übersteigt. Rund eine halbe Million Häuser beschädigt oder zerstört, ein Grossteil der Landwirtschaft am Boden, Strom- und Telefonnetz schwer geschädigt, Tausende von Schulen und Gesundheitseinrichtungen ohne Dach, etc. Um das Mass voll zu machen, näherte sich schliesslich Paloma mit sehr starken Winden Ende Oktober vom Süden und zerstörte den Ort Santa Cruz del Sur weitgehend. Beinahe auf den Tag vor 76 Jahren waren in demselben Ort 3000 Menschen bei einem Hurrikan gestorben, jetzt waren die Schäden materieller Art, denn das ganze Dorf inklusive Hunde, Schweine, Fernseher und Kühlschränke war evakuiert worden.

Das kubanische Katastrophenschutzsystem gehört mit zu den Besten der Welt. 3.5 Millionen Menschen wurden evakuiert, die Mehrheit zu Nachbarn und Familienangehörigen. Migdalia, eine stämmige Bäuerin in Banes, Holguin - genau da, wo Ike auf Festland traf - hatte 64 Leute in ihrem Haus. "Nur die Kinder konnten liegend schlafen, aber alle erhielten was zu essen", erzählt sie lachend, während sie uns eine steinharte grüne Banane zeigt, die sie als Souvenir aufbewahrt, "denn Bananen werden wir in den kommenden Monaten keine zu sehen kriegen". Sieben Todesopfer waren zu beklagen, sechs wegen Unvorsichtigkeit oder Nichtbefolgung von angeordneten Massnahmen. Das Gesundheitssystem funktionierte immerzu und es wurden keine schwerwiegenden Gesundheitsprobleme gemeldet. Aber die Behörden sind nicht ganz zufrieden. "Wir haben den Schutz der Bevölkerung gewährleistet, nun müssen wir unsere materielle Verwundbarkeit vermindern", erklärt ein Beamter und weist gleichzeitig auf die enormen Kosten hin, die es bedeutet, Häuser mit Betondächern zu erstellen.


Miese USA, lumpige Schweiz und solidarisches Ausland

Inzwischen werden die Schäden auf rund 10 Milliarden Dollar beziffert, eine gewaltige Zahl für dieses Land, die rund 20 Prozent des jährlichen Bruttosozialproduktes ausmacht. Jedwelche internationale Hilfe ist dabei nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Das Angebot der US-Regierung über 5 Millionen war an die für Kuba unannehmbare Bedingung geknüpft, selber eine Schadenserhebung durchführen zu können. Dies war auch nicht nötig, denn die Vereinten Nationen und im Land tätige NGOs konnten die Gebiete besuchen und die detaillierten Informationen der Regierung bestätigen. Dafür erhielt Kuba einen Teil seiner internationalen Solidarität zurück. Länder wie Osttimor, Namibia, Tansania, die Dominikanische Republik und Honduras schickten ebenso Hilfe wie Kolumbien, Trinidad y Tobago, Mexiko, Brasilien, Argentinien, Chile, Russland und China. Spanien legte eine Sonderhilfe über 24.5 Millionen Euros auf, die UNO schnürte ein Paket von 30 Millionen USD und die Beziehungen zur EU wurden nach der Aufhebung der diplomatischen Sanktionen gegen Kuba normalisiert. Für 2009 ist eine Hilfe von 25-30 Mio. Euros geplant. Unbekannt das Ausmass der Hilfe aus Venezuela. Gesammelt wurde dort im ganzen Land und die Regierung hat nach einer Sondermission Hilfsmassnahmen beschlossen, die Fidel Castro in einem Artikel als ausserordentlich grosszügig bezeichnete. Andere Länder mit Entwicklungshilfeprogrammen in Kuba wie Kanada, Belgien und die Schweiz hielten sich diskret zurück.

Rund drei Monate nach den Hurrikans ist einerseits bereits sehr viel geleistet worden und fehlt andrerseits noch beängstigend viel. Das Stromnetz wurde provisorisch wieder instand gestellt und teilweise gar verbessert, auch alle Telefonleitungen funktionieren wieder. Die Strassen sind gesäubert und Unmengen von Schutt wurden entsorgt. Wurzelstöcke erinnern an ehemalige Bäume, Zementböden an ehemalige Häuser. Das Schuljahr wurde begonnen - an Hunderten von Orten stellt die Bevölkerung ihre Wohnzimmer als provisorische Klassenräume zur Verfügung. Neue Blechdächer glänzen in der Sonne.


In Los Palacios "wird niemand vergessen"

Allerorts ist das Geräusch von Hämmern und Sägen zu hören. Aus Überresten erstellen die Leute provisorische Behausungen. Die Leute wissen, dass sie Geduld haben müssen und "dass niemand vergessen wird", wie Raúl Castro sagte.

Keine 48 Stunden, nachdem Gustav den Dorfkern von Los Palacios durchquert und praktisch dem Erdboden gleichgemacht hatte, erreichte eine erste Lastwagenkarawane mit Dachblechen den Ort. "Ich traute meinen Augen kaum und hatte grad mal drei Stunden geschlafen", berichtet der Verantwortliche der örtlichen Behörden. Zuerst wurden Kranke, alte Leute und kinderreiche Familien begünstigt. In jedem Häuserblock wurde eine Kommission gewählt, um die Schäden zu erheben und eine Prioritätenliste zu erstellen, die wiederum in einer öffentlichen Versammlung zur Diskussion und Abstimmung vorgelegt wurde. "Ich als Bürgermeister habe damit nichts zu tun, das regeln die Leute lokal, ich bin die Nummer 37 in meinem Block", erklärt Iván Torres, aus Los Palacios. "Wir, die öffentliche Ämter bekleiden, haben keine Privilegien; das Haus des Parteisekretärs der Gemeinde ist nach wie vor nicht regentauglich". An einem anderen Ort wurde berichtet, dass sich ein Kader 10 Dachbleche zugeteilt hatte, die ihm dringend fehlten, aber er war nicht an der Reihe und wurde sofort all seiner Ämter enthoben.

Drastisch wurde auch gegen Wucherer vorgegangen. Leute, die zum Beispiel Brote zum dreifachen Preis verkaufen wollten, wurden verhaftet und Verkaufsstände für Gemüse und Früchte mit verfielfachten Preisen geschlossen. Öffnen durften sie nur unter der Auflage, nicht teurer als vor dem Sturm zu verkaufen. So wurde Grünzeugs auf dem freien Markt denn zur Mangelware, da ein Grossteil der Ernte zerstört war. Dafür aber erzählt dann ein Kind, dass es am Mittagstisch in der Schule bis zu 4 Gemüsesorten gäbe - gerade weil die soziale Notwendigkeit und nicht die Kaufkraft bestimmend ist.

Die von der Regierung gestellten Materialien müssen von den Leuten bezahlt werden, wobei eine Kommission über Sozialfälle entscheidet und Preisnachlässe bis zu 100 Prozent gewährt - die Notlage und nicht die Kaufkraft ist entscheidend. Schenkungen aus dem Ausland werden prinzipiell kostenlos abgegeben. Angestellte werden von ihrem Arbeitsplatz bei vollem Lohn freigestellt, um ihre Häuser instand zu stellen, wobei die Anzahl Tage nach dem Schadensausmass berechnet wird und mehrere Monate betragen kann. In den Schadensgebieten erhalten die Leute eine doppelte Ration der subventionierten Grundnahrungsmittel und können damit ihren Bedarf praktisch komplett decken. Lokale Betriebe stellen vorgefertigtes Essen her, das billig abgegeben wird.

Nach drei Monate sieht die Lage in Los Palacios nach wie vor dramatisch aus. 18 Prozent der beschädigten Häuser sind instand gestellt und rund die Hälfte der Bevölkerung wohnt in Behelfsunterkünften, die sie auf ihrem eigenen Wohngrund erstellt haben. In den anderen stark betroffenen Gemeinde sieht es ähnlich aus. 2009 sollen, wenn alles nach Plan geht, alle Dächer geflickt sein und bis 2011 die beschädigten und zerstörten Häuser wieder aufgebaut sein. Falls denn kein neuer Hurrikan kommt ...


Die "wirtschaftlichen Wirbelstürme"

Aber nicht nur diese schlimmste Hurrikansaison in der Geschichte des Landes (der Klimawandel lässt grüssen) macht dem Land zu schaffen. Die Nahrungsmittelkrise zwingt das Land, 2008 eine Milliarde Dollar mehr für dieselbe Menge Nahrungsmittel auszugeben, wie sie im Jahr zuvor importiert wurde. Deshalb die absolute Priorität, endlich mehr Nahrungsmittel im eigenen Land anzubauen. Eine attraktive Preispolitik für ProduzentInnen, die massive Umverteilung von ungenutztem Staatsland im Nutzungsrecht an Zehntausende von neuen ProduzentInnen und die Entbürokratisierung sind wichtige Schritte dahin, die aber erst mittelfristig wirken werden.

Die Ölkrise bescherte dem Land trotz stabilen Importen aus Venezuela (im Austausch für Fachpersonal in den Bereichen Medizin, Bildung, Sport, etc.) ein Loch im Portemonnaie. Ein Teil des in Kuba geförderten Öls (immerhin die Hälfte des Eigenverbrauchs) gehört einer Firma mit kanadischem Anteil, womit also eine bis vor Kurzem steigende Devisenrechnung zu begleichen war. Profitiert hatte Kuba bis vor Kurzem von den hohen Nickelpreisen, da es eines der wichtigsten Förderländer dieses Metalls ist. Diese Einnahmen waren gar höher als die des Tourismus im vergangenen Jahr. Der Nickelpreis ist mit der Finanzkrise auf rund einen Sechstel seines Höchstpreises gefallen, was das Land hart trifft.

Der Tourismus hatte sich bis vor den Hurrikans erholt und wies zweistellige Zunahmen auf. Auch wenn die aktuelle Saison gute Auslastungen vorweisen kann, ist absehbar, dass die internationale Wirtschaftskrise den Massentourismus nach Übersee treffen wird und somit diese zweitwichtigste Devisenquelle im Land, von der direkt oder indirekt rund 350.000 Arbeitsstellen abhängen.

Dies ist für die Regierung von Raúl Castro eine grosse Herausforderung. Der für Ende 2009 angekündigte Parteikongress galt als ein Meilenstein in der Übergabe der Geschäfte an eine neue Generation, die nicht aktiv an der Revolution von 1959 beteiligt war. Dieser Generationenwechsel ist auch mit einem neuen Regierungsstil verbunden, vom charismatischen Fidel Castro zu einem institutionalisierten, vom Kollektiv geprägten Führungsstil. Ein stabiles Umfeld ist in diesem Zusammenhang von grosser Wichtigkeit, um die mehrheitliche Zustimmung zum gegenwärtigen Gesellschaftsmodell beizubehalten.

Die klimatischen Wirbelstürme haben das in den vergangenen Jahren erreichte Wachstum - über 40 Prozent in 4 Jahren - praktisch weggefegt und wirken sich vor allem durch die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt stark auf das individuelle Wohlbefinden aus. Das Wohnungsdefizit von rund einer halben Million Einheiten hat sich mit Gustav und Ike erheblich erhöht und den Silberstreifen am Horizont für junge Familien, doch gelegentlich was Eigenes zu bekommen und der Schwägerin nicht länger auf der Pelle zu hocken, beinahe zum Erlöschen gebracht. Bei einer Jahresproduktion von knapp 50.000 Wohnungen ist eine Lösung dieses Problems nicht absehbar. Die globalen wirtschaftlichen und finanzspekulativen Wirbelstürme werden das Land in noch nicht genau erfassbarem Ausmass treffen, denn wichtige Variablen der nationalen Wirtschaft wie Nickelpreise und Tourismusströme entziehen sich dem Einfluss des Landes.


Neue Momente

Aber ein Vergleich mit der so genannten Spezialperiode nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Blocks, mit dem 80 Prozent des Aussenhandels abgewickelt wurde, ist nicht zulässig. Einerseits verfügt das Land über eine diversifiziertere Wirtschaftsstruktur, in der Gesundheit (Medikamente und Dienstleistungen) und Informatik eine Rolle zu spielen beginnen. So sind drei kubanisch-chinesische Mischunternehmen im Pharmabereich in China aktiv und in Katar wird ein Spital gebaut, dass von kubanischem Fachpersonal betrieben werden soll. Die nationale Informatikuni mit über 10.000 StudentInnen ist dank ihrer Produktion bereits weitgehend selbsttragend. Das Wirtschaftswachstum für dieses Jahr beruht vor allem auf den ersten Monaten und soll statt der erwarteten 7.5 noch 4 Prozent betragen.

Andrerseits sind die wirtschaftlichen Beziehungen weiter gefächert und neben Venezuela sind auch China, Westeuropa und mit steigenden Anteil Russland, Brasilien und andere lateinamerikanische Länder relevant. Und genau Brasilien und Russland könnten mit ihrer Technologie dem Land helfen, die im Meeresgrund mit hoher Sicherheit vorhandenen Ölvorkommen aufzuspüren, um die energetische Unabhängigkeit zu erreichen.

Bleibt schliesslich die beinahe schon epische Auseinandersetzung mit dem grossen Nachbarn im Norden. Die Wahl von Obama wird mit vorsichtiger Hoffung begrüsst. Während seiner Kampagne hatte dieser in Florida verkündet er würde nach seinem Amtsantritt die Reise- und Geldüberweisungsbeschränkungen für cubanischstämmige BürgerInnen aufheben. Diese durften nur alle 3 Jahre reisen, falls sie denn noch Verwandte ersten Grades im Land hatten und alle 3 Monate maximal 300 Dollar überweisen. Dieser Reisestrom wird der Tourismusbranche im Land sicher gut tun und dürfte die Überweisungen, die zur Zeit auf rund 1 Milliarde pro Jahr geschätzt werden, zumindest trotz Krise stabil halten. Inwieweit die jahrzehntelange illegale Blockade des Landes - dieses Jahr in der UNO-Vollversammlung mit 185 zu 3 Stimmen verurteilt - ebenfalls zur Debatte steht, wird sich zeigen. Letzte Umfragen ergaben zum ersten Mal eine Mehrheit in der kubanischen Gemeinschaft in den USA für deren Aufhebung und Schützenhilfe erhalten sie von tiefrepublikanischen Agrarstaaten aus dem Zentrum des Landes, die ihre Waren verkaufen wollen, ebenso wie von Teilen der Öllobby, die es nicht gerne sieht, wenn andere das Geschäft mit dem vermuteten schwarzen Gold in derartiger Nähe zum Land alleine tätigen.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 156, 22. Dezember 2008, S. 6-8
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2009