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AUFBAU/563: Warnsignale an die herrschende Klasse


aufbau Nr. 96, März/April 2019
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Warnsignale an die herrschende Klasse


GELBWESTENPROTESTE - Wöchentlich gehen zehntausende Menschen in Frankreich und Belgien auf die Strassen. Was zunächst selbst in linken Medien als WutbürgerInnenproteste diffamiert wurde, erweist sich als eine veritable Sozialrevolte.

(az) Als sich am 17. November des vergangenen Jahres zehntausende Menschen in Frankreich und Belgien auf die Strasse machten, um gegen hohe Benzinsteuern zu demonstrieren, war die Skepsis insbesondere in der deutschsprachigen Linken gross. Exemplarisch für diese Skepsis schrieb die WOZ am 29. November 2018, es handle sich um "WutbürgerInnen mit Warnwesten" - es wurde in dieser Zeitungsnummer behauptet, Steuerproteste würden eigentlich automatisch nach rechts tendieren. In der Tat ist es in schweizerischen, mittelständischen Stadtmilieus nur sehr schwer vorstellbar, dass sich ein vermeintlicher Zank um Benzinpreise in eine progressive Richtung wenden könnte. Und natürlich beisst sich die Forderung auf den ersten Blick ja auch mit der aktuellen und dringend notwendigen Klimabewegung. Die Forderungen passten vielen zunächst nicht ins Konzept.

Die These, wonach die Bewegung der "Giletsjaunes" nichts Progressives beinhalten würde, wurde damit untermalt, dass einige Gelbwesten am 24. November 2018 in Calais Flüchtlinge bei der Polizei denunziert hatten. Damit schien das Kapitel aus linker Sicht für viele abgehakt. So liess auch der französische Staat nichts unversucht, um die Bewegung als Protestbewegung von rückwärtsgewandten WutbürgerInnen darzustellen. Und selbst die französische Gewerkschaftsbewegung sowie bürgerliche FeministInnen verhielten sich unsolidarisch. Beide mobilisierten parallel zu "Gilets jaunes"-Protesten an Samstagen und riskierten damit - ob bewusst oder nicht - die Bewegung zu schwächen. Dies gelang angesichts der Dominanz der Bewegung bei weitem nicht.


Vielfältige Bewegung

Doch es ist ohne Zweifel: Die Wut ist berechtigt. Es ist in der Tat so, dass Frankreich die höchste Steuerquote der OECD-Länder aufweist. Und einen sehr grossen Teil der Steuern stellen Verbrauchssteuern dar. Dies sind jene Tarife, die die werktätige Bevölkerung am stärksten treffen, analog zu den Mehrwertsteuern in der Schweiz. 2017 hatte Präsident Macron dieses Thema mit dem Abbau der Vermögenssteuern noch einmal befeuert. Der Protest wurde zunächst primär von Menschen geführt, die in Kleinstädten und auf dem Land leben und sich ein pünktliches, öffentliches Verkehrswesen à la Zürich mehrheitlich kaum vorstellen können. Diese Menschen sind auf ein eigenes Motorfahrzeug angewiesen, um zur Arbeit zu gelangen oder um am sozialen Leben teilnehmen zu können. Insofern handelte es sich um Menschen, die in der Tendenz eben nicht dem städtischen Milieu zugerechnet werden können - und dementsprechend auch vom traditionell in den Städten verankerten linken Milieu wenig wahrgenommen werden. Im Herbst fand eine Studie statt, deren Ergebnisse mit äusserster Vorsicht zu geniessen sind und die dennoch erstaunen. Die Studie widerlegt die "WutbürgerInnen-These: So besteht die Bewegung gemäss dieser Untersuchung fast zur Hälfte aus Frauen. Dies ist eine Quote, die bei grossen Gewerkschaftsmobilisierungen nur sehr selten zustande kommt. Der überwiegende Teil der Bewegung sind ArbeiterInnen oder Angestellte. Ausserdem weist die Bewegung einen eher unterdurchschnittlichen Bildungsgrad und ebenso einen unterdurchschnittlichen Einkommensdurchschnitt auf. Es handelt sich um eine Bewegung von unten mit ländlicher Prägung.

Zwar gehen in Paris die grossen Zusammenstösse mit der Staatsgewalt von statten (auch die beiden Bilder stammen aus Paris), was über die rurale Struktur der Bewegung aber nicht hinwegtäuschen darf. Fast die Hälfte der Teilnehmenden sind mit der "Giletsjaunes"-Bewegung zum ersten Mal in Strassenproteste involviert. Auch das wirkt erstaunlich. Denn immerhin beträgt das Durchschnittsalter der Bewegung gestandene 45 Jahre.


Forderungen nach sozialen Verbesserungen

Während die Bewegung weitgehend auf RepräsentantInnen verzichtet und eine hohe Abneigung gegen politische Vereinnahmung hegt, entwickelte sie diverse Forderungen, welche den Klassencharakter der "Gilets jaunes" unterstreichen. Am prominentesten sind die Forderungen nach Wiedereinführung der alten Vermögenssteuer für Reiche, bessere Löhne und Renten oder aber die Abschaffung der eingangs erwähnten Dieselsteuer. Politisch wird der Kopf von Macron gefordert. Auch Rufe nach mehr "direkte Demokratie" wurden laut; dahinter steht natürlich der Wunsch nach verbesserter Mitbestimmung. Dass auch das vermeintliche Allheilmittel der direkten Demokratie bloss ein anderes Herrschaftsinstrument darstellt, muss der schweizerischen LeserInnenschaft nicht erklärt werden. Durchaus sind auch politisch Rechtsgerichtete bis gar Rechtsextreme Teil der Bewegung, wenngleich Solidarisierungen mit antirassistischen Bewegungen ebenfalls Teil der "Gilets jaunes" sind. Kurz: Die Bewegung ist sehr breit und heterogen.

Der grundsätzliche Charakter besteht aber in einer Sozialrevolte von Menschen, die sich bisher politisch noch nicht artikuliert hatten und nun neue Formen proben sowie in der Tendenz die richtigen Forderungen vortragen. Das macht die Bewegung interessant. Praktisch über Nacht wurde Politik zu einem brennenden Thema in der französischen Bevölkerung, sei es am Arbeitsplatz, am Stammtisch oder auf dem Kinderspielplatz. Explosionsartig breitete sich eine Bewegung aus, mit der viele Menschen nicht gerechnet hatten - und die durchaus doch einer Logik folgt.


Antworten auf die Schwäche der reformistischen Linke

Die Gewerkschaftsbewegung (und daneben natürlich auch die revolutionäre Linke) ist in Europa in der Defensive und das hat viele Gründe. Einer davon ist, dass der Reformismus der werktätigen Klasse im neoliberalen Zeitalter nicht mehr viel anzubieten hat: Die Sozialdemokratie und Gewerkschaften sind in Zeiten des Sozialabbaus weiterhin staatstragende Institutionen und nicht in der Lage. Verbesserungen für die werktätige Klasse durchzusetzen. Im Gegenteil: Die Sozialdemokratie treibt - wo sie an der Macht ist - den Sozialabbau voran. Dies hat eine Erosion der politischen Repräsentationen bewirkt. Auch die Gewerkschaften sind nicht mehr in der Lage, die neue Heterogenität der lohnabhängigen Klasse abzudecken. Die "Gilets jaunes" sind nun in dieses Vakuum getreten und tun dies mit militanten Formen, Strassenprotesten oder Kreiselbesetzungen. Viele traditionell "Nicht-Repräsentierte" fühlen sich davon angesprochen. Die Gelbwesten entwickelten eigene Organisationsvorschläge wie etwa Versammlungen oder Rätestrukturen. Zu Antworten auf die Frage, wie der geballten Macht der herrschenden Klasse etwas entgegengesetzt werden kann, hat die "Gilets jaunes"-Bewegung durchaus etwas beigetragen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 96, März/April 2019, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
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Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2019

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