Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/494: "Leihmutterschaft zeigt, dass das Private höchst politisch ist"


aufbau Nr. 88, März/April 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Interview
"Leihmutterschaft zeigt, dass das Private höchst politisch ist"


INTERVIEW Warum müssen wir uns mit Reproduktionstechnologie auseinandersetzen und welche Auswirkungen hat sie? Christa Wichterich - Publizistin, Entwicklungssozologin, Geschlechterforscherin, Universitätsdozentin, Aktivistin und einiges mehr - spricht über das neue Aktionsfeld des Kapitalismus und die Situation der Leihmütter in Indien.


fk: Christa, du bist seit Jahrzehnten in der feministischen, linken Bewegung aktiv und Expertin in Sachen Frauenarbeiten und dem Verhältnis Süd-Nord. In deinem Artikel zu Leihmutterschaft in Indien redest du von einer transnationalen Neukonfiguration von Reproduktion. Kannst du uns erklären, was du damit meinst?

Christa Wichterich: Seit der Geburt des ersten "Retortenbabys" 1978 wurden komplexe unternehmerische Netzwerke und Märkte aufgebaut. Die repromedizinischen Leistungen werden dort angeboten, wo die Verfahren legal und die Arbeitskräfte billig sind. Diese Märkte werden ständig verlagert, weil Verfahren aus ethischen Gründen irgendwo verboten oder aber zugelassen werden. Entsprechend hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Reproduktionstourismus entwickelt, welcher der Erzählung hinterherläuft: Kinder, und zwar eigene gesunde Kinder sind "machbar", die Technologie und das medizinische Wissen sind verfügbar, Zugang mit günstigen Preisen gibt es in Osteuropa und im globalen Süden. Wenn ein schwules Paar aus Israel einen Embryo mit ihrem eigenen Samen und Eizellen einer US-amerikanischen "Spenderin" von einer indischen Leihmutter austragen lässt, können wir das eine neue transnationale Form von Reproduktion nennen, und zwar marktförmig organisiert.

fk: Warum ist es wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?

CW: Es geht einmal darum, wie wir leben wollen. Wollen wir mit Kindern leben? Wollen wir eigene Kinder haben? Zum anderen muss sich jede Gesellschaft reproduzieren und dazu braucht sie Nachwuchs, jede Wirtschaft braucht frische Arbeitskräfte. Jeder Staat überlegt sich, mit welcher Politik er demographisch steuern kann, so dass die BürgerInnen mehr oder weniger Kinder bekommen. Der globale Norden meint in kolonialer Manier, die Menschen im Süden, vor allem die Armen, würden zu viele Kinder bekommen und das sei eine Bedrohung für uns. Das erleben wir in Europa gerade mit dem rassistisch aufgeladenen Diskurs einer "Überfremdung". Gleichzeitig werden gut qualifizierte Menschen aufgefordert, Kinder zu bekommen, und Anreize, wie das Elterngeld, sind einkommens- und klassenspezifisch. Das Thema ist ein klares Beispiel dafür, dass das Private höchst politisch ist.

fk: Welche Auswirkungen haben die neuen Reproduktionstechnologien auf Frauenarbeiten, auf Frauenleben?

CW: Ich habe mich mit der Figur der Leihmutter beschäftigt, die das genetische Kind anderer - meist Menschen aus einer höheren Klasse oder einem wohlhabenderen Land - austrägt und zur Welt bringt. Es wird per Vertrag geregelt, wie viel sie dafür gezahlt bekommt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes körperliche Arbeit, Arbeit des Körpers, es ist Produktion und Reproduktion in einem. Es ist emotionale Arbeit, denn die Frauen sollen keine emotionale Bindung an den Fötus entwickeln, weil er sofort nach der Geburt den Bestelleltern gegeben wird. Sie müssen sich also ständig abgrenzen gegen das lebendige Wesen, das in ihnen wächst. Es ist riskante Arbeit, wegen der häufigen Hormon- und Medikamentengabe; sogenannte "überflüssige" oder genetisch "abnorme" Embryos werden abgetrieben. Die Frauen und ihre Körper stehen unter ständiger medizinischer Kontrolle. Es ist temporäre und prekäre Arbeit, weil der Vertrag keine soziale Sicherheit oder Versicherung vorsieht. Im Fall einer Fehl- oder Totgeburt gehen die Frauen in der Regel leer aus. Trotzdem: sie machen das, weil sie damit einen Batzen Geld verdienen können, um sich - z.B. in Russland - eine Wohnung kaufen zu können oder in Indien alte Schulden abzutragen, eine Rikscha zu kaufen, mit welcher der Mann Geld verdienen kann oder den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Jedenfalls sind die verdienten 5000 Euro äquivalent zum achtfachen Jahresverdienst eines saisonalen Landarbeiters.

fk: Wie ist die Situation heute in Indien, nachdem die Regierung Ende letzten Jahres Leihmutterschaft verboten hat?

CW: Ab Mai 2017 soll nur "altruistische" Leihmutterschaft für indische StaatsbürgerInnen im Verwandtschaftskreis erlaubt sein als technisch-soziale Lösung im Fall von Unfruchtbarkeit. Das Verbot treibt Leihmütter in die Illegalität, in mobile Arrangements und in eine noch grössere Rechtlosigkeit. Umgehend drohten die Reproduktionsunternehmen mit steigenden Preisen und gingen in den Untergrund; indische Kliniken und Vermittlungsagenturen bauten Zweigstellen in Kambodscha auf. Ende 2016 verkündete jedoch auch Kambodscha ein vorläufiges Verbot. Die Geschäftemacher werden sich immer neue Länder zum Profit machen suchen. Als 2013 in Indien Leihmutterschaft für Schwule verboten wurde, wurden indische Leihmütter nach Nepal transferiert.

fk: Der Bereich ist ein neues Investitionsfeld für das Kapital. Welche Unternehmen in welchen Ländern profitieren auf welche Weise von diesem Markt?

CW: Ich will das am Beispiel Indiens erläutern. Der repromedizinisch-industrielle Komplex besteht aus lokalen und transnationalen Vermittlungsagenturen, Märkten für Körperstoffe und -teile wie Eizellen, Sperma, Nabelschnurblut, Stammzellen usw., Logistikunternehmen, die diese in Kälteketten transportieren, Kliniken mit Reproduktionstechnologien, Pharmakonzerne - marktführend ist der Darmstädter Konzern Merck - liefern Medikamente und Hormone, angeschlossen sind die Tourismusindustrie mit Reisen, Unterkünften und Sightseeing für die Bestelleltern, Rechtsanwaltskanzleien, die bezüglich der Ausstellung von Geburts- und Adoptionsurkunden, Staatsbürgerschaft und Reisedokumenten beraten, und AgentInnen, die lokal neue Leihmütter rekrutieren. Die Expansion des indischen Marktes führte zu mehr Konkurrenz und zunehmender Informalisierung, beispielsweise mit Rikschafahrern als Vermittlern. Zum Zweck der Verwertung findet transnational Ressourcen- und Sorge-Extraktivismus statt, d.h. Bioressourcen und die lebendige Körper- und Sorgearbeit der Frauen werden durch die Bioökonomie vernutzt.

fk: Was bedeutet das?

CW: Bei jeder Schwangerschaft und Geburt wird Sorgearbeit geleistet. Die Leihmütter werden aufgefordert, Sorge zu tragen, dass in ihrem Körper ein gesundes Kind aufwächst. Weil dies aber ausgelagerte Arbeit ist, ist dies aus Nord-Süd- und aus einer Klassen- und Hautfarbenperspektive Extraktion von Sorgearbeit armer schwarzer Frauen im globalen Süden. Die Körper der Frauen sind auf den globalen Märkten eine Ressource, die warenförmig in Dienst genommen wird für die Reproduktion im globalen Norden und die imperiale Lebensweise der globalen Konsumschichten.

fk: Du sprichst von aufgesplitterten Arbeitsprozessen, die eine neue Verdinglichung und Entfremdung bewirken und in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit allenfalls polarisierend wirken könnten. Gibt es in den feministischen Bewegungen Debatten zu diesen Fragen? Könnte sich in diesem Bereich ein Mobilisierungspotenzial entwickeln?

CW: Nach dem Verbot gingen sofort Bilder von Leihmüttern durch die Medien, die dagegen protestierten, dass armen Frauen diese gute Verdienstmöglichkeit entzogen wird. Ansonsten haben Leihmütter sich nicht organisiert. Allerdings habe ich gehört, dass einzelne bei der zweiten oder dritten Leihmutterschaft angefangen haben, den Preis zu verhandeln. In Bangalore haben einige Frauen überlegt, ob sie das Ganze genossenschaftlich organisieren können.

Sowohl in der indischen Öffentlichkeit als auch unter indischen Feministinnen sind Leihmutterschaft und das Verbot heftig umstritten. Technologiekritische Feministinnen begrüssten das Verbot, Forscherinnen, die sich mit der leihmütterlichen Arbeit und den Frauen als Handlungssubjekten beschäftigt haben, kritisieren es aus der Perspektive von Frauen- und Arbeitsrechten, obwohl auch sie gegen die Kommerzialisierung von Reproduktion und des weiblichen Körpers sind. Das Unbehagen mit dem Verbot kommerzieller Leihmutterschaft beruht auf dem offensichtlichen Interesse der Regierungspartei nicht etwa an Frauenrechten, sondern an ihrer hindu-identitären, anti-emanzipatorisch-moralischen Profilierung nach innen und nach aussen. Alternative Einkommensmöglichkeiten wurden ihnen nicht angeboten, andere ausbeuterische Arbeitsverhältnisse wurden nicht verboten.

fk: Ist es denkbar, dass Teile dieser Reproduktionstechnologien positive Aspekte beinhalten, würden sie ausserhalb von Ausbeutungsverhältnissen und patriarchalen Strukturen stattfinden?

CW: Viele hoffen aus einer Queer-Perspektive darauf, dass sie die Technik selbstbestimmt einsetzen und damit die heteronormative Ordnung aufbrechen oder unterlaufen können. Aus feministischer Sicht steht die Selbstbestimmung über den eigenen Körper im Zentrum. Was dem zugrunde liegt, ist die sehr grundsätzliche Frage: in wieweit wollen wir unsere eigene Natur beherrschen und umkrempeln. In Zeiten von Transsexualität müssen wir uns fragen, wann finden wir massive Eingriffe in die Natur von Körpern emanzipatorisch, wann nicht. Was und wo sind die Grenzen? Zumal die meisten dieser Medizintechnologien und Reproduktionsunternehmen als Teil des kapitalistischen Systems fungieren.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 88, März/April 2017, Seite 6
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang