Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


AUFBAU/482: Repression unter dem Deckmantel "Behindertenschutz"


aufbau Nr. 87, Januar/Februar 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Repression unter dem Deckmantel "Behindertenschutz"


ABTREIBUNGSRECHT Nach dem massiven Streik gegen die drohende Verschärfung des "Abtreibungsrechts" in Polen greift die konservative Regierungspartei PiS erneut die Rechte der Frauen an: Mit einer Geburtsprämie für behinderte Kinder. Das neue Gesetz dient jedoch nicht dem Schutz der Kinder, sondern illegalisiert Abtreibungen weiter.


(fk) Im September 2016 beriet das polnische Parlament über zwei Initiativen zum Abtreibungsrecht. Die erste, eingereicht und unterschrieben von mehr als 200.000 Polinnen und Polen, forderte eine Fristenlösung - und wurde sofort abgelehnt. Die zweite, ausgeheckt von der fundamentalistisch-christlichen Organisation Ordo Luris und von mehr als 450.000 selbsternannten LebensschützerInnen unterstützt, forderte eine noch stärkere Einschränkung des ohnehin restriktiven Abtreibungsverbots. Als die Proteste dagegen immer lauter wurden und die Bewegung schliesslich in einem Streik am 3. Oktober mit mehr als 100.000 PolInnen mündete, schickte die nationalkonservative Regierungspartei PiS überraschend auch diese Initiative bachab. Die landesweiten Protestaktionen standen unter dem Motto "czarny protest" - "schwarzer Protest", in zahlreichen europäischen Städten fanden Solidaritätskundgebungen statt.

Schwangerschaftsabbruch als Klassenfrage

Das polnische Abtreibungsgesetz ist erst seit 1993 derart restriktiv. Nach dem unter dem damaligen Präsidenten und strenggläubigen Katholiken Lech Walesa verabschiedeten Artikel sind Abtreibungen nur in drei Fällen erlaubt: Wenn die Frau zu sterben droht, wenn der Fötus schwer behindert ist oder wenn die Frau vergewaltigt wurde. Das Resultat: Offiziell wurden 2015 nur 1040 Abtreibungen registriert. Die Aktivistinnen von Ciocia Basia gehen jedoch davon aus, dass die Dunkelziffer bei rund 150.000 Abtreibungen pro Jahr liegt.

Viele Frauen, die es sich leisten können, reisen für einen Schwangerschaftsabbruch ins nahegelegene Ausland. In Deutschland beispielsweise kostet eine medikamentöse Abtreibung rund 300 Euro, eine operative etwa 450 Euro. Wer es sich nicht leisten kann, ist auf eine illegale Abtreibung angewiesen. Das kann für die Frauen gesundheitsbedrohend sein, denn oft lassen Betreuung, Nachkontrollen und Hygiene zu Wünschen übrig. Erstens ist es schwierig, ÄrztInnen zu finden, die das Risiko eingehen wollen, sich strafbar zu machen. Zweitens nutzen viele die Notsituation der schwangeren Frauen aus und verlangen horrende Preise.

Verstärkte Repression als Antwort

Nach dem Untergang der Initiative gibt die PiS jedoch keine Ruhe und versucht weiterhin, Abtreibungen gänzlich zu illegalisieren. Ein neues Gesetz, das bereits per 2017 in Kraft treten soll, wurde Anfang November in Windeseile verabschiedet: Frauen, die ein schwer behindertes, unheilbar krankes oder nicht lebensfähiges Kind nicht abtreiben, sondern gebären, erhalten eine Geldprämie von 4000 Zloty, rund 1000 Franken (zum Vergleich: der gesetzlichen Mindestlohn beträgt 1750 Zloty). Die Prämie ist eine direkte Reaktion auf das Ablehnen der geplanten Verschärfung im Oktober. Denn PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski verdankt seinen Wahlsieg vor allem der Unterstützung ultrakonservativer KatholikInnen. Das Gesetz sieht zudem staatliche Betreuung und Förderung betroffener Familien vor. Bisher gibt es in Polen jedoch keinerlei systematische Unterstützung für Frauen mit kranken Kindern. Ob die Regierung innerhalb weniger Wochen Massnahmen gewährleisten kann, welche die Betroffenen unterstützen, ist zu bezweifeln.

Das neue Gesetz ist eine Farce: entgegen den Worten der Regierung schützt und unterstützt es nicht primär Kinder mit einer Behinderung und deren Familien, sondern verschärft das ohnehin restriktive Abtreibungsrecht indirekt. Einmal mehr bedient sich die konservative Rechte dafür am Narrativ der behinderten Kinder. Die heute noch legalen Abtreibungen im Falle einer Schädigung des Fötus werden mit dem Gesetz noch stärker moralisiert und geächtet, der Druck auf die schwangeren Frauen steigt. Es ist damit zu rechnen, dass ÄrztInnen verstärkt auch erlaubte Abtreibungen aus Angst vor Sanktionen ablehnen. Der Kampf für das Recht auf Abtreibung und die Selbstbestimmung über den eigenen Körper geht demnach auch nach dem schwarzen Montag weiter.


Schlüsselthema Abtreibung

Sarah Diehl, Expertin für Reproduktionsfragen und Frauenrechte sowie Mitgründerin des Netzwerks Ciocia Basia, das in Berlin Polinnen bei der Abtreibung unterstützt, analysiert treffend: "Das Thema Abtreibung bietet sich für viele Menschen an, sich als Humanisten, als Gutmenschen, als Lebensschützer selbst zu inszenieren. Erstens, weil sie die Konsequenzen in keiner Weise tragen müssen. Zweitens, weil dieses Thema so hochsymbolisch aufgeladen ist - der Embryo als das perfekte, unschuldige Leben. Abtreibungen sind ein Schlüsselthema, um zu merken, wie Patriarchat funktioniert, da Frauen damit emotional unter Druck gesetzt werden können, umsonst Fürsorgearbeit zu leisten.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

"Wahlfreiheit, nicht Terror" - Mehr als 100.000 PolInnen demonstrierten im Oktober vor dem Sejm gegen eine noch stärkere Einschränkung des ohnehin restriktiven Abtreibungsverbots.

*

Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

*

Quelle:
aufbau Nr. 87, Januar/Februar 2017, Seite 8
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang