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AUFBAU/472: Revolutionäres Kampffeld im Schatten Rojavas


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Revolutionäres Kampffeld im Schatten Rojavas


SHENGAL Im Sommer 2014 griff der IS die Stadt Shengal an. Wer konnte, flüchtete ins angrenzende Gebirge oder nach Rojava. Tausende gerieten in Gefangenschaft oder wurden getötet. Doch selbst nach der Verteibung der Dschihadisten leben die BewohnerInnen weiterhin in den Bergen, die Stadt wurde zerstört.


(agj) Staub, Betonschutt von zerstörten Häusern und immer mal wieder der beissend säuerliche Leichengeruch, der vom Wind durch die leeren Strassen getragen wird: Viel mehr ist nach den Kämpfen bis 2015 von der Stadt Shengal (Sindschar) nicht mehr zu erkennen. Von den EinwohnerInnen befinden sich so gut wie keine mehr in der Stadt, bewaffnete Einheiten verschiedenster Zugehörigkeit prägen das von den Luftangriffen und Strassenkämpfen gezeichnete Bild der städtischen Überreste.

Die nordirakische Region Shengal, ein kleiner Landstrich zwischen Rojava, Barzani-Land und der IS-Metropole Mosul, teilt einiges mehr mit Rojava als eine gemeinsame grüne Grenze. Seit dem Überfall des IS im Sommer 2014 finden sich hier viele Elemente des benarchbarten Rojava auf kleinstem Raum reproduziert; Die Greuel der IS-Besatzung, die Rückeroberung und die Ausrufung rätedemokratischer Selbstverwaltungszonen, sowie die konterrevolutionäre Embargo- und Rekuperationspolitik Barzanis sind die Hauptzutaten. Doch beginnen wir am Anfang.


IS greift Shengal City an

Am Anfang steht der Verrat Barzanis und seiner Peschmerga. Nach der weitgehenden Desintegration des irakischen Zentralstaates 2014 und der mehr oder weniger kampflosen Übergabe Mosul's und grosser Teile Nordost-Iraks an den IS, hat die KRG (Kurdische Autonome Region - zum Wesen dieses Vasallenstaates unter Warlord Barzani die Kontrolle über Stadt und Region Shengal übernommen. Neben einer jesidischen Bevölkerungsmehrheit wohnten hier seit Jahrhunderten auch andere kurdische sowie arabische und turkmenische Gemeinschaften in friedlichem Nebeneinander. Aufgrund ihrer Religion - eine sehr alte Glaubensrichtung, die Elemente von Christentum, Sufismus und anderer orientalischer Urreligionen vereinigt - waren und sind JesidInnen besonders wütigen Angriffen der Dschihadisten ausgesetzt. Mit grossen Worten wiegten die Peschmerga die BewohnerInnen der Stadt so lange in Sicherheit, bis sie am 3. August 2014 um 4 Uhr in der Früh ohne Vorwarnung die Front aufgaben und die Flucht ergriffen. Das Resultat war ein selbst für IS-Massstäbe beispielloses Gemetzel, dem alleine in Shengal City midestenst 6.000 Menschen zum Opfer fielen, 7.000 jesidische Frauen wurden entführt und als Sexsklavinnen verkauft.


Der Widerstand formiert sich

Wer konnte floh noch in der Nacht auf das die Stadt im Norden begrenzende Shengalgebirge. Dieser schwer zugängliche Berg war in der von Verfolgungen und Massakern geprägten Geschichte der JesidInnen immer wieder zum letzten Zufluchtsort geworden, und auch jetzt sollte er jenen Schutz bieten, die seine Höhen erreichten. Angeleitet von einer kleinen Gruppe KämpferInnen der HPG (Guerilla-Armee der PKK) verteidigten die JesidInnen den vom IS umzingelten Berg. Nach Monaten erbitterten Kampfes gelang es schliesslich Einheiten der Selbstverteidigungseinheiten Rojavas YPG/YPJ sowie den mittlerweile organisert kämpfenden jesidischen Milizen einen Korridor durch die Einkreisung zu schlagen.


Gesellschaftlicher Aufbruch

In den improvisierten Zeltunterkünften auf dem Berg sind die Lehren aus dem Genozid und dem Verrat schnell gezogen. Fortan will man nicht mehr auf die Hilfe von irgendwelchen Zentralregierungen angewiesen sein, sondern das Überleben der jesidischen Gemeinschaft in die eigenen Hände nehmen. Nach dem Vorbild der YPG/YPJ werden die spontanen Volksmilizen als YB (Widerstands-Einheiten Shengal) bzw YJ (Frauen-Einheiten Shengal) organisiert. Doch es geht schon lange nicht mehr nur ums blosse Zurückschlagen der IS-Mörderbanden, sondern parallel um den Aufbau einer freien Gesellschaft. Immer wieder wird von jesidischen GesprächspartnerInnen betont, dass die jesidische Kultur seit jeher auf basisdemokratischen und emazipatorischen Prinzipien fusst. Seit jeher aber auch wurde die jesidische Gemeinschaft vom Imperialismus und dessen lokalen Schergen an der freien Entfaltung dieser Prinzipien gehindert. Nun sei es an der Zeit, den Genozid als Fanal zu nutzen und im Rahmen des Demokratischen Konföderalismus der kurdischen Befreiungsbewegung endlich ein selbstbestimmtes Leben zu erkämpfen. Und so wird - noch mitten im Gefechtslärm - damit begonnen, das Leben in Räten zu organisieren, die Emanzipation der Frau zu diskutieren und ganz allgemein möglichst die gesamte Bevölkerung im gesellschaftlichen Aufbruch politisch zu aktivieren.


Die Geier kommen zurück

Nach und nach gelang es im Laufe des Jahres 2015 zuerst den Norden und Westen der Region und schliesslich auch die Stadt und einen dünnen Streifen entlang des Südfusses vom IS zu befreien.

Neben den PKK-nahen Einheiten der YB/YJ beteiligen sich daran auch die bürgerlich-ethnische Volksmiliz HPÊ sowie, in engem Bündnis mit der YB, die Milizen des sunnitischen Al-Shammar-Stammes. Ausgeruht und mit französischer und US-amerikanischer Luftunterstützung kamen nun auch Barzanis Peschmergas zurück an die Front. Es ist müssig darüber zu diskutieren wer welchen Anteil an der Rückeroberung hatte, beide Seiten gestehen der anderen maximal eine Statisten-Rolle zu. Fakt ist, dass es zu einer spannungsgeladenen taktischen Zusammenarbeit kam, die, wenn auch immer brüchiger, bis heute anhält. Fakt ist aber auch, dass die Bevölkerung nicht nur in den Zeltdörfern auf dem Berg, sondern auch in den wiederbesiedelten befreiten Dörfern und Kleinstädten des Nordens ihre Position schon lange bezogen hatte. Überall sieht man Sprays der Widerstandseinheiten und Gedenkbilder der Gefallenen. Hingegen wird die Präsenz der Peschmerga als Besatzung wahrgenommen. Während sich die bewaffneten Einheiten aus taktischen Gründen (noch) zurückhalten, kommt es immer wieder zu Zusammenstössen zwischen Peschmergas und aufgebrachten jesidischen Jugendlichen.


Der Kampf um die Stadt

Während Barzani die ganze Region mit einem Embargo belegt, und die Bewegung damit zwingt, die gesamte Logistik über die grüne Grenze mit Rojava abzuwickeln, versucht er sich einzelne loyale Dörfer aufzubauen. Ganz gezielt werden aus den tausenden jesidischen Flüchtlings-Familien in den Camps von Duhok (KRG), jene ausgesucht, die keine familiären Verbindungen zu den Volksmilizen haben. Ihnen wird dann Land übergeben, beim Wideraufbau geholfen und natürlich zählt für sie auch das Embargo nicht.

In zugespitzter Form kommt diese Strategie beim Konflikt um die zerbombte Stadt zur Anwendung. Während die Menschen in den Zeltdörfern möglichst bald in ihre Stadt zurückkehren wollen, um sie unter dem Banner der Selbstverwaltung wieder aufzubauen, hat Barzani andere Pläne. Aus Anlass des zweiten Jahrestages des Genozids bekräftigte er kürzlich seine Absicht, Shengal City als Mahnmal der Geschichte in Trümmern zu belassen und einige Kilometer weiter eine neue Stadt zu errichten. Es versteht sich vor dem Hintergrund dieser Geschichte von selbst, dass es ihm dabei nicht um das ehrende Andenken Tausender Toter geht, sondern einzig darum, die besten Voraussetzungen zu schaffen um seine auf Klientelismus fussende Macht auszuweiten. Noch verläuft die Front zum IS nur weniger als 10 Kilometer vor der Stadt, und noch ist Barzani ganz und gar damit beschäftigt, sich bei den USA als Juniorpartner bei der Befreiung des benarchbarten Mosuls anzudienen, in naher Zukunft wird dieser Auseinandersetzung um die Stadt Shengal aber sicherlich eine wegweisende Stellung zukommen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 11+12
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Oktober 2016

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