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AUFBAU/444: Frankreich im Ausnahmezustand


aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Frankreich im Ausnahmezustand


FRANKREICH - Nach den Anschlägen vom 13. November wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und auf mindestens drei Monate ausgedehnt. Eine Repressionswelle überrollt seither das Land.


(rabs) In Belleville, im Marais oder im Quartier Latin: Auf den ersten Blick scheint alles wie gehabt. Menschenmassen drücken sich aneinander vorbei, auf dem Weg zur Arbeit, zur Uni, die Bars sind gut gefüllt. Aber der Ausnahmezustand ist da, macht sich immer wieder bemerkbar. Gruppen von Soldaten patrouillieren in den Strassen, Maschinenpistolen im Arm. An den Eingängen zu den Unis, zu Bibliotheken oder Einkaufszentren werden die Taschen kontrolliert. Besonders in den Banlieues ist die Präsenz des Militärs auffallend.

Und dann gibt es jene, die eine etwas direktere Bekanntschaft mit dem Etat d'urgence machen. Zum Beispiel ein sechsjähriges Mädchen, das von einer aufsplitternden Tür verletzt wird (die Spezialeinheit hatte sich in der Adresse geirrt). Von solch gewaltsamen, nächtlichen Polizeibesuchen wissen viele zu berichten. Die Hausdurchsuchungen können zurzeit ohne richterlichen Beschluss durchgeführt werden. Seit dem 13. November wurden bis Redaktionsschluss bereits über 2.500 Wohnungen durchsucht und dabei oft verwüstet. Zudem wird die Assignation à résidence, also der Hausarrest, breit angewendet. Die Betroffenen müssen sich dreimal täglich auf der Polizeipräfektur zeigen und dürfen zwischen 20 und 6 Uhr das Haus nicht verlassen. Auch dies geschieht ausserhalb von juristischen Verfahren. Blitzverfahren setzen aber dann ein, wenn sich jemand wehrt: Ein Mann wurde zu sechs Monaten bedingtem Gefängnis verurteilt, weil er nicht zu den Meldeterminen des Hausarrests erschien.

Im Visier ist vor allem die muslimische Bevölkerung. Die Instrumente des Ausnahmezustands werden aber auch gegen linke AktivistInnen eingesetzt. Vom 30. November bis am 12. Dezember fand in Paris die Klimakonferenz Cop21 unter Anwesenheit von 150 StaatschefInnen statt. Die internationale Gegenkampagne wurde von der Polizei fleissig sabotiert. So wurden im Vorfeld der Klimakonferenz 24 AktivistInnen unter Hausarrest gestellt und ein an der Kampagne beteiligter Bio-Bauernhof auf den Kopf gestellt, die Grossdemonstration vom 29. November verboten.

Dennoch fanden sich auf der Place de la République ungefähr 5.000 Demonstrierende unter der Parole "Ändern wir das System, nicht das Klima" ein. Die Kundgebung sagte dem Ausnahmezustand den Kampf an. Die Polizei zögerte nicht, diese Kampfansage zu erwidern. Der gesamte Platz war von CRS-Bullen umstellt, die tüchtig Tränengas einsetzten, als DemonstrantInnen versuchten, die Sperre zu durchbrechen. 317 Menschen wurden verhaftet, verbrachten die Nacht in kalten, belichteten Zellen und wurden am Morgen, ohne in den vergangenen 16 Stunden etwas gegessen zu haben, dem Verhör unterzogen. In Schnellprozessen wurden die ersten DemonstrantInnen bereits wenige Tage später vor Gericht gestellt. Eine Person wurde zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, eine andere zu acht Monaten bedingt. Letzterer wird vorgeworfen, eine Sodadose geworfen zu haben. Es ging offensichtlich darum abzuschrecken.

Die Armee nutzt das Klima und ist mit Werbeclips im Internet und Fernsehen präsent. Bereits zeigt sich, dass Rekrutierungsrekorde erzielt werden. Seit dem zweiten Weltkrieg bewarben sich nie mehr so viele junge Menschen als Berufssoldaten wie in den Wochen nach dem 13. November. Während die Arbeitslosigkeit stetig anwächst (allein im Oktober gingen 42.000 Stellen verloren) wird die Armee im Jahr 2016 voraussichtlich der wichtigste Neueinsteller sein.

Frankreich "befindet sich im Krieg", konstatierte Hollande nach den Attentaten. Das ist keine Neuigkeit. Die französische Armee ist gleich an mehreren Orten auf der Welt seit Jahren in Kriegen engagiert. Neu ist aber, dass der Krieg zum Schwerpunkt der innenpolitischen Positionierung der Regierung gemacht wird. Nach den Anschlägen vom Januar 2015 (Charlie Hebdo), war die nationalistische Diskussion um die "französischen Werte" noch weniger offensichtlich von Kriegsrethorik geprägt. Und es bleibt nicht bei Worten. Hollande und Konsorten lassen Taten folgen, die den 13. November in der altbekannten imperialistischen Manier nutzen, was auch von den Kriegshetzern im deutschsprachigen Raum begrüsst wird: Von der Zeit bis zur NZZ stimmen die reaktionären Sprachrohre in das Gerede vom Krieg ein, der zur angeblichen Verteidigung des Westens geführt werden müsse(1).

Und wer die Verteidigung der westlichen Zivilisation ausruft, der muss sich nicht wundern, wenn dadurch neofaschistische Geister geweckt werden. Denn auch wenn er sich alle Mühe gibt - die Parti socialiste kann die Politik einer verallgemeinerten Repression gegen Muslime nicht glaubhaft verkörpern. Es ist der Front National (und mit ihm auch andere rechtsextreme Gruppen) der von der Lage profitiert. Bei den Kommunalwahlen erzielte er neue Rekorde.


Anmerkung:
(1) Welche Blüten dieser Diskurs treibt, ist z. B. in einem NZZ-Artikel des Zeitherausgebers Josef Joffe nachzulesen. Joffe weitet den Kampf gegen den Islamismus ganz entspannt gegen "die Shortlist der heutigen Ismen" aus: "Islamismus, Tribalismus, Nationalismus, Antikapitalismus, Feminismus, Multikulturalismus" (Die Geschichte ist wieder da, NZZ 2.12.2015)

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Redaktion

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Quelle:
aufbau Nr. 83, Januar/Februar 2016, Seite 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2016

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