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AUFBAU/395: "Schwachstelle im kapitalistischen System"


aufbau Nr. 78, september / oktober 2014
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Schwachstelle im kapitalistischen System"



JAPAN Kein Monat vergeht, ohne dass neue Kriegsfronten eröffnet werden. Auch die japanische Regierung schreitet zu einer militärisch offensiven imperialistischen Macht.


(az) Nach dem Zusammenbruch der revisionistischen Staaten hatten bürgerliche IdeologInnen noch das "Ende der Geschichte" gefeiert. Heute stehen auch diese offenkundig vor dem Ende ebendieser Illusion, es gäbe irgendeine kapitalistische Entwicklung ohne die Tendenz zur Zunahme von Ausbeutung und Krieg. Und so schwingt sich auch der kränkelnde japanische Imperialismus wieder zu einer Militärmacht empor. Während es die Sozialdemokratie und die Grüne waren, welche das deutsche Kapital nach 1945 erst0mals wieder in militärischer Hinsicht emanzipierten, ist es heute eine Koalition von LiberaldemokratInnen und von PazifistInnen, die dem japanischen Imperialismus zur Kriegsmacht verhelfen. Und analog zur deutschen "Verteidigung unserer Interessen am Hindukusch" argumentiert auch der Premierminister Shinzo Abe, es gehe mit seiner im Juli durchgesetzten Verfassungsreform um "kollektive Selbstverteidigung."

Doch Militarisierung und Angriffe auf die Lebensbedingungen geben dem Proletariat auch immer die Chance, den Spiess umzudrehen. Abes Pläne entfachten in Japan eine Protestwelle, welche sich offensiver und grösser als gewohnt zeigte. Mit dabei war die militante EisenbahnerInnen-Gewerkschaft Doro Chiba, von der schon im aufbau 76 ein internationalistischer berliner Eisenbahnerkollege berichtete. Konkrete internationale Solidarität und Vernetzung als Waffe gegen den Imperialismus zu nutzen ist auch unser Anliegen. Zwar bestehen zur Doro Chiba auch ideologische Widersprüche - insbesondere zur Definition und Analyse des Revisionismus -, so finden sich in der Praxis Gemeinsamkeiten. Anders als ähnliche Organisationen orientiert sich deren Praxis am Gedanken des "Danketsu" - der Solidarität und Einheit. Ein Prinzip, das unserem Anspruch nach strömungsübergreifender und vor allem praktischer Solidarität ähnelt und dem Sektierertum Vorschub leistet. So haben auch wir mit einem Genossen der Doro Chiba zur aktuellen Situation gesprochen.


RAS: Am 30. Juni demonstrierten 40.000 Menschen gegen die inzwischen durchgesetzten Reformpläne der Regierung. Um was geht es genau?

DC: Die herrschende Klasse in Japan ist heute wieder bereit Krieg zu führen. Die Regierung hat den neunten Artikel der "pazifistischen" Verfassung "uminterpretiert". Damit verzichtet sie nicht mehr "für alle Zeiten auf den Krieg als souveränes Recht der Nation", sondern ist bereit zur "kollektiven Selbstverteidigung".


RAS: Mit Verlaub, Japan hat die sechstgrösste Streitmacht der Welt und nimmt schon jetzt Teil an Kriegen. Pazifismus tönt anders.

DC: Klar ist der Pazifismus eine Lüge. Schon 1950 hatte Japan dem US-Imperialismus im Korea-Krieg durch Bereitstellung von Logistik geholfen. Damals wurde statt einer regulären Armee die Nationale Polizeireservetruppe aufgebaut. Später wurde diese dann in die jetzige Selbstverteidigungsarmee umgewandelt. Und die japanische Bourgeoisie hat ein imperialistisches Interesse und eine militärische Industrie. Auch in jüngster Zeit unterstützte Japan im Irak- und Afghanistan-Krieg die militärische Infrastruktur vor Ort. Doch heute fällt eine letzte Begrenzung. Japan kann jetzt offiziell Kampfhandlungen im Ausland durchführen. Japan soll ein "normaler Staat werden", der eben fähig ist, Kriege zu führen. Das führt auch zu einer Militarisierung nach innen. Das bisherige Nachkriegssystem wird umgebaut. Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, aber auch die Erziehung und die Schulbücher werden sich nach dem Zweck der Kriegsfähigkeit ausrichten.


RAS: Was meinst du mit Nachkriegssystem?

DC: Die Niederlage Japans führte zu einem imperialistischen Staat ohne Wehrmacht. Man muss sich bewusst sein, dass die USA und die damalige Sowjetunion nach dem Sieg ursprünglich verhindern wollten, dass Japan wieder zu einer Industriemacht wird. Doch zwei Tatsachen intervenierten in diese Nachkriegsstrategie. Zum einen kam es 1947 zu Nachkriegsrevolten der ArbeiterInnenklasse, die alle Erwartungen übertrafen. Über zwei Millionen streikten spontan, militant und durchaus revolutionär. Sie forderten Reis, wollten aber auch die Verantwortlichen des Krieges, also die herrschende Klasse, zur Verantwortung ziehen. Schnell entstanden daraus Gewerkschaften. Die USA mussten dies bremsen, durch die Armee, breitherzige Zugeständnisse bei den ArbeiterInnenrechten und integrative Gewerkschaften. Gleichzeitig verriet die einflussreiche Kommunistische Partei den Kampf und ordnete die Gewerkschaftsführung an, dem Streikverbotsbefehl der US-Besatzungsarmee zu folgen. So wurde ein geplanter Generalstreik sabotiert. Nach der stalinistischen Defnition sollten die USA eine Befreiungsmacht Japans vom Militarismus sein. Zum anderen aber brach auch die chinesische Revolution die Stabilität des Jalta-Systems zwischen der Sowjetunion und den USA. Die USA brauchten einen stärkeren Partner in Asien. So wurde die Industrialisierung und eine Verteidigunsarmee in Japan gebilligt.


RAS: Und heute "emanzipiert" sich der japanische Imperialismus also wieder von den USA?

DC: Ja. Und die USA unterstützen diese Entwicklung nur bedingt. Die Angelegenheit ist delikat. Natürlich brauchen die USA einen militärischen Verbündeten, was unter "kollektive Selbstverteidigung" verstanden wird. Aber die USA sind sich durchaus auch der offensiven Bedeutung der Reform bewusst. Es ist ganz klar, dass Japan damit eine latente Kriegserklärung macht. Wenn die japanische Regierung es für nötig erachtet geht der Krieg los.


RAS: Kommen wir nochmals zurück zur Aktualität. Schon mit dem Fukushima-Desaster wurde ja offenkundig, dass die Regierung sich gegen die Bevölkerung durchzusetzen weiss. Wie ging das in diesem Fall?

DC: Abe hat es tatsächlich erreicht, ein Grundprinzip in der Verfassung hinter verschlossenen Türen zu kippen. Er konnte das Parlament umgehen, indem er behauptet, es handle sich nicht um die Veränderung eines Verfassungsartikels, sondern um eine "Uminterpretation". Er musste also nur sein Kabinett, welches er selber einberufen hatte, auf seine Seite kriegen. Dies geschah in geheimen Verhandlungen. Und in diesem ist neben der LDP nur noch ihr Koalitionspartner Komeito, eine buddhistische Partei, die sich per Selbstdefinition der "Gerechtigkeit" und dem "Frieden" verpflichtet. Für die Bourgeoisie war es das Hauptziel dieser Regierung, diese Partei auf den militaristischen Kurs zu bringen. So wurde chauvinistisch argumentiert, Pazifismus sei unrealistisch, ein Land müsse Krieg führen können. Komeito verteidigte ihre Regierungsbeteiligung noch damit, sie könne so die Tendenz nach rechts einschränken.


RAS: Ha, diese Argument hört man auch in Europa immer noch.

DC: Ja. Es ist natürlich nicht so, dass wir annehmen, dass die ArbeiterInnenklasse im bürgerlichen Parlament eine Stimme hätte. Aber dass die Verfassung ohne Parlamentsbeschluss faktisch geändert wird, gleicht schon einem kleinen Putsch.


RAS: Was sind die konkreten weiteren Schritte, jetzt, wo dieser kleine Putsch gelungen ist?

DC: Wir planen am 17. August eine große Kundgebung in Tokio unter der Parole "Stoppt die Verfassungsänderung, den Krieg, die AKWs und die massenhaften Entlassungen! Nieder mit der Abe-Regierung!". Durch diese Veranstaltung versuchen wir die wütende Stimme in breiten Schichten der japanischen Bevölkerung gegen Abe zusammenbringen. Abe hat uns ein Anlaß gegeben neue Massenproteste zu schaffen.


RAS: Die Parolen sind sehr offensiv. Aber wie steht es um die Stärke des Widerstands? Gibt es noch eine Kontinuität aus den militanten antimilitaristischen Bewegungen der 60er Jahre gegen die AMPO (Japanisch-US-amerikanischer Sicherheitsvertrag)?

DC: Im Vergleich mit der Zeit der AMPO-Kämpfe sind die offiziellen Gewerkschaften unter der systemfreundlichen bürokratischen Führung inzwischen sehr reaktionär geworden und sprechen kein Wort gegen Abe. An der letzten Maikundgebung hat RENGO, die Dachorganisation der japanischen Gewerkschaften, sogar Abe eingeladen. Unter den BasisarbeiterInnen dagegen gibt es eine Bereitschaft, an militanten Protestaktionen teilzunehmen. Sie haben viele Gründe dafür, nicht nur politische, sondern auch ökonomische: Sozialabbau, Lohnkürzung, Prekarisierung usw. Deshalb ist es uns wichtig, kämpferische Gewerkschaften überall in Japan wiederzubauen.


RAS: Eurer Einschätzung nach könnte die massive Prekarisierung, welche die japanische ArbeiterInnenklasse in den letzten Jahrzehnten erlebt hat, also eher zu einem stärkeren Klassenbewusstsein führen. Aber ökonomische Krisen können sich ja auch in stärkeren reaktionären Tendenzen äussern. Ist die Militarisierung Japans nicht eher ein Anzeichen für die Erstarkung der Reaktion?

DC: Sicher gibt es unter jüngeren ArbeiterInnen das Gefühl der Unsicherheit, Resignation und auch der Isolation. Aber gerade wir in der Doro Chiba haben auch viele Beispiele erlebt, bei denen die jüngere Generation der ArbeiterInnen sich aktiviert, wenn die Gelegenheit dazu gegeben ist.


RAS: Ihr schätzt den japanischen Imperialismus als eine Schwachstelle im kapitalistischen System ein. Wie kommt es dazu?

DC: Mit der Praktisierung durch den Neoliberalismus hat der japanische Imperialismus die meisten Arbeitsplätze kaputtgemacht oder verwüstet: Es gibt keine Sicherheit und keine qualifizierte Arbeit mehr, sondern es herrscht überall nur noch Verantwortungslosigkeit. Im Weltmarkt ist Japan jetzt ein Verlierer. Der japanische Imperialismus hat sich selbst ruiniert. Man spricht hier oft von den "verlorenen zwei Jahrzehnten". Wir werden diese Herrschaft umstürzen. Unseren Betrieben wurde hingegen offen mit Entlassung gedroht.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 78, september / oktober 2014, Seite 8
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2014