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AUFBAU/257: Der Mutsucher Sisyfos


aufbau Nr. 60, März/April 2010
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

KULTUR
Der Mutsucher Sisyfos


GESCHICHTE VON UNTEN - Ein vierbändiger Roman erzählt die Geschichte der Linken der BRD zwischen 1968 und 1989: Die Kinder des Sisyfos von Erasmus Schöfer.


(rabs) Der erste Band "Ein Frühling irrer Hoffnung" handelt von der Aufbruchsstimmung der 68er-Generation, die aus der Perspektive des Ehepaars Viktor und Lena Bliss geschildert wird. Viktor und Lena sind schon etwas älter, er promovierter Akademiker, sie Gewandmeisterin am Münchner Theater. Die beiden erleben die Proteste gegen die Notstandsgesetze, die Blockaden der Springerpresse und das Attentat auf Rudi Dutschke. Ihr politisches Engagement ist durchzogen von Ängsten um eine kleinbürgerliche Existenz, verwickelt sie aber letztlich und andauernd in die Auseinandersetzungen der Zeit. Begleitet werden sie von Manfred Anklam, Fordarbeiter und leidenschaftlicher linker Betriebsrat, mit Viktor freundschaftlich verbunden, mit Lena im Sinn der freien Liebe ebenfalls. Protagonist des zweiten Bandes "Zwielicht" ist Armin Kolenda, einst Berg-, dann Sozialarbeiter, dann Journalist. Als solcher schreibt er Reportagen über die Arbeitsbedingungen, die Kämpfe, die Streiks in diversen Betrieben, wägt das Dafür und Dawider von betrieblicher Mit- und Selbstbestimmung ab. Kolenda lebt und schreibt mit und über die sozialen Konflikte und Bewegungen, die das Romanbild der 70er Jahre prägen. Als Mitglied des "Werkkreises Literatur der Arbeitswelt" gibt er zudem einen Einblick in die Auseinandersetzungen desselben, der den Anspruch hat, in kollektiven Prozessen aufgeklärte und unterhaltsame Literatur zu produzieren (vgl. aufbau 58). Im dritten Teil "Sonnenflucht" wird der Blick nach Griechenland gewendet, wohin Viktor Bliss sich müde und perspektivlos zurückgezogen hat. Er gerät in die Trauerfeierlichkeiten um eine ermordete griechische Kommunistin und erlebt den grossen Wendepunkt seines Lebens: Viktor rennt in ein brennendes Haus, will Menschen retten, verbrennt stattdessen aber selbst zur Unkenntlichkeit. Eingebettet ist dies in die Geschichte der griechischen Linken, erzählt anhand der Lyrik des griechischen Dichters und Kommunisten Jannis Ritsos. In Band vier "Winterdämmerung" treten die ProtagonistInnen mit den für die 80er Jahre typischen Themen auf: Besetzungen und Demonstrationen gegen Atomkraftwerke, die westdeutsche Friedens- und Ökobewegung, stillgelegte Stahlwerke und sich dagegen aufbäumende, von den Gewerkschaften verkaufte Arbeiter, Ehefrauen und Freundinnen als "rebellische Frauen von Rheinhausen", der Besuch einer Kommune durch Ann und ihren Grossvater Viktor Bliss. Schliesslich die Silvesternacht nach dem Mauerfall, wo am Hochofen des stillgelegten Duisburger Stahlwerks ein letztes Mal die rote Fahne im Wind weht.


Soziale Bewegungen festhalten

Über seine Hauptfiguren Viktor Bliss, Manfred Anklam und Armin Kolenda vermittelt "Kinder des Sisyfos" Wissen über und Erfahrungen mit sozialen Kämpfen. Politische Argumentationen werden durchgegangen, jedoch ohne die ProtagonistInnen darauf festzunageln, Geschichte von unten überzeugt in einer eingängigen, originellen Sprache. An der sozialen Herkunft der Hauptfiguren spiegelt sich ausserdem die für die Zeit relevante Frage nach dem Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen, nachdem die sozialistische und kommunistische Arbeiterbewegung im Faschismus liquidiert worden war. Der klassenbewusste Arbeiter Manfred Anklam bleibt eine Ausnahmeerscheinung unter sozialpartnerschaftlich eingeknickten Kollegen, die sich noch steigert durch sein überdurchschnittliches Interesse an Literatur, u.a. der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss. Welche Art von Opposition ist nun aber "richtig", wenn linke Wissenschaftler, Theaterleute und StudentInnen die linken Betriebsräte und GewerkschafterInnen an Quantität zu übertreffen drohen? Was tun, wenn beim intellektuellen Zugang manchmal die "Parteilichkeit in die Binsen" zu gehen droht, weil: "Wer alles versteht, kämpft nicht mehr". Es sind Klassenkämpfe, die erzählt werden, aber in der Form der 60er, 70er und 80er Jahre: als Sozialreportagen, als Bürger- und Stadtteilinitiativen, als Kampf gegen Rüstung und für mehr Demokratie. Lediglich die Repression ist die immer gleiche: Viktor kämpft jahrelang gegen sein Berufsverbot, Lena verliert die Stelle am Theater, Armin büsst seine Weigerung, Jugendlichen das Haschrauchen zu verbieten, Manfred ist im Betriebsrat ständigen Intrigen ausgesetzt und verliert zwischenzeitlich seinen Posten.


Versuche von veränderten Beziehungen

Sisyphos' Kinder sind politische Menschen, die über ihre Wünsche, Träume, Hoffnungen, Enttäuschungen und Ängste eng mit dem Zeitgeschehen verbunden sind. Ihre Lebendigkeit rührt von eigenständigen Geschichten und von der Gemeinsamkeit, die Politisches und Privates zwar widersprüchlich, aber selbstverständlich haben. Lena und Viktor scheitern an der (freien) Liebe, die Beziehungen insgesamt sind davon geprägt, dass ausprobiert wird und dies verletzliche und nicht selten verletzte Menschen betrifft. In solchen Episoden über Liebe und Begehren gelingt es Schöfer sprachgewandt, die vielen unpassenden Wörter über Sexualität zu vermeiden, die Herrschaftsverhältnisse leider auch auf der Ebene der Sprache erzeugen. Er schreibt feinfühlig über Sex - ohne Kitsch oder Peinlichkeit, der Dimension gerecht werdend, die das Ringen um unterschiedliche Bedürfnisse und deren Befriedigung beinhaltet. Intensive Liebesgeschichten hinterlassen ihren Eindruck bis ins Schriftbild, das über Seiten jagt, ohne Punkt und Komma, um das auszudrücken, was als Sache des Gefühls und daher unbeschreibbar gilt. Gemäss der Anlage der Hauptfiguren findet die Beschreibung von Lust jedoch fast gänzlich aus Männerperspektive statt, was genauso deutlich zu bemerken ist wie die Haltung des Erzählers, die eine männliche ist. An manchen Stellen führt dies wohl zumindest bei Leserinnen zu kritischem Aufmerken.


Berge besteigen

Der Titel Kinder des Sisyfos und die den Romanen vorangestellten Gedichte verweisen auf ein mythologisches Motiv, das den Kämpfen für eine gerechte Gesellschaft zugrunde gelegt ist: Der von den Göttern bestrafte Held, der den immer wieder herunter donnernden Felsblock einen Hang hinaufzurollen hat; eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Im ersten Band heissen die letzten Verse des Eingangsgedichtes allerdings "Bleibt der Brocken wieder nicht oben / schleifen wir diesmal den Berg". Sisyphos ist nicht der Bestrafte, sondern derjenige, der sich am Berg abarbeitet, sich freut, wenn seine Last nach unten rollt und der dann stolpernd weiter wandert. Seine Kinder erleben auf ihren Wanderungen ekstatische Aufschwünge und Erfolge in Etappen, sie werden aber auch beschädigt und verletzt: Viktor lernen wir in einem vorangestellten "Brief aus der Zukunft" im ersten Band als versehrten, verbrannten Mann kennen - übereinstimmend mit der Zeit um 1989, "in der das kapital gesiegt, die sozialisten verloren haben". Die Generationenkette, die für Linke wie Viktor nur über viele Umwege familiär verläuft, ist dadurch aber nicht abgerissen; wo Ungerechtigkeit ist, wehren sich auch nach 89 die Menschen. So lässt die Empörung in Anns Augen Viktor und uns LeserInnen erahnen, warum ein an den Verhältnissen aufgeriebenes Leben trotz Rückschlägen richtig ist. Wenn Sisyphos im letzten Band Abschied nimmt, "zum glühenden Krater / in seine Befreiung" steigt, geht die Geschichte weiter: Die Söhne sind jetzt "ratlos", zurück bleibt die Tochter, "lächelt / zeigt in die blauende Nacht". Sie weiss, dass Utopisten eigentlich widerlegt sind, wagt die Arbeit am Berg gleichwohl.

Die Arbeit der Tochter ist die unsere, die sich in Einigem durchaus von jener der in den Romanen geschilderten Generation unterscheidet, in Anderem weniger. Der Romanzyklus eignet sich in jedem Fall aber sehr gut zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte sowie mit linker Politik und Politisierung, wobei die Bände auch einzeln gelesen werden können.


Erasmus Schäfer:
Die Kinder des Sisyfos, Dittrich Verlag
Ein Frühling irrer Hoffnung, Bd. 1 (ISBN 978-3-920862-68-2)
Zwielicht Bd. 2 (ISBN 3-920862 58-9)
Sonnenflucht, Bd. 3 (ISBN 3-9937717-16-1)
Winterdämmerung, Bd. 4
(ISBN 978-3-937717-27-2)


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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafb), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkb), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Arbeitsgruppe Winterthur (agw), Rote Hilfe - AG Anti-Rep (rh-ar), Kulturredaktion (kur)


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Quelle:
aufbau Nr. 60, März/April 2010, S. 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, Postfach 348, 4007 Basel
Revolutionärer Aufbau Bern, Postfach 87, 3174 Thörishaus
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.ch
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich, Fax 0041-(0)44/240 17 96
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2010