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AUFBAU/230: "Es kann nicht jeder Abteilungsleiter werden"


aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Es kann nicht jeder Abteilungsleiter werden"

DETAILHANDEL - Immer mehr Jugendliche werden sich ohne Lehrabschluss auf dem Arbeitsmarkt herumschlagen müssen. Für die AusbeuterInnen des Detailhandelskapitals ideal. Wir haben mit Julia (22) über die Erfahrungen im Detailhandel gesprochen.


FRAGE: Welche Ausbildung hast Du?

JULIA: Keine, genau gesagt habe ich eine Lehre bei einer grossen Möbelhaus-Kette angefangen, aber es ging nicht, ich bin fast durchgedreht. Ich habe dann in den Lebensmittel-Detailhandel gewechselt, aber das Geschäft ging Konkurs. Ich fand später keinen Anschluss und habe ein Jahr Handelsschule gemacht. Ich habe aber keine Lehrabschlussprüfung.

FRAGE: Warum bist Du nicht beim Möbelhaus geblieben?

JULIA: Die Bedingungen waren ganz schlecht. Am Tag als ich ging, kam auch die Gewerkschaft - ich bin nicht sicher, ob es die UNIA war - und der Laden wurde für ein paar Tage geschlossen. Der Laden hielt sich weder an Arbeits-, noch an Pausen- oder Ferienzeiten. Ich weiss, dass schon ein paar Monate bevor ich kündigte, die Gewerkschaft mit der Geschäftsleitung gesprochen und sie mehrmals gewarnt hatte, dass sie den Laden dicht machen würden.

FRAGE: Du arbeitetest später in einer deutschen Baumarkt-Kette, welche in die Schweiz expandiert ist, war es da besser?

JULIA: Am Anfang ja, tatsächlich. Sie sagten mir, dass sie mich in meiner Aus- und Weiterbildung unterstützen und dass sie mir sogar Aufstiegsmöglichkeiten zur Abteilungsleiterin bieten würden. Dann aber, als ich wirklich das zweite Jahr der Handelsschule antreten wollte, sagten sie mir, dass es schwierig sei, da es zu wenig Leute im Geschäft gibt. Ich habe also auf meine Schule verzichtet, damit ich weiter 100% arbeiten konnte. Ich habe dann erfahren, dass sie allen am Anfang vieles versprachen. Logisch, es können doch nicht alle Abteilungsleiter werden!

FRAGE: Du warst an der Kasse. Wie ist das so?

JULIA: Die Arbeit an der Kasse an sich ist gut, aber das Kassenbüro ist eine Katastrophe. Der ganze Laden ist erst seit kurzem eröffnet und es ist ein Chaos und so schaffte es meine überforderte Chefin, die gleich alt ist, wie ich (22), nicht mal, uns jeden zweiten Monat einen Samstag frei zu geben, was eigentlich im Vorstellungsgespräch abgemacht wurde. Die unklare Organisation kommt auf unsere Stimmung zurück. Als ich mal eine Blasenentzündung hatte und viel aufs WC musste, haben alle hinter meinem Rücken und auch vor mir schlecht geredet. "Sie geht wieder aufs WC, sie geht sicher rauchen, sie geht sicher mit anderen schwatzen".

FRAGE: Und sonst die Arbeitsbedingungen?

JULIA: Ein Beispiel: Bevor die Filiale in Zürich aufging, haben wir viel in einer anderen Stadt beim Aufbau einer Filiale gearbeitet. Da hätten wir 43 Stunden pro Woche arbeiten sollen. Wir arbeiteten aber weniger. Sie sagten uns, dass wir dann an der Eröffnung in Zürich viel nachholen werden. So weit so gut. Aber ich sah, dass ich immer mehr Minus-Stunden hatte. Dann, vor der Eröffnung in Zürich gingen gewisse Geräte nicht. Also schickten sie uns nach Hause bis diese wieder funktionierten. Stell dir vor, noch mehr Minus-Stunden. Am Schluss waren es 80! Schliesslich konnten sie mich dann einsetzen wie sie wollten. Ich musste sie am Abend nachholen, wenn sie meinten, sie bräuchten mich noch 2-3 Stunden! Ohne es mir im Voraus anzumelden!

FRAGE: War hier die Gewerkschaft nie involviert?

JULIA: Doch. Gewisse Personen arbeiteten bis zu 12 Stunden pro Tag! Das haben die UNIA-Leute verboten und geschaut, dass die Arbeiterinnen nach 9 Stunden nach Hause geschickt wurden. Aber auch die Sicherheit wurde nicht gewährleistet. Wir hatten mehrere Unfälle. Wir arbeiteten mit T-Shirt und in Turnschuhen. Bei gewissen Arbeiten hätten wir Sicherheitsschuhe und einen Helm anziehen müssen, aber wir wussten es nicht, und sowieso müssten wir sie selber kaufen... Und auch die Luft im Geschäft war so komisch: Wir hatten Kopfschmerzen und Nasenbluten, aber niemand hat da die Gewerkschaft informiert. Niemand wollte die Stelle verlieren.

FRAGE: Wegen den Pausenzeiten, muss jeder und jede selber für sich schauen oder habt ihr zusammen etwas durchsetzen können?

JULIA: Am Anfang probierte ich in den Team-Sitzungen dieses Thema zu bringen. Obwohl alle betroffen waren, hat kein Mensch etwas gesagt. Aber alle hatten einfach Angst. Die Team-Sitzungen waren mehr für die Geschäftsleitung als für uns. Deshalb regelte jede selber ihre Pause. Am Besten hatten es die, die klipp und klar sagten: "Ich gehe jetzt in die Pause" oder "Es ist 5 Uhr, ich gehe" und nicht fragten, ob sie in die Pause oder nach Hause dürfen. Man kam mit grosser Selbstsicherheit besser weg. Aber manchmal kamen sie um vier Uhr und sagten, ich müsse bis sieben Uhr bleiben, ich hätte sowieso Minus-Stunden. Etwas nach der Arbeit abmachen ist so sehr schwierig geworden. So zu leben ist anstrengend. Ich bin immer wieder krank geworden, das war die Folge.

FRAGE: Und dann hast du doch die Kündigung bekommen.

JULIA: Ja, weil ich an einem Tag nicht kam und als Grund meiner Absenz eine Notlüge brachte, die sie herausgefunden haben. Kündigung wegen Vertrauensmissbrauchs. Aber ich weiss, dass sie immer im Januar, wenn die Saison des Baus fertig ist, Leute freistellen. Im Dezember haben sie uns eröffnet, dass die zentrale Geschäftsleitung unsere Umsatzvorgaben für das nächste Jahr runterschrauben. Unser Chef hat uns das als "Entlastung" verkauft, wir hätten jetzt ja nicht mehr so viel Druck. Ich habe da schon gedacht, dass das eine Verarschung ist und dann sicher noch Entlassungen folgen. Und so war es auch. Im Ganzen wurden am folgenden Januar 10 Personen freigestellt. Einen Grund findet man immer, und bei mir hätte es früher schon bessere Gründe gehabt, mich zu entlassen.

Den Aufhebungsvertrag wollte ich nicht unterschreiben, es war lächerlich. Eine Freistellung stelle ich mir vor, wenn man klaut, aber nicht wegen meiner kleinen Notlüge. Vier Leute der Geschäftsleitung waren da um mir Ciao zu sagen. Sie haben so lange auf mich eingeredet, bis ich dann doch unterschrieben habe. Meine Arbeit sonst wurde aber gelobt und so weiter. Dann hat mich ein Security-Typ überallhin verfolgt, auch in die Umziehkabine. Erst mit Hilfe einer Kollegin konnten wir ihn da rausschicken, damit ich mich umziehen konnte. Anderen Kolleginnen Tschüss sagen konnte ich gar nicht mehr.

FRAGE: Was hast Du nachher gemacht?

JULIA: Zuerst mal Ferien. Dann habe ich bei einem Billig-Discounter angefangen, auch eine Eröffnung. Und auch wieder eine internationale Kette.


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Redaktion

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Quelle:
aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009, Seite 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009