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AUFBAU/227: Die selektive Wahrnehmung der Sieger


aufbau Nr. 58, September/Oktober 2009
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die selektive Wahrnehmung der Sieger

GESCHICHTSSCHREIBUNG - Kommunistinnen und Sozialistinnen sollten sich um einen anderen Blickwinkel auf die DDR bemühen, als es von der BRD-Siegergeschichte verordnet wird. Dafür bietet sich zuvorderst die ideologische Abwicklung der DDR an und als Positivbeispiel ihre Sozialpolitik.


(rabs) Dass Erinnerungspolitik ein hochgradig ideologisch untermauertes Kampffeld ist, bezeugt seit 20 Jahren die deutsche Geschichtsschreibung - deklariert als "DDR-Aufarbeitung". Jährlich mit Millionenbeträgen staatlich befeuert, verbreiten konservative Zeithistoriker ihre These der Gleichsetzung von Rot und Braun. Die traditionelle Totalitarismustheorie, die Nationalsozialismus und Sozialismus gleichstellt, kommt in geringfügig veränderter Form wieder: Als "vergleichende Diktaturforschung", die auf dem rechten Auge eine Scheuklappe und auf dem linken eine Vergrösserungslinse trägt. Die Botschaft, die jahraus, jahrein heraustrompetet wurde, besagt zusammengefasst, dass die Sicht auf "kommunistische Herrschaft" von der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit überschattet werde, wobei die DDR als "zweite deutsche Diktatur" und als "das Böse" schlechthin mindestens so aufgearbeitet werden müsse. Würde diese These hingegen ernst genommen, dürften die 3000 Angestellten der Gauck-Behörde [1] ihre Arbeit gar nicht erst aufgenommen haben. Die Zentralstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg hatte in ihrer besten Zeit jedenfalls mit wenigen Dutzend Angestellten auszukommen. Demgemäss fällt die Aburteilung der DDR bei weitem entschiedener aus, als es für das zwischen 1933 und 1945 begangene Unrecht gilt; was bereits 2003 auf einer Tagung der politisch unverdächtigen Friedrich-Ebert-Stiftung festgestellt worden ist. Für die beliebig verlängerbare Liste erstaunlich unterschiedlicher Bewertungen sei beispielhaft erwähnt: Die DDR-Justiz wurde nach 1990 weitgehend ausgetauscht, wohingegen nach 1945 in der Westzone NS-Juristen Recht sprachen, die für tausende Todesurteile verantwortlich waren. Vergeblich sucht man auch das Wort vom "Unrechtsstaat" oder eine Entsprechung in Bezug auf den NS-Staat mit seinen Millionen Toten, den Konzentrationslagern und Vernichtungsprogrammen für Juden und Jüdinnen und andere "Untermenschen". Lieber gibt sich die BRD ihre Ladung Siegergeschichte. Vielleicht lassen sich die Arbeitslosen, die Hartz-IV-Verarmten und Gehetzten damit zufriedenstellen, dass sie immerhin auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. (Nebenbei - als wäre der Sozialismus nicht gerade die Grundlage des ehemaligen BRD-Sozialstaates gewesen, der sich ohne Systemkonkurrenz bekanntlich moral- und gewissenlos demontieren liess).


Sozialstaat DDR

Der offizielle Tunnelblick auf die Repressalien der DDR-Obrigkeit, insbesondere der Stasi, soll hier nicht weiter kommentiert werden. Für eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Scheitern der SED-Führung und ihrer politischen Repressionen kann glücklicherweise auf genügend linke Beiträge verwiesen werden, die die historische Konstellation - Besatzungssituation durch die Anti-Hitler-Koalition, Kalter Krieg etc. - einbeziehen [2]. Diese haben die Defizite der DDR - wie den Mangel an Demokratie oder die ökonomischen Einschränkungen - herausgearbeitet, ohne die fortschrittlichen Elemente der DDR-Gesellschaft aus dem Auge zu verlieren. Es sind dies Elemente, die angesichts ungehemmten kapitalistischen Elends im Osten Deutschlands zunehmend vermisst werden und in der Tat im Gegensatz zum offiziellen DDR-Bild stehen. So war die DDR eine Gesellschaft, in der Schlüsselindustrien sozialisiert, der Grossgrundbesitz aufgelöst und die Banken enteignet waren. Für das alltägliche Leben war eine stark ausgebaute Sozialpolitik kennzeichnend. Dieser galt der Sozialstaat nicht als Sicherungssystem für soziale Notlagen, sondern als umfassender Versuch, soziale Gerechtigkeit, Sicherheit und Gleichheit durchzusetzen. Soziale Rechte waren konkret in der Verfassung benannt, angefangen beim Recht auf Arbeit, das die Grundlage weitgehender Vollbeschäftigung war. Damit eng verbunden ist die Gleichberechtigung von Frauen zu sehen, galt die Vollbeschäftigung doch nicht nur für Männer. Das Kinderbetreuungssystem der DDR machte die hohe Erwerbsquote möglich: 1988 betrug der Frauenanteil aller Beschäftigten 48,9 %, der Betreuungsgrad in Kinderkrippen 79, 9%. Die Betriebe waren für die sozialen Belange der Belegschaften zuständig -einschliesslich der Integration von Straffälligen, Suchtkranken, Behinderten u.a. Das bürgerliche Bildungsmonopol wurde gebrochen und ermöglichte Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien einen bevorzugten Zugang zu weiterführenden Schulen, wo sie von Beginn an in einem bei weitem deutlicher entnazifizierten Umfeld als im Westen unterrichtet wurden. An den Universitäten wurden "Gesellschaftswissenschaftliche Fakultäten" und "Arbeiter- und Bauernfakultäten" eingerichtet, wo das Studium ohne Abitur möglich war. Weitere Kernpunkte der DDR-Sozialpolitik waren eine weitgehend kostenlose Gesundheitsvorsorge sowie eine Versorgung der Bevölkerung mit Wohnungen zu äusserst geringen Mieten (0,80- 1,20 Mark der DDR/qm).


Blick nach vorn

Dass dieser Sozialstaat kostete, wurde von seinen Liquidierern gerne u.a. als Begründung für das Ende der DDR gebraucht. Es ist dies ein Argument, das sich ausserdem auch nutzen liess, um dem westlichen Proletariat Begehrlichkeiten auszutreiben: Als mahnendes Beispiel für den Schaden, der jenen widerfährt, die über ihre Verhältnisse leben und die es sich erlauben, das Bürgertum in Sachen "Moral für die Unterschicht" von jeglicher Erziehungsaufgabe zu dispensieren. Solcher und ähnlicher Argumentation ist heute entgegenzuhalten, dass der Zusammenbruch der DDR glücklicherweise aber nicht zuletzt auch zeigt, dass gesellschaftliche Strukturen nicht in Blei gegossen sind - auch im Hinblick auf die Zukunft nicht. Dafür lohnt es sich, nicht zu vergessen, wie im "Unrechtsstaat DDR" einst dem die Nazis unterstützenden Grosskapital der Boden unter den Füssen weggezogen worden war.


Anmerkungen

[1] Die Gauck- oder Birthlerbehörde untersucht die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (auch "Bundesbauftragte für Stasi-Unterlagen").

[2] So beschäftigt sich etwa Heft 3 (2009) der Marxistischen Blätter mit der DDR und bemüht sich um einen Blick, der nicht verklärt, sondern Positives und Negatives gleichermassen beleuchtet.


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Redaktion

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2009