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ANALYSE & KRITIK/489: Fukushima - Den Diskurs der Verharmlosung stören


ak - analyse & kritik - Nr. 570 - 16.03.2012
zeitung für linke Debatte und Praxis

Den Diskurs der Verharmlosung stören
Ein Jahr nach Fukushima ist der AKW-Widerstand in Japan mit den Problemen des Alltags konfrontiert

Interview von Ingo Stützle



Vor einem Jahr ereignete sich im AKW Fukushima ein Super-GAU. Mit den Folgen der Reaktorkatastrophe wird Japan noch lange leben müssen. (siehe Kasten) Mit Soichiro Sumida vom Say-Peace-Project (NOP) sprach ak über die Probleme und Erfahrungen der Anti-AKW-Bewegung in Japan.


Ingo Stützle: Was hat sich im letzten Jahr verändert?

Soichiro Sumida: Der Mythos, dass AKWs sicher sind, ist geplatzt. Ein anderer Mythos lebt jedoch weiter, nämlich, dass leichte Strahlungsbelastung harmlos sei. Dieser wird im Fernsehen und in den Printmedien weiterhin durch die Regierung und der Atomindustrie nahestehende Wissenschaftler verbreitet.

Es zeigt sich aber noch etwas anderes: Zu Japans Selbstverständnis gehört auch, dass es das einzige Land ist, das durch Atombomben radioaktiv verstrahlt wurde. Gleichzeitig förderte der Staat nach dem Zweiten Weltkrieg im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts aktiv die Atomkraft. Nach dem GAU in Fukushima wurde deutlich, dass das nach dem Krieg propagierte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie es die Menschenrechte vorsehen, kaum normative Kraft besitzt. Das wird heute offensichtlich, wenn Menschen ohne ausreichend staatliche Hilfe dem Risiko tödlicher Strahlung ausgesetzt werden.

Ingo Stützle: Dagegen kämpft eure Organisation?

Soichiro Sumida: Die Situation in Fukushima unterscheidet sich von Tschernobyl dadurch, dass es kein Recht auf Zuflucht und Schutz vor radioaktiver Strahlung gibt. Es existiert nicht einmal die minimalste Hilfe für Umzug, neuen Wohnraum oder Lebensunterhalt. Weiterhin leben viele Menschen in den hochverstrahlten Regionen.

Deshalb wollen viele aus diesen Regionen flüchten, können es sich aber aus finanziellen Gründen nicht leisten. Wir kämpfen gegen die mangelhafte staatliche Hilfe, um so ein Recht auf Zuflucht für möglichst viele Menschen durchzusetzen.

In Tokio, wo wir hauptsächlich tätig sind, wohnen ungefähr 8.000 Flüchtlinge. Tokio liegt damit an zweiter Stelle gleich nach der Präfektur Yamagata. Wir bieten Hilfe für ein neues Leben in Tokio. Wir vermitteln und informieren über angebotene soziale Leistungen der Lokalregierungen, wie etwa Sozialwohnungen.

Letztes Jahren haben wir mit unserem Say-Peace-Project (NOP) zudem Veranstaltungen und Vorträge zum Schutz von Kindern vor radioaktiver Strahlung organisiert und über die sogenannte interne Strahlung aufgeklärt, die sich im Körper anreichert und über Nahrungsmittel, Wasser oder Luft aufgenommen wird. Vor allem in Fukushima. Inzwischen warnt selbst die Weltgesundheitsorganisation davor. In Japan wird dieses Problem nach wie vor verharmlost.

Ingo Stützle: War das letztes Jahr »erfolgreich« für euch?

Soichiro Sumida: Das ist schwierig zu sagen. Es gibt noch zu viele Herausforderungen. Vor allem engagieren sich bisher zu wenig Jüngere gegen die atomare Gefahr. Zwar kommen auf Sounddemos, eine relativ neue und inzwischen anerkannte Form der Demonstration, auf der viel laute Musik gespielt und Krach gemacht wird, auch Jüngere und Eltern mit Kindern. Aber nach Tschernobyl wuchs die japanische Anti-Atom-Bewegung viel stärker an. Damals spielte etwa der Chemiker Jinsaburo Takagi und Begründer des Citizens' Nuclear Information Centers (CNIC) eine große Rolle. Das CNIC war nach Fukushima eine der wichtigsten zivilgesellschaftlicher Institutionen mit vertrauenswürdigen Informationen über die Folgen des GAUs und zentrale Anlaufstelle für die Anti-AKW-Bewegung. Eine nach seinem Tod gegründete und nach Takagi benannte Schule brachte viele Aktivisten und Aktivistinnen hervor, die in den letzten Monaten unabhängig von der Regierung und Unternehmen kritisch über Nuklearenergie informieren und aufklären.

Ingo Stützle: Traditionell ist eure Organisation eher gegen die militärische Nutzung der Atomkraft, oder?

Soichiro Sumida: Ja, die NPO hat sich in der Vergangenheit hauptsächlich mit dem Nuklearproblem aus einer friedenspolitischen Perspektive beschäftigt. Für die Zukunft erwarten wir eine verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Initiativen, Nichtregierungsorganisationen und Politikern auf lokaler Ebene. Wir hoffen damit auch neben der Unterstützung der Flüchtlinge, eine Basis für eine neue Friedensbewegung in den Gemeinden legen zu können.

Ingo Stützle: Takaaki Masuno hat letztes Jahr in ak 560 die Hoffnung formuliert, dass sich die Anti-AKW-Bewegung in Japan vernetzt und ihren lokalen Charakter überwindet. Ist das gelungen?

Soichiro Sumida: Nein. Zwar kann man auf Demos beobachten, dass neue und auch bürgerliche Schichten gegen AKWs mobilisiert sind, besonders Eltern mit Kindern wurden aktiv. Aber die Regierung und die japanische Atomkraftlobby sind nach wie vor mächtig und sind gerade dabei, sich neu aufzustellen. Unter anderem mithilfe der Dekontaminationskampagne, um die Strahlungsbelastung in den betroffenen Gebieten zu senken. Diese nährt den Mythos, dass die interne Strahlung ungefährlich sei.

Ferner sind AKW-Gegner derzeit sehr stark mit den verschiedensten konkreten und dringenden Aufgaben ausgelastet: Flucht aus den verstrahlten Gebieten und unbelastete Nahrungsmittel organisieren, Neustarts von AKWs verhindern etc. Viele sind mit diesen und ähnlichen Problemen derart beschäftigt, dass kaum Zeit ist, eine gemeinsame und landesweite Bewegung aufzubauen.

Ingo Stützle: Was bedeutet der Versuch der Regierung, die TEPCO-Führung abzusetzen?

Soichiro Sumida: Die Regierung versucht gerade, eine Verstaatlichung durch die Absetzung der TEPCO-Funktionäre durchzuführen. Sie drängt TEPCO auch, die Bewohner von Fukushima schnell zu entschädigen. Dazu ist jedoch zu sagen, dass die Regierung damit nur versucht, die still gestellten AKWs in den kommenden Monaten wieder hochzufahren. Keidanren, der wichtigste japanische Unternehmensverband, und Denryokusoren, die Einzelgewerkschaft in der Stromversorgungsindustrie, unterstützen dieses Vorhaben. Die Regierung schließt eine Diskussion über die Abschaltung von AKWs zwar nicht aus, aber ich denke, dass die japanische Gesellschaft noch nicht für eine endgültige Abschaltung aller AKWs zu haben ist. Dafür bedarf es einer neuen Arbeiterbewegung und einer breiteren Anti-AKW-Bewegung.

Ingo Stützle: So banal es klingt: Könnte der Sommer zeigen, wie weit das Bewusstsein hinsichtlich der Atomkraft ist? Im Sommer werden wieder die vielen Klimaanlagen angestellt und viel Strom verbraucht.

Soichiro Sumida: Ja, und ich vermute, dass die Propaganda für Atomstrom diesen Sommer sogar penetranter als letztes Jahr wird. Obwohl genügend Strom produziert wird und wir nach wie vor viele Erdbeben haben, herrscht eine unkritische Grundhaltung gegenüber AKWs vor. Das bedeutet nichts Gutes.

Wenn die Regierung diesen Sommer wirklich versucht, die AKWs wieder ans Netz zu bringen, dann müssen sich die verschiedenen Anti-AKW-Bewegungen zusammentun. Bisher beschäftigen sich viele eher isoliert mit punktuellen und lokalen Problemen. Auf lokaler Ebene ist zu beobachten, dass die traditionelle linke Anti-AKW-Bewegung und die neue Bewegung für den Schutz vor Verstrahlung sich gegenseitig inspirieren. Deswegen bin ich optimistisch, dass im Lauf der Zeit die neueren Bewegungen sich auch mit den strukturellen Problemen der Gesellschaft auseinandersetzen.

Ingo Stützle: Wie ist deine Einschätzung zum »heimlichen Atomausstieg«? Bisher wurde kein AKW wieder hochgefahren.

Soichiro Sumida: Vor dem 11. März 2011 produzierten 54 AKWs Strom. Weltweit lag Japan damit auf dem dritten Platz, gleich nach den USA und Frankreich. Heute sind nur noch ein paar in Betrieb, aber viele sollen ab Mai 2012 wieder ans Netz. Der Mythos, dass Atomstrom notwendig ist, hat an Strahlkraft verloren. Es wird jedoch die Mär verbreitet, dass die vermehrten Kosten bei Kohlekraftwerken den Stromversorgungsfirmen ein großes Defizit bescheren und dass deshalb Strom gespart werden müsste. Leider schwindet auch das Problembewusstsein für die Strahlengefahr ein Jahr nach dem GAU in Fukushima.

Es gibt noch viele Schwierigkeiten zu bewältigen, bevor ein wirklicher Ausstieg aus der Atomkraft durchgesetzt ist. Deshalb ist es eine große Herausforderung für die sozialen Bewegung, aus den bereits erwähnten Initiativen zu einzelnen Problemen eine breite, gesellschaftliche Gegenmacht zu formieren.

Ingo Stützle: Was sind deiner Ansicht nach die größten Schwierigkeiten für die Anti-AKW-Bewegung?

Soichiro Sumida: Die größte Aufgabe für Aktivisten ist, eine breite Bewegung für den endgültigen Ausstieg aus der Nuklearenergie zu organisieren. Des Weiteren müssen wir gegen die Sicherheits- und Dekontaminationskampagne der Regierung und interessegeleiteter Wissenschaftler vorgehen. Besonders in Fukushima wurden solche Wissenschaftler und Experten in einen Risikorat berufen und sie haben dort mit großen Konzernen ein »Öko-Business« gestartet. Diese Dekontaminationskampagne propagiert einen scheinbaren Schutz vor radioaktiver Verstrahlung und einen problemlosen Wiederaufbau. Diesen Diskurs müssen wir stören und ihm unsere Informationen entgegensetzen.

Übersetzung: Kohei Saito

Soichiro Sumida ist Aktivist beim Say-Peace-Project (NOP). Ursprünglich engagierte es sich gegen Atomwaffen und nach Fukushima für den Schutz vor radioaktiver Strahlung. Sumida ist zudem Dozent an der Takagi-Gakko-Schule, die vor allem über die Gefahren der Atomkraft aufklärt.
www.saypeace.org


Kasten: Der Super-GAU in Fukushima Dai-ichi

Am 11. März 2011 und den darauffolgenden Tagen kam es im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi nach einem Erdbeben zu einer Nuklearkatastrophe mit massiven Freisetzungen von Radioaktivität. In Japan deckten bis zu diesem Super-GAU 54 Atommeiler ein Drittel des Strombedarfs. Die Regierung plante sogar, bis 2030 mehr als 50 Prozent des Strombedarfs mit AKWs zu decken. Diese Pläne aus dem Jahr 2010 sind inzwischen vom Tisch. Laut einem Weißbuch vom Herbst 2011 will die Regierung die Abhängigkeit von Atomstrom mittel- und langfristig »so weit wie möglich« reduzieren. Mittlerweile sind nur noch zwei Kraftwerke in Betrieb. Grund ist, dass der Großteil der Meiler nach der Wartung, die alle 13 Monate stattfindet, nicht mehr hochgefahren wurde.

Weltweit sieht das ganz anders aus. 2012 werden in fünf Ländern neue AKWs ans Netz gehen: in Vietnam, Bangladesch, den Vereinigten Arabischen Emiraten, der Türkei und Weißrussland. Jordanien und Saudi-Arabien könnten 2013 folgen. 2011 haben laut Internationaler Atomenergiebehörde 60 Länder Interesse angemeldet, ihre Atomprogramme auszubauen.

Auch in Japan sollen 2012 wieder AKWs ans Netz gehen. Etwa zwölf AKWs haben die erste Stufe eines staatlich verordneten Stresstests bestanden. Die Ergebnisse liegen bei der japanischen Atomaufsicht NISA, die bereits ihre Zustimmung dafür gab, zwei Reaktoren wieder hochzufahren. Bisher haben vor allem lokale Proteste jeden Neustart eines AKWs verhindert. Eine offene Konfrontation will die Atomindustrie bisher nicht eingehen.

Die Folgen des Super-GAUs in Fukushima sind desaströs. In einer Studie des französischen Strahlenschutzamts IRSN heißt es, dass die radioaktive Verseuchung in Fukushima »dauerhaft und langjährig« sei. Im AKW Fukushima Dai-ichi ist die Lage nach wie vor unübersichtlich. Was in den Reaktoren Eins, Zwei und Drei passiert, weiß TEPCO bis heute nicht. Insgesamt sind dort seit Monaten etwa 3.000 Menschen damit beschäftigt, die Folgen der Katastrophe in den Griff zu bekommen. Die geplante Stilllegung wird noch 40 Jahre dauern.

Studie der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW:
www.fukushima-disaster.de

Studie von Greenpeace:
www.greenpeace.de/themen/atomkraft/publikationen

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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 570, 16.03.2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2012