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ANALYSE & KRITIK/485: Lernen, die Energie zu kanalisieren


ak - analyse & kritik - Nr. 568 - 20.01.2012
zeitung für linke Debatte und Praxis

Lernen, die Energie zu kanalisieren
Die neuen Proteste in den USA haben ihr Gleichgewicht noch nicht gefunden

Von Matthew Lawrence Kearney


Es war die größte Protestbewegung mit Bezug auf ökonomische Themen, die die USA mindestens seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre erlebt hatte. Sie begann im Februar 2011. Der Gouverneur von Wisconsin hatte ein Gesetz angekündigt, das im Namen fiskalischer Austerität fast alle Gewerkschaften im öffentlichen Sektor des Bundesstaats de facto auflösen und die ohnehin stark eingeschränkte Gesundheitsversorgung noch weiter reduzieren sollte. In Wisconsins Hauptstadt Madison brachen daraufhin Straßenproteste aus, die über Wochen andauerten. Bei den größten dieser Versammlungen schwankten die Teilnehmerzahlen zwischen 100.000 und 180.000 Menschen. Solche Zahlen sind an sich schon beeindruckend, doch sie verschlagen einem wirklich die Sprache, wenn man bedenkt, dass Madison lediglich 230.000 EinwohnerInnen hat und in ganz Wisconsin nicht einmal so viele Menschen leben wie im Großraum Berlin.

Überall in den USA fanden kleinere Solidaritätskundgebungen mit den Protesten in Wisconsin statt, junge Menschen lernten zum ersten Mal in ihrem Leben Wirtschaftsproteste kennen. Herzstück der Bewegung war eine 17-tägige Besetzung des Wisconsin-Capitols, dem Parlamentsgebäude der Stadt. Es war die wohl längste Besetzung eines Regierungsgebäudes in der US-amerikanischen Geschichte und inspirierte auch die Occupy-Wall-Street-Bewegung, die einige Monate später begann. Occupy Wall Street und die hiermit zusammenhängenden Besetzungen haben dem öffentlichen Diskurs in den USA einen neuen Impuls gegeben. Lange Zeit hatte dieser dazu tendiert, die massiven Vermögensunterschiede zwischen der Unternehmerelite und der Normalbevölkerung zu ignorieren.

Auffällig ist, dass die Medien den Occupy-Wall-Street-Protesten deutlich mehr Aufmerksamkeit schenkten als dem Aufstand in Wisconsin. Dies lag zum Teil einfach daran, dass die Wall-Street-Besetzung länger andauerte. Aber es lag auch daran, dass sie in der größten Stadt des Landes stattfand. Alle wichtigen amerikanischen Medienunternehmen haben hier ihren Hauptsitz, und eben nicht in dem vergleichsweise abgelegenen Bundesstaat Wisconsin. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass die Wirkung der Occupy-Bewegung erst einsetzte, nachdem die zahlenmäßig viel größeren Proteste in Wisconsin gezeigt hatten, dass Besetzungen eine sinnvolle Strategie sein können. Ihr Verdienst ist es, den politischen Fokus auf Wirtschaftsbeziehungen etabliert zu haben.

Es gibt aber nicht nur eine thematische Verbindung zwischen dem Aufstand in Wisconsin und Occupy Wall Street. Auch strukturell diente die Capitol-Bestzung den Besetzungen im ganzen Land als Vorbild: ein Infopunkt als Anlaufstelle und Kommunikationszentrum, zentralisierte externe Essensspenden und viele andere kostenlose Dienste, die vor Ort auf freiwilliger Basis organisiert wurden. Trotz dieser Ähnlichkeiten gibt es jedoch keine direkte institutionelle Beziehung zwischen den beiden Besetzungen. Die konkreten Ursachen waren andere, die OrganisatorInnen waren unabhängig voneinander und die unmittelbaren Themen, um die es ging, waren verschieden, wenn auch miteinander verwandt.

Aber wie kann es sein, dass es bei so ähnlichen Ereignissen keine wirkliche Verbindung gibt? Das liegt hauptsächlich daran, dass in den USA keine organisierte Linke existiert - ganz egal, wie man »Linke« definiert. Es gibt keine mächtigen Institutionen, die zuverlässig in der Lage wären, zumindest die derzeitigen geringen Sozialprogramme zu verteidigen. Das bedeutet auch, dass diese Proteste zu wirtschaftlichen Themen keinen Knotenpunkt haben, nicht einmal ein etabliertes Netzwerk, über das erfahrene oder unerfahrene AktivistInnen kommunizieren, Ideen austauschen oder anderweitig zusammen Pläne schmieden könnten. Facebook und Twitter sind zwar nützlich, aber sie ersetzen eben nicht die Ressourcen eines Organisationsapparats.

WissenschaftlerInnen, die zu sozialen Bewegungen arbeiten - mich eingeschlossen -, sind momentan dabei, diese Ereignisse zu analysieren. Ich wage eine vorläufige These: Dieser Mangel an Organisationen war für Wisconsin und vielleicht auch für Occupy Wall Street eine Art verdrehter Vorteil. Die spontane und nicht zentralisierte Natur der Organisierung wurde eine Voraussetzung dafür, dass sie geschah. Die Abwesenheit einer verantwortlichen Autoritätsstruktur zwang die Menschen, ihre Ideen selbst umzusetzen.

Natürlich bringt die geringe Organisierung auch Nachteile mit sich. Meiner Wahrnehmung nach wurde sie zu einem immer größeren Hindernis, je länger die Wall-Street-Besetzung andauerte. Die Kommunikation zwischen den Camps in verschiedenen Städten war nicht eingespielt. In Washington DC existierten sogar zwei unterschiedliche Camps, zwischen denen es kaum Verbindungen oder Kommunikation gab. Wenn es so etwas wie ein optimales Gleichgewicht zwischen Spontaneität und Planung gibt, dann müssen die Occupy-Proteste diese Balance erst noch finden.

Der grundlegende Beitrag dieser Bewegungen in den USA ist, dass sie öffentlichen Protestaktionen zu neuem Ansehen verholfen haben. Aus einer Reihe von historischen Gründen tragen US-AmerikanerInnen ihren Protest fast nie auf die Straße. Seit einem halben Jahrhundert haben keine Generalstreiks stattgefunden. PolitikerInnen können diese Zurückhaltung häufig ausnutzen, indem sie die Bevölkerung mit symbolischen Gesten beschwichtigen. Soziale Bewegungen haben jedoch jetzt gezeigt, was alles möglich ist, selbst wenn sie ihre unmittelbaren Ziele verfehlen (wie im Fall des Wisconsin-Aufstands - der Gesetzentwurf wurde verabschiedet).

Nur wenige hielten es in den USA für möglich, dass ein Bürgeraufstand von der Größe und Form, wie wir ihn dieses Jahr erlebt haben, jemals stattfinden würde. Aber jetzt, wo es geschehen ist, haben sich neue Wege eröffnet. Wie man am besten von diesen Ereignissen lernen und ihre Energie kanalisieren kann, ist die wohl wichtigste Frage, die sich den progressiven Kräften in den USA heute stellt.Ich freue mich darauf, an der bevorstehenden Ungehorsam-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung teilzunehmen, damit wir dort diese Themen gemeinsam vertiefen und diskutieren können.


Matthew Lawrence Kearney ist Doktorant an der Universität von Wisconsin-Madison und nimmt als Referent an der Konferenz »Ungehorsam! Disobedience!« teil.

Übersetzung: Sarah Lempp


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 568, 20.01.2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2012