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ANALYSE & KRITIK/478: Austeritätsexperimente in Griechenland


ak - analyse & kritik - Nr. 565 - 21.10.2011
zeitung für linke Debatte und Praxis

Austeritätsexperimente in Griechenland
Die Euro-Krise ist kein Kampf zwischen Staaten, sondern ein sozialer Konflikt

Interview von Ingo Stützle


Griechenland spart. Gleichzeitig versucht der griechische Staat verzweifelt an Einnahmen zu kommen - durch Sondersteuern auf von allen zu leistende Zahlungen wie etwa Wasserrechnungen. Die großen Einkommen bleiben unangetastet. Die Lohneinschnitte und Steuererhöhungen bedeuten für viele Leute einen Realeinkommensverlust von bis zu 40 Prozent. Welche "Erzählungen" zur Krise gibt es in Griechenland? Wie ist die griechische Austeritätspolitik einzuschätzen? Über diese und andere Fragen sprach ak mit Jannis Milios, Ökonom aus Athen und Mitherausgeber der Zeitschrift Theseis.


Frage: Welche "Erzählungen" über die Krise herrschen in Griechenland vor?

Jannis Milios: Die Krise beruht auf mangelhafter Konkurrenzfähigkeit, Korruption und zu vielen Beamten - das ist die herrschende Erzählung. Deshalb seien Austerität und eine "innere Abwertung" notwendig. Innere Abwertung bedeutet eine flächendeckende Lohnsenkung. Es gibt aber auch eine nationalistische Erzählung: Die EU und insbesondere Deutschland beuten Griechenland und die anderen Nationen der EU-Peripherie aus. Hier wird der Austritt aus der Eurozone, die Wiedereinführung der Drachme und eine "unabhängige" Geld- bzw. Wirtschaftspolitik gefordert.

Die linke Erzählung betont die niedrigen Steuern - vor allem auf Kapitalerträge. In Griechenland liegen die Steuern auf Kapital seit 2004 etwa um fünf bis sechs Prozent niedriger als der Mittelwert der Eurozone. Bei einer durchschnittlichen Belastung hätte das Land 2008 einen Schuldenstand unter 85 statt 110 Prozent des BIP ausgewiesen. Damit wären die politischen Optionen in der Krise andere. Die Lösung wäre eine Abschreibung eines Großteils der Staatsschulden in Besitz der Banken und deren Verstaatlichung, um eine Finanzpolitik zugunsten der abhängig Beschäftigten durchsetzen zu können. Dazu gehört u.a. eine nachhaltige Wachstumspolitik, ein progressives Steuersystem und die Umverteilung des Einkommens zu Gunsten der arbeitenden Klassen und des Sozialstaates.

Frage: In der deutschen Linken gibt es eine gängige Erzählung: Durch Lohnzurückhaltung habe man Griechenland an die Wand gedrückt und bankrottkonkurriert ...

Jannis Milios: Der Kapitalismus ist eine Geldwirtschaft. Konkurrenzfähigkeit bedeutet nicht einfach, dass ein Land mehr Exporte als Importe erzielen muss. Es bedeutet auch, dass höhere Wachstumsraten erzielt werden müssen, d.h. relativ höhere Profitraten für die nationale Kapitale. Dies kommt der Fähigkeit gleich, Geldkapital vom Ausland anzuziehen. Das war in Griechenland bis 2008 der Fall: Zwischen 1995 und 2008 wuchs das Bruttosozialprodukt Griechenlands um 61 Prozent, während es in Deutschland nur um 19,5 Prozent anstieg! Den USA gelingt es bis heute. Sie sind eine importorientierte Wirtschaft, die aber immer Geldkapital anzieht und so ihre Importe finanzieren kann - im Gegensatz zum exportorientierten China. Es wäre eigenartig zu behaupten, dass China konkurrenzfähig ist, die USA jedoch nicht. Aus einer marxistischen Perspektive ist das Unsinn.

Zudem ist Griechenland inzwischen so deindustrialisiert, dass es eigentlich für das Steckenpferd der deutschen Industrie, Maschinenbau, keinen Absatzmarkt darstellt. Die Importe kommen vor allem aus osteuropäischen und asiatischen Ländern, die Konsumgüter herstellen.

Frage: In einem Aufsatz schreibst du, dass weder Griechenland noch Deutschland das Problem seien, sondern das "System Euro". Was meinst du damit?

Jannis Milios: Der Euro-Währungsraum besitzt keine fiskalpolitischen Instrumente. Die EU hat kein relevantes eigenes Budget und erhebt keine Steuern. Deshalb kann auch kein nennenswerter Ausgleich innerhalb der ökonomisch sehr heterogenen EU stattfinden. Was aber noch wichtiger ist: Die Europäische Zentralbank (EZB) funktioniert nicht als Kreditgeber letzter Instanz, Lender of last Resort, um der Schuldenkrise entgegenzutreten. Das ist in Großbritannien oder Japan anders. Auch in den USA. Dort kann de facto kein Bundesstaat Pleite gehen. Weil die Akteure auf den Finanzmärkten das wissen, bleiben die Zinsen moderat und die Länder geraten nicht unter Druck - obwohl sie höhere Schulden als Griechenland haben.

Frage: Du hast vor zwei Jahren mit Dimitris Sotiropoulos das Buch "Rethinking Imperialsm" veröffentlich. Kann die innereuropäische Politik gegenüber Griechenland als Imperialismus bezeichnet werden?

Jannis Milios: Kaum. Griechenland gehört auch zu den imperialistischen Staaten des Westens, obwohl es keine Großmacht ist. Zwei Beispiele: Die griechischen Reeder konzentrieren ca. 15 Prozent der Welttonnage; sie konzentrieren 22 Prozent der globalen Tankertonnage. Griechische Banken haben mehr Angestellte im Aus- als im Inland. Das Problem ist, dass Reeder wie alle anderen Fraktionen des Großkapitals fast keine Steuern zahlen. Der gegenwärtige Konflikt hat einen sozialen Charakter, ist kein Kampf zwischen Staaten! Das gilt auch, obwohl die Kürzungspolitik den überdurchschnittlich hohen Militärhaushalt ausspart und Deutschland auf Einhaltung der Rüstungsverträge drängt. Die sozialdemokratische Partei PASOK ist eigentlich die Tea-Party Griechenlands, die Partei des extremen Neoliberalismus.

Frage: Ist ein Staatsbankrott Griechenlands der richtige Schritt? In Deutschland fordert das die FDP und wird dafür als europafeindlich kritisiert ...

Jannis Milios: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der griechische Staat in Zahlungsverzug geraten wird. Das bedeutete, dass die Gläubiger nur einen Teil ihrer Forderungen erfüllt bekommen. Die Gläubiger des Staates sind hauptsächlich griechische und ausländische Banken, Pensionsfonds und die Troika aus EU-Kommission, EZB und Internationalem Währungsfonds.

Eine wichtige Initiative wäre, die griechischen und ausländischen Pensionsfonds vor den Folgen der Abschreibung zu schützen, das Banksystem zu verstaatlichen und so umzustrukturieren, dass eine Finanzpolitik zugunsten der abhängig Beschäftigten möglich wird. Eine derartige Politik ist weder europafeindlich, noch ist es das, was die FDP sich vorstellt.

Die reaktionäre Strategie der "inneren Abwertung", die derzeit durchgesetzt wird, hat den Charakter eines Experiments für ganz Europa - die Linke muss das verhindern. Denn entweder sind die Austeritätsstrategien erfolgreich, was eine Abschaffung des Sozialstaates bedeutet. Oder es finden Massenmobilisierungen statt, die die Klasseninteressen der Werktätigen schützen und einen Weg zur Erfüllung der sozialen Bedürfnisse eröffnen.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 565, 21.10.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2011