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ANALYSE & KRITIK/364: Die Neukonstitution des Politischen - Mit Spinoza in den Common Wealth


ak - analyse & kritik - Ausgabe 548, 19.03.2010

Die Neukonstitution des Politischen
Mit Spinoza in den Common Wealth

Von Robert Zion


In "Common Wealth", ihrem dritten großen Werk nach "Empire" (2000) und "Multitude" (2004), geben Michael Hardt und Antonio Negri der Analyse der politischen Entwicklungen ein neues Fundament. Die Krise des globalen Kapitalismus deuten sie aus linker Sicht als einen Prozess der konstitutiven Transformation der Natur des Menschen und seiner politischen Organisationsformen. Die dabei nun explizit ausgearbeitete Bezugnahme auf den Frühaufklärer Spinoza (1632-1677) sprengt dabei den globalisierungskritischen und bewegungslinken Blickwinkel und beansprucht nicht weniger als eine Revision bisheriger politischer Grundlagen der Neuzeit.

Im 17. Jahrhundert endete die auf eine transzendente Ordnung ausgerichtet Welt des Mittelalters und es entstanden die großen Denksysteme des Späthumanismus und der Frühaufklärung. "Common Wealth" will die Revolution des Renaissancehumanismus vollenden - als Konstitution des von Spinoza so benannten omnino absolutum imperium ("der ganz und gar uneingeschränkten Regierungsform"), der Demokratie.

Die Entstehung einer Demokratie der Multitude war bereits eines der Hauptthemen von "Empire", dessen großer Erfolg sicherlich auch auf die Beschreibung des globalen Kapitalismus als Immanenzraum zurückzuführen ist. Spinoza, der Philosoph der Immanenz, war jedoch in "Empire" immer nur implizit anwesend. "Common Wealth" ist nun der Versuch einer expliziten spinozianischen Grundlegung der Linken und damit gleichermaßen ein Gegenentwurf zum neuzeitlichen Dualismus von Körper und Geist Descartes', zur Negativität des Hobbes'schen Menschenbildes, zu Lockes Eigentumsbegriff und dessen Prämissen bürgerlicher Regierungsformen und zu Leibniz' Programm einer Versöhnung von Rationalität und Religion. (1) Ein großer Wurf, der bereits bei "Empire" vielleicht an zu kleinen Maßstäben gemessen wurde und den Negri/Hardt mit "Multitude" selbst vorübergehend verlassen hatten. (2)

"Common Wealth" markiert einen Bruch mit einer ganzen Denktradition. Negri/Hardt geht um die "Konstruktion der Wahrheit von unten", formuliert als offener Konstitutionsprozess.


Spinozianische Grundlegung der Linken

Bei der Reflexion des Ganzen kapitalistischer Globalisierung, helfe Spinoza mit seiner politischen Konzeption der "Multitudo", Hobbes' substanzialistische Entität des "Volkes" zu überwinden. Ebenso ermöglicht er - in Abgrenzung zu Descartes' Dualismus - das Verhältnis von Materie und Geist im Zeitalter biopolitischer Produktion (immaterielle Arbeit) zu denken.

"Common Wealth" ist eine Art Abbildung der Themen von "Empire" und "Multitude" auf Grundlage Negris Spinoza-Interpretation "L'anomalia selvaggia" von 1981. (3) Dort hatte Negri den Entwurf von "Common Wealth" bereits vorgezeichnet: "Der Ausdruck der Produktivkraft ergibt sich kumulativ auf physikalischer Ebene und kollektiv auf ethischer Ebene, immer als Resultante eines theoretischen und praktischen Prozesses, der eben in dem Sichbilden des Seins als solchem besteht." (4) Das immanente "Sichbilden des Seins" in einer globalisierten Welt, "die kein ,Außen' hat", ist für Negri/Hardt zugleich die Konstitution des Gemeinsamen (common).

Dieses "politische Projekt der Institutionalisierung des Gemeinsamen" ist weder privat noch öffentlich, weder kapitalistisch noch sozialistisch, sondern verläuft diagonal zu diesen "faschen Alternativen". Denn das Gemeinsame bildet sowohl die Basis als auch das jeweilige Produkt dessen, was bereits in "Empire" als biopolitische Produktionsprozesse umschrieben wurde - in Form "materieller Gemeingüter" (Luft, Wasser, Früchte und Gaben der Erde), wie auch als "Resultate sozialer Produktion, die für soziale Interaktion und Reproduktion notwendig sind" (Wissen, Sprache, Codes, Informationen, Affekte).

So wird im ersten Teil von "Common Wealth" die moderne Republik als "Republik des Eigentums" verworfen und in einem Prozess der Metamorphose die "Schaffung einer neuen Gesellschaft in der Hülle der alten" eingefordert. Diese ist nur noch auf einem "sozialen Immanenzplan" zu haben, als "Politik der Körper" und als solche als alternative sowie autonome Produktion von Subjektivität. "Nur der Arme", so hieß es bereits in "Empire", "lebt radikal das tatsächliche und gegenwärtige Sein." (5) Daher kommt den Armen heute ein "Mechanismus der sozialen Produktion" zu, den Negri/Hardt im Weiterdenken Foucaults die "Macht des Lebens" (Biopolitik) gegenüber der "Macht über das Leben" (Biomacht) nennen.

Diagonale statt Opposition, Alternative statt Widerstand - nicht die Antimodernität, sondern die Altermodernität ist das Projekt der Multitude. Ihre Charakteristika sind der Bruch und die Transformation. Die Altermodernität zeigt sich sowohl als alternative Linie der europäischen Aufklärung (Machiavelli, Spinoza, Marx), als auch in den Arbeiterbewegungen (Bruch mit dem kapitalistischen Kommando) und in den Kämpfen gegen Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus.

Die kapitalistische Produktion befindet sich in einer Phase des Übergangs und deren Ergebnisse sind in zunehmendem Maße soziale Beziehungen und Lebensformen. Die Transformation der Arbeit (immaterielle Arbeit, Feminisierung der Arbeit, Arbeitsmigration) führt dazu, dass der quantitative, messbare Charakter der Produktion prinzipiell überschritten wird und alle Produkte dazu tendieren, die Form von Gemeingütern anzunehmen. Kapitalistische Akkumulation findet heute zunehmend außerhalb des Produktionsprozesses (Finanzmarktkapitalismus) statt und Ausbeutung nimmt folglich die Form der "Enteignung des Gemeinsamen" an.


Republik und die Multitude der Armen

Gegenwärtig entwickelt sich daher "eine offene soziale Beziehung zwischen Arbeit und Kapital", in der der Klassenkampf als "Prozess der Subtraktion von der Beziehung zum Kapital" auftritt, als Exodus, in dem neue Lebensformen und soziale Beziehungen entdeckt und konstruiert werden. Doch steht die Konstitution neuer sozialer Institutionen in einem ständigen Kampf mit überkommenen und korrumpierenden Formen des Gemeinsamen (Familie, Unternehmen, Nation).

Nach einer Beschreibung des versuchten Putsches im Empire durch die USA unter den Neokonservativen und einer kleinen Genealogie der Rebellion im vierten Teil ("Das Empire kehrt zurück") beginnen Negri/Hardt im fünften Teil mit einer Beschreibung der Unfähigkeit des Kapitalismus in seiner neoliberalen Form, die biopolitische Produktion überhaupt als Wertschöpfungsprozess zu organisieren. Doch auch der Sozialismus (als "Regime des staatlichen Managements kapitalistischer Produktion") sowie Sozialdemokratie, die biopolitische Produktion nur als Anhängsel fordistischer Industrieproduktion denken kann, sind daran gescheitert. Denn das "Gemeinsame existiert auf einem anderen Plan als dem von privat und öffentlich, es ist fundamental autonom von beidem." Der Privatbesitz bezeichnet hingegen heute ein "fehlendes Gemeinsames", mithin "Gemeinwesenversagen".

In der biopolitischen Ökonomie muss Wachstum fortan als "Ausweitung der sozialen Produktivkräfte" selbst verstanden werden, als Akkumulation des Gemeinsamen, die darin besteht, dass sich unsere Vermögen und unsere Empfindungen ausweiten: unsere Vermögen zu denken, zu fühlen, zu verstehen, sich mit anderen in Beziehung zu setzen. Ökonomisch ausgedrückt "beinhaltet dieses Wachstum dann sowohl einen ausgeweiteten Vorrat des Gemeinsamen, der in der Gesellschaft zugänglich ist, als auch anwachsende Produktionskapazitäten, die im Gemeinsamen gründen." Negri/Hardt beschreiben im Grunde den immanenten Entstehungsprozess der kommunistischen Gesellschaft innerhalb der kapitalistischen Ordnung als progressive Akkumulation des Gemeinsamen von unten, einer Demokratie der ProduzentInnen.


Anti-Hobbes: Affektive Basis des Gemeinsamen

In der biopolitischen Ära verschärft sich nach Negri/Hardt der Antagonismus zwischen der zunehmend sozialen Natur der Produktion und dem privaten Charakter kapitalistischer Akkumulation. Die dadurch hervorgebrachte "kommodifizierte Temporalität des kapitalistischen sozialen Lebens", verlangt nicht weniger als die "Selbst-Aufhebung" der eigenen Identität, denn "was die Identität für das Eigentum ist, ist die Singularität für das Gemeinsame." Die Revolution allerdings gibt es nicht, sie ist eigentlich ein "revolutionärer Parallelismus" (der Singularitäten), der in seiner Mannifaltigkeit von der Multitude regiert werden muss.

Sicher wird sich über viele der Themen des Buches wieder eine Diskussion entfalten; insbesondere die viel Raum einnehmenden Gemeingüter könnten ins Zentrum einer "Common Wealth"-Diskussion rücken. Doch dass der Verlag, ähnlich wie bereits bei Jeremy Rifkins "The Age of Access" (6), den Untertitel "Das Ende des Eigentums" beigefügt hat, lässt befürchten, dass die Diskussionen wieder einmal am großen Thema vorbeigehen könnte: der Neukonstitution des Politischen. Negri/Hardt haben nie das Ende von etwas beschrieben; ihr Thema ist vielmehr das Entstehen des Neuen, die Materialisierung des Empire vor unseren Augen und die Untersuchung emanzipatorischer Potenziale.

Der sozialistische Weg zum Kommunismus ist vollständig gescheitert an den eigenen nicht mehr hinterfragten Prämissen der Beschreibung der Welt und des Menschen auf Zwecke und teleologische Weltbilder. Deshalb beginnen Negri/Hardt nun, den Menschen und die Natur mit Spinoza als einen immanenten Wirkzusammenhang zu beschreiben, den es sich bewusst zu machen gilt ("Natur ist nur ein anderes Wort für das Gemeinsame"). Und wie Spinoza stellen Negri/Hardt nun die Genese der kommunistischen Gesellschaft in einen Wirkzusammenhang mit der Natur, der sich dem Menschen in seinen Affekten vermittelt.


Der sozialistische Weg zum Kommunismus ist gescheitert

Für Hardt und Negri ist es nun nicht mehr wie noch bei Hobbes die "Furcht" (metus), die heute im Zentrum der Konstitution des Gemeinwesens steht, sondern die Herausbildung neuer politischer Formen in einem kumulativen Prozess vom "Streben" (conatus) über das "Begehren" (cupiditas) bis zur "Liebe" (amor). "Liebe ist stärker als der Tod", heißt es an zentraler Stelle. Es ist allerdings die spinozianische "Liebe" als "Freude, begleitet von der Idee einer äußeren Ursache" (7), und nicht die institutionalisierte "Liebe" in ihren korrumpierenden Formen identitärer, d. h. vor allem privatisierter oder vereinheitlichender, vor allem religiöser Art. Und so, wie sich mit dem Affekt der "Liebe" die in "Common Wealth" beschriebenen neuen Institutionen des Gemeinsamen konsolidieren, so finden die unterschiedlichen Widerstandsformen im Empire ihre gemeinsame Entsprechung im Affekt der "Entrüstung" (indignatio). (8)

In einem Augenblick, in dem das bürgerliche Denken mit seiner Abschaffung der wirklichen Welt, indem es diese Welt permanent in ein juridisches und repräsentatives Bild verdoppelt, einen endgültigen Bruch der kapitalistischen Gesellschaften in ihrem Naturverhältnis hervorzubringen droht, kommt dieser Entwurf keinen Tag zu früh. Es bleibt zu hoffen, dass er in seiner weitreichenden Bedeutung für die Linke wie für die politische Philosophie und Praxis der Gegenwart auch so verstanden wird.


Michael Hardt/Antonio Negri:
Common Wealth. Das Ende des Eigentums.
Campus, Frankfurt am Main 2010.
437 Seiten, 34,90 EUR



Anmerkungen:

1) Vgl. auch ausführlicher: Robert Zion: "Eine spinozianische Grundlegung der Linken - Das ökonomische Tableau in 'Commonwealth'", in: grundrisse - zeitschrift für linke theorie und debatte, Nr. 33/34 (März/Mai) 2010.

2) Vgl. ak 442, ak 490

3) Vgl. Antonio Negri: Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft. Berlin 1982.

4) ebenda, S. 250.

5) Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main 2002, S. 169.

6) Vgl. Jeremy Rifkin: Access. Das Verschwinden des Eigentums. Frankfurt am Main 2000

7) Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Hamburg 1976, S. 170

8) Vgl. ebenda, S. 174


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ak - analyse & kritik, Ausgabe 548, 19.03.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2010