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MEMORIAL/220: Mit Weichenstellung der Alliierten - Rettung des italienischen Faschismus ab August 1945 (Gerhard Feldbauer)


Mit der Jedermann-Bewegung Uomo Qualunque wurde in Italien im August 1945 die Rettung des Faschismus eingeleitet

Die Weichen hatte die Alliierte Militärregierung bereits im Dezember 1944 gestellt

Von Gerhard Feldbauer, 10. August 2020


Drei Monate nach der Niederlage des Faschismus ging am 8. August 1945 in Italien eine Bewegung an die Öffentlichkeit, die sich - obwohl sie sich zunächst noch nicht offen als faschistisch ausgab und sich auch noch nicht als Partei konstituierte - das Ziel setzte, wieder eine faschistische Herrschaftsform zu errichten. Das war "die in Rom gebildete Uomo Qualunque", die "der in der Resistenza geborenen Demokratie tiefgehend feindlich gegenüber stand". [1] Die sich als "Front des Mannes der Straße" (Fronte dell'Uomo Qualunque) [2] vorstellende Bewegung ging aus einer im Dezember 1944 in Süditalien unter der Schirmherrschaft der Alliierten Militärregierung zugelassenen Zeitschrift gleichen Namens hervor. Deren Herausgeber war der Schriftsteller und Journalist Guglielmo Giannini, der sich gelegentlich kritisch zu Mussolini äußerte. Die Zeitschrift erschien unter der im August 1945 gebildeten Bewegung weiter und "stieg in einer für Italien bis dahin unbekannten, rasanten Weise auf siebenhunderttausend Exemplare und erreichte bisweilen Millionenhöhe". [3]

Um die Bewegung nicht direkt durch die Mussolini-Vergangenheit zu kompromittieren, traten die aktiven alten Faschisten in ihr zunächst nicht offen in Erscheinung und Giannini, der der Bewegung als Aushängeschild diente, wandte sich demagogisch gegen den Faschismus. Uomo Qualunque stellte sich als Anti-Partei und unpolitische Organisation vor, wandte sich gegen die "Parteienherrschaft" und "Parteienaristokratie", rief zum Kampf gegen die Verwaltungsbürokratie sowie gegen das bürgerlich-parlamentarische System und seine Institutionen auf, denen sie Unfähigkeit und Korruption vorwarf, und trat für die Monarchie ein. Während sie erklärte, gegen links und rechts zu sein, bekämpfte sie offen die linken Parteien, diffamierte Antifaschisten als "Vaterlandsverräter" und schürte einen aggressiven Revanchismus und Antikommunismus. Diese Gruppierung versuchte, "die Unzufriedenheit der Bevölkerung, deren Hoffnung auf eine schnelle Überwindung der ökonomischen Notsituation enttäuscht worden war, zu instrumentalisieren". Sie fand vor allem im Süden, "wo die Alliierte Militärregierung die traditionellen Machtstrukturen schnell restauriert hatte", zahlreiche Anhänger. [4]

Als Uomo Qualunque ungehindert agieren konnte, wagten sich zahlreiche alte Mussolinifaschisten, die sich unmittelbar nach Kriegsende aus Angst vor einer Bestrafung zunächst ruhig verhalten hatten, wieder an die Öffentlichkeit und organisierten sich in zahlreichen meist regionalen halblegalen, größtenteils paramilitärisch aufgebauten faschistischen Gruppen. Sie nannten sich revolutionäre Aktionsbünde, Antikommunistische Monarchistische Abteilungen, Antikommunistische Geheimarmee, Antibolschewistische Front, Nationale Arbeiterpartei, Sozialistische Republikanische Partei, aber auch bereits offen Sturmabteilungen Mussolinis. Bezeichnungen wie Revolutionäre Aktionsbünde (Fasci d'Azione Rivoluzionaria, FAR) gingen direkt auf pseudorevolutionäre Namen aus der Gründerzeit der faschistischen Bewegung unter Mussolini zurück. [5]

Gründer der FAR, in denen sich der "harte Kern" der alten Faschisten zusammenschloss, war der ehemalige Staatssekretär des "Duce", Giorgio Almirante, ein führender Mussolini-Ideologe, der unter anderem Mitherausgeber der faschistischen Tageszeitung Tevere und des rassistischen Hetzblattes Difesa della Razza gewesen war. Er hatte noch kurz vor Kriegsende einen Genickschusserlass gegen Partisanen unterzeichnet. Aus den FAR gingen führende Vertreter des italienischen Nachkriegsfaschismus hervor, darunter der spätere stellvertretende MSI-Führer und Gründer der berüchtigten Terrororganisation Neue Ordnung (Ordine Nuovo), [6] Pino Rauti. Den FAR schloss sich schon 1945 auch Mussolinis Ideologe Julius Evola an.

Mit faschistischer Propaganda und Terror wurden der "Duce" verherrlicht, das faschistische Regime glorifiziert, Feiern zur Wiedergeburt der Salò-Republik veranstaltet, in Städten und Dörfern Hakenkreuze und Rutenbündel an Mauern und Häuserwände gemalt, Antifaschisten überfallen und misshandelt sowie Widerstandsdenkmäler geschändet. Besonderes Aufsehen erregten die Entführung des Leichnams Mussolinis vom Mailänder Friedhof am 23. April 1946, vor dem ersten Jahrestag seiner Hinrichtung, und der Überfall auf den römischen Rundfunksender Monte Mario und die Ausstrahlung der faschistischen Hymne "Giovinezza". Die Faschisten demonstrierten so ihre Präsenz, schüchterten Teile der Bevölkerung ein und setzten progressive bürgerliche Persönlichkeiten unter Druck - darunter auch Repräsentanten der DC -, um den antifaschistischen Demokratisierungsprozess abzubrechen oder zumindest zu bremsen.

Das Agieren von Uomo Qualunque zeigte, dass der Nachkriegsfaschismus - auch nach dem Verlust seiner staatsbeherrschenden Funktion - eine ernstzunehmende politische Kraft blieb, die fähig war, beträchtliche Bevölkerungsschichten und dadurch die Nachkriegsentwicklung zu beeinflussen. Zum ersten Mal wurde dies im Juni 1946 bei den Wahlen zur Assemblea Constituente deutlich. Um dazu antreten zu können, konstituierte sich Uomo Qualunque im Februar 1946 zur Partei, konnte ungehindert von der Alliierten Militärregierung kandidieren, 5,3 Prozent der Wählerstimmen erreichen und mit 30 Abgeordneten, unter ihnen Giannini, in die Verfassunggebende Versammlung einziehen.

Mit Uomo Qualunque und anderen Organisationen testeten die alten faschistischen Führer den Zeitpunkt der Neugründung ihrer Partei, die dann im Dezember 1946 stattfand. Zur Rolle der Bewegung bei der Wiedergründung der faschistischen Partei als MSI schrieb der Altfaschist Pino Romualdi, ein unehelicher Sohn Mussolinis: "Uomo Qualunque, dessen Aktionen zum größten Teil von unseren Leuten unterstützt wurden und oft auch unter ihrer direkten Teilnahme und Anleitung stattfanden, deckte einmal die Vorbereitung unserer wirklichen Partei, in die die Kräfte von Uomo Qualunque dann eingingen, und erprobte zum anderen, wie die Italiener auf eine hämmernde und intelligente Propaganda reagierten, die bereits damals die kleinmütigen Bestrebungen, das niedrige moralische und politische Niveau der Parteien, ihrer Führer und der anderen wichtigen Männer der kurzatmigen, alten und falschen italienischen Demokratie entlarvten." [7] Ausführlich hat das Mario Giovanna in "Le nuove Camice nére" (Turin 1966) dargelegt und dazu den Altfaschisten Mario Tedeschi, den späteren Chefredakteur der neofaschistischen Wochenschrift Il Borghese, zitiert: "Wir waren in eine Reihe von Gruppen versprengt, die theoretisch im Namen der alten Gefühlsbindungen mobilisiert wurden und die alle den Gesetzen des unvergleichlichen Durcheinanders gehorchten." (S. 24)


Den Schoß "fruchtbar" gehalten

Wie konnte der Faschismus nach 1945 wieder sein Haupt erheben? Bertolt Brecht prägte dafür die Worte: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!" [8] Diesen Schoß fruchtbar zu halten, diente die unter der Schirmherrschaft der USA schon im Dezember 1944 herausgegebene Zeitschift Uomo Qualunque. Damit wurden erste Weichen gestellt, den Faschismus über seine Niederlage hinwegzuretten, weil er gebraucht wurde: Im Inneren, um die von Kommunisten, Sozialisten und ihrer Verbündeten angekündigte antifaschistisch-demokratische Umgestaltung zu verhindern, die nach außen zum Haupthindernis in dem von den USA eröffneten Kalten Krieg gegen die UdSSR, in dem Italien noch vor der NATO-Gründung die Südflanke bildete, geworden wäre.

Zur Absicherung des Fortbestehens des Faschismus lehnten die USA dann in den Pariser Friedensverträgen vom Februar 1947 für Italien die von der UdSSR geforderte Klausel ab, niemals wieder faschistische Organisationen zu erlauben und Kriegsverbrechen nicht ungesühnt zu lassen.


Für Kohl ein "historischer Augenblick"

Als zu den Parlamentswahlen 1994 in Rom ein Sieg der sozialdemokratischen Linkspartei (PDS) drohte, kam die Stunde der in Reserve gehaltenen Faschisten. Der Chef der von der faschistischen Putschloge P2 kreierten Forza Italia (FI) Silvio Berlusconi, der in deren Dreierdirektorium saß, bildete mit der in Aleanza Nazionale (AN) umgewandelten MSI und der rassistischen Lega Nord eine "schwarze Regierung" (Manifest 15. Mai 1994). Die FAZ begrüßte in ihrem Leitartikel vom 23. April 1994, dass der Faschismus damit "rehabilitiert" sei. Das werde Auswirkungen im "ganzen 'westlichen' Europa" haben. [9]

Bundeskanzler Helmut Kohl sekundierte und lud Berlusconi zwei Monate später zum Staatsbesuch - bezeichnenderweise dem ersten, den der faschistische Regierungschef absolvieren konnte - ein, begrüßte ihn als Freund und machte ihn damit salonfähig. Während der AN-Chef und Vize-Premier Gianfranco Fini in Rom Mussolini als "größten Staatsmann des Jahrhunderts" würdigte, seine "guten Taten" pries und seine Rehabilitierung forderte, feierte Kohl mit Berlusconi die Aufnahme der Faschisten in die Regierung als einen "historischen Augenblick"; schwadronierte vom "gemeinsamen Aufbau der Demokratie in beiden Ländern" und nahm wohlwollend die Beteuerungen des Italieners entgegen, dass seine Regierungspartner keine Faschisten seien und eine "saubere Weste" hätten.


Fußnoten:

[1] Giuseppe Gaddi: Neofascismo in Europa, Mailand 1974, S. 13.

[2] Deshalb kurz Uomo Qualunque (Jedermann) genannt.

[3] Ennio Di Nolfo: Von Mussolini zu De Gasperi, Paderborn 1993, S. 131.

[4] Sophie G. Alf: Leitfaden Italien. Vom antifaschistischen Kampf zum Historischen Kompromiß, Berlin (West) 1977, S. 65.

[5] Gaddi, S. 13 ff.

[6] In demagogischer Weise führte sie den Namen der von Gramsci 1919 gegründeten Ordine Nuovo.

[7] Beitrag zum 25. Jahrestag des MSI in der Nummer 2/1972 des Italiano, einer Zeitschrift der Partei.

[8] Es sind die Schlussworte des Epilogs zu dem Parabelstück "Der aufhaltsame Aufstieg des Artur Ui".

[9] Womit das Blatt Recht behalten sollte, wie die heutige Entwicklung in der deutschen Bundesrepublik am Beispiel der AfD beweist.

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2020

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