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REZENSION/678: Gerhard Feldbauer - Geschichte Italiens (SB)


Gerhard Feldbauer


Geschichte Italiens

Vom Risorgimento zur Gegenwart



In seiner Reihe Basiswissen aus Politik, Geschichte und Ökonomie legt der Kölner PapyRossa Verlag eine fortlaufend ergänzte Edition inhaltlich anspruchsvoller und auf wesentliche Aspekte der jeweiligen Thematik verdichteter Abhandlungen vor. Sie zeichnen sich insbesondere durch eine gesellschaftkritische und somit parteiergreifende Positionierung aus, die einer vorgeblich neutralen und objektiven, de facto jedoch die vorherrschende Ideologie reproduzierenden Wissenschaftlichkeit mit den Werkzeugen fundierter Expertise und dezidierter Gesellschaftsanalyse in die Parade fährt. Für den vorliegenden Band "Geschichte Italiens - Vom Risorgimento zur Gegenwart" konnte das Verlagshaus wiederum den renommierten Publizisten Dr. phil. habil. Gerhard Feldbauer gewinnen. Als langjähriger Korrespondent in Italien und Vietnam, habilitiert in italienischer Geschichte und aus persönlichem Erleben mit den dortigen Verhältnissen vertraut, verbindet ihn mehr als nur berufliches Interesse mit diesem Land und den dort lebenden Menschen. Viele von ihnen hat er vor Ort kennengelernt, mit manchen ist er bis heute freundschaftlich verbunden.

Wenngleich der Autor kein Hehl daraus macht, daß sein Herz für die Kämpfe der Lohnabhängigen und Kleinbauern schlägt, wie ihn auch der Niedergang ihrer Organisationen und politischen Repräsentation mit großer Sorge erfüllt, schreibt er frei von Pathos und Parolen. Nüchtern und präzise legt er eine sorgsam recherchierte und belegte wissenschaftliche Arbeit vor, die seine umfangreicheren und ausführlicheren Studien zu demselben Themenkomplex auf den Rahmen eines komprimierten Formats zusammenfaßt und zuschneidet. Wer zum Zweck des Wissenserwerbs eine Zusammenschau der wesentlichsten Entwicklungen, Akteure und Datierungen wünscht, wird auf seine Kosten kommen. Nicht minder empfehlenswert ist das Buch aber auch für all jene Leserinnen und Leser, die Geschichte aus einer kritischen und emanzipatorischen Perspektive unter die Lupe nehmen möchten, ohne dabei auf quellengestützte Trittsicherheit zu verzichten.

Feldbauer hat den Spagat zwischen einer Vielzahl unverzichtbarer Fakten und einem gewissermaßen erzählenden historischen Handlungsstrang, der dem Lesevergnügen Genüge tut, auf für seine Publikationen charakteristische Weise bewältigt. Zum einen entfaltet er ein breites Spektrum maßgeblicher Interessengruppen und Machtkomplexe, angefangen von den Auswirkungen der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. Zum anderen bindet er deren Ringen in den Kontext durchgängiger Herrschaftsentfaltung wie auch Befreiungs- und Klassenkämpfe ein, der geschichtliche Kontinuitäten und Brüche erst in ihrem Gesamtzusammenhang entschlüsselt. Dank dieser Vorgehensweise setzt er einer nur deskriptiven und interpretativen Rückschau, die affirmativ die heute vorherrschenden Verhältnisse in ihrer Genese und Durchsetzung zu begründen und zu rechtfertigen sucht, analytisch grundlegende Widerspruchslagen und daraus resultierende Auseinandersetzungen entgegen. Weder läßt sich Geschichte als bloße Abfolge mehr oder minder blinder Zufälle noch als unvermeidlicher Aufstieg zum unabweislich krönenden Gipfel einer kapitalistischen und imperialistischen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen hinreichend und überzeugend auslegen.

Obgleich die Geschichte Italiens in ihren großen Etappen wie dem Übergang vom Feudalismus zur Herrschaft des Bürgertums, der Gründung des Nationalstaats unter Zurückdrängung ausländischer Einflußnahme, der Abschaffung der Monarchie zugunsten der Republik und insbesondere einer Entfaltung der Produktivkräfte durchaus der anderer westlicher Industriestaaten entsprechen mag, weist sie doch zugleich teils einzigartige Besonderheiten, teils ganz spezifische Ausprägungen auch andernorts anzutreffender Entwicklungsverläufe auf: Die Macht des Papsttums und der katholischen Kirche, die Spaltung des Landes in einen hochindustrialisierten Norden und agrarischen Süden mit einer entsprechenden Diskrepanz des Verhältnisses zwischen Reichtum und Armut, das weitreichende Wirken mafiöser Strukturen, der Faschismus und die bis heute starke neofaschistische und rassistische Rechte, die Geheimloge P2 und Gladio, die Anschläge der Roten Brigaden und der Neofaschisten, Aufstieg und Fall des Silvio Berlusconi, um nur einige besonders prägnante Aspekte zu nennen. Indem der Autor die gegenseitigen Abhängigkeiten, Wechselwirkungen und strukturellen Verflechtungen dieser verschiedenen Phänomene untersucht, erschließt er seiner Leserschaft ein ansonsten verwirrendes, befremdliches oder allenfalls selektiv verkürztes Bild der ökonomischen, politischen und sozialen Wesenszüge der Gesellschaft Italiens.

Dessen Historie ist zugleich geprägt von bemerkenswert früh einsetzenden und fast durchgängig manifesten Kämpfen und Erhebungen gegen äußere Einflußnahme und einheimische Despoten, feudale Knechtung und industrielle Zurichtung. So ging es im Risorgimento (1789-1871), der Periode der nationalen Wiedergeburt, darum, den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papstes und die Fremdherrschaft der Bourbonen und Habsburger zu brechen, um das Feudalsystem zu beseitigen und den einheitlichen Nationalstaat und die bürgerliche Ordnung zu errichten. (S. 6) Ab 1863 bis zu seinem Tod im Jahr 1881 ist beispielhaft Guiseppe Garribaldi zu nennen, der mit seinen Rothemden als Führer des revolutionär-demokratischen Flügels der nationalen Bewegung und General der Befreiungskriege zum bedeutendsten Repräsentanten und Symbol des Kampfes aufstieg. Feldbauer hält als Bilanz fest, daß die bürgerliche Revolution als Bestandteil des Risorgimento einen Dreiviertelsieg errungen habe, da die Beseitigung des feudalen Grundbesitzes nicht erfüllt wurde. (S. 15)

Großen Einfluß auf die Arbeiterbewegung übte zunächst der russische Revolutionär und spätere Anarchist Michail Bakunin aus. Erst nach gescheiterten Aufstandsversuchen der Anarchisten schwand deren Dominanz, worauf sich marxistisch geprägte Strömungen durchsetzten. Die 1893 gegründete Sozialistische Partei (ISP) hatte zwar grundsätzlich marxistischen Charakter, klammerte aber die politische Machtergreifung aus. Dies führte zur Herausbildung eines linken revolutionären und eines reformistischen Flügels (S. 19), womit gewissermaßen das Grundmuster späterer Spaltungen wie auch unablässiger Bestrebungen, einer radikalen Linken die Zähne zu ziehen, angelegt war. Mit ihrer Ablehnung der Kriegskredite im Ersten Weltkrieg waren die italienischen Sozialisten dennoch die einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale, die diese Position bezog und überdies zu Generalstreiks aufrief, die jedoch blutig niedergeschlagen wurden.

In revolutionären Nachkriegskämpfen besetzten Arbeiter im Herbst 1920 alle großen Betriebe in Norditalien, wählten Fabrikräte und übernahmen die Leitung der Produktion. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifondistas Massencharakter an. Aus Angst vor der Revolution begannen die reaktionärsten Kreise, auf Mussolini zu setzen. Der Autor schildert ausführlich die keineswegs unaufhaltsam vollzogene, aber Zug um Zug vervollkommnete Durchsetzung der faschistischen Diktatur, die in Teilen ein Vorbild zur Machtübernahme der NSDAP in Deutschland abgab. Zugleich beschreibt er den verhängnisvollen Mehrheitskurs der ISP, die den Wahlerfolg vorzog und die Auflösung der Fabrikräte oder deren Zerschlagung betrieb. Diese Ausrichtung führte dazu, daß die Gruppe Neue Ordnung um Antonio Gramsci, Palmiro Togliatti, Umberto Terracini und Angelo Tasca die ISP verließ und im Januar 1921 die Kommunistische Partei Italiens (IKP) gründete. (S. 24)

Den wachsenden antifaschistischen Widerstand belegt die Beteiligung italienischer Kommunisten und Sozialisten an den Interbrigaden im spanischen Bürgerkrieg, deren Oberkommandierender bis zu seiner Verwundung der IKP-Vorsitzende Luigi Longo war. In Spanien bekräftigten Kommunisten und Sozialisten ihre Aktionseinheit mit dem Ziel der Beseitigung des Faschismus und Kapitalismus und des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft. Welche Wirkung dieses Bündnis entfalten konnte, zeigten die Erfolge der rasch wachsenden Partisanenarmeen im Zweiten Weltkrieg, die letztlich die Niederlage der deutschen Wehrmacht an dieser Front und die Befreiung Italiens fast im Alleingang und nicht selten gegen der Willen der Westalliierten erkämpften, die längst andere strategische Pläne verfolgten.

Nach der Niederlage des Faschismus wäre es den Linken angesichts der Kräfteverhältnisse wohl möglich gewesen, eine grundlegende Gesellschaftsveränderung einzuleiten. Bis zum Spätherbst 1945 bestand eine klassische revolutionäre Situation: IKP und ISP verfügten zusammen über eine breite Massenbasis, in den Städten und Gemeinden leiteten Komitees die Umgestaltung ein, massenhafte Landbesetzungen im Süden wurden von der Einheitsregierung legalisiert. Und nicht zuletzt bildeten die über eine halbe Million Mitglieder zählenden Partisanenformationen den Kern einer kampfentschlossenen Basis. (S. 41)

Warum es trotz dieser Konstellation, wie sie in Westeuropa nie wieder erreicht werden sollte, zu fatalen Kompromissen seitens der IKP-Führung kam, worauf sich die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Linken verschoben, analysiert der Autor mit aller gebotenen Schärfe. Im einbrechenden Kalten Krieg gewannen äußere und innere Interessen, Italien um keinen Preis "den Roten" zu überlassen, zunehmend die Oberhand. Wie man heute weiß, wurden in Washington jegliche militärischen, geheimdienstlichen, logistischen und propagandistischen Optionen zur Zähmung Italiens und Zerschlagung der Linken in Stellung und häufig auch zur Anwendung gebracht. Im Inneren sorgten bourgeoise, klerikale und faschistische Kräfte dafür, daß die radikale Opposition bekämpft, bezichtigt und nicht zuletzt unterwandert wurde. Feldbauer führt uns zu den wichtigsten Stationen der folgenden Jahrzehnte, wobei nicht zuletzt seine Untersuchungen zum Vatikan, zum Treiben der Geheimbünde und Geheimdienste und den jeweils führenden Kapitalfraktionen höchst aufschlußreich sind.

Einen Tiefpunkt markieren die Parlamentswahlen im April 2008, bei denen das linke Bündnis unter der Vier-Prozent-Sperrklausel blieb. Erstmals in der Nachkriegsgeschichte waren Kommunisten und Sozialisten - und mit ihnen die Grünen - nicht mehr im Parlament vertreten. (S. 105) Die Bildung einer Regenbogenlinken, die allen offenstehe, hatte zu einer Eigenkandidatur kleinerer Fraktionen geführt, die eine weitere Aufweichung nach dem Muster der Europäischen Linken befürchteten. Die 2009 von dem Starkomiker Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) schöpfte mit ihrer verbalradikalen Attitüde das verbreitete Protestpotential ab, stellte seit 2012 vier Bürgermeister und belegte bei der Parlamentswahl 2013 mit 25,5 Prozent den dritten Platz. Im Juni 2016 zeigte sich erneut, daß der kleinbürgerlichen Protestbewegung ein tiefer Einbruch in die Wählerschaft von Mitte-Links gelungen war: Virginia Raggi vom M5S wurde Bürgermeisterin von Rom. Seither sinken die fünf Sterne. Raggi versprach alles zu ändern, was in der Hauptstadt nicht funktioniert, doch ist ihr davon bislang nichts gelungen. Rücktritte, mutmaßliche Kontakte zur Mafia Capitale in ihrem Umfeld und geringe Berührungsängste der M5S mit rechten Kräften dürften den weiteren Absturz der Bewegung beschleunigen, welche die Ausmusterung dezidiert gesellschaftkritischer Positionen zugunsten diffuser Proteststimmungen auf eine neue Spitze getrieben hat. (S. 126)

Im Epilog wirft der Autor die Frage auf, welchen Einfluß Italiens Kommunisten auf den weiteren Weg des Landes nehmen können. Seit ihrer Gründung 1921 habe die IKP siebzig Jahre lang entscheidenden Einfluß auf die Zurückdrängung von Reaktion und Faschismus sowie die Gestaltung des Fortschritts ihres Landes ausgeübt. Mit der Beseitigung der IKP 1991 sei es zur Krise der Linken gekommen, die eine reaktionäre Wende beförderte. Die Linken und mit ihnen die Sozialisten seien in einer in ihrer gesamten Geschichte nicht gekannten Zerrissenheit und Spaltung versunken. Suche man nach den Ursachen dieses Niedergangs, stoße man auf die von Lenin hinterlassene Binsenweisheit, daß eine Kommunistische Partei zum Scheitern verurteilt sei, wenn sie nicht mit dem Opportunismus bricht. (S. 134) Mutlosigkeit oder Resignation sind Feldbauers Sache nicht, und so verweist er abschließend auf eine Initiative organisierter und nichtorganisierter Kommunisten, die sich zu ihrer Identität bekennen und ihre Spaltung überwinden wollen.

24. Juli 2017


Gerhard Feldbauer
Geschichte Italiens
Vom Risorgimento zur Gegenwart
PapyRossa Verlag, Köln 2017
138 Seiten, 9,90 Euro
ISBN 978-3-89438-626-9


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