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REZENSION/655: Tomasz Konicz - Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa (SB)


Tomasz Konicz


Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa



Der alljährliche Ausblick auf die Entwicklung der Weltwirtschaft fiel dieses Mal noch düsterer aus als in den Vorjahren. Auf der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank wurden niedriges Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit und Verschuldung auf unabsehbare Zeit prognostiziert. Auch außerhalb der die neoliberale Globalisierung maßgeblich vorantreibenden Weltfinanzinstitutionen können die Ökonomen keinen Silberstreif am Horizont der langfristigen Stagnation, des zentralen Merkmals der seit 2008 manifesten Krise des Kapitals, entdecken. Trotz der bei einigen Zentralbanken schon ins Negative gekippten Niedrigzinspolitik und einer Politik der Quantitativen Lockerung, die die Finanzmärkte mit Liquidität überschwemmt, bleiben Investitionen, Umsatz, Nachfrage und damit Wachstum weltweit schwach. Die Rede ist bereits von einer globalen Liquiditätsfalle, in der die Freisetzung von immer mehr Geld dennoch nicht zu dem erwünschten Resultat industriellen und wirtschaftlichen Wachstums führt.

Den Journalisten Tomasz Konicz, der regelmäßig für Telepolis, Konkret, Neues Deutschland und andere linke Publikationen schreibt, kann dies nicht überraschen. In dem im September 2015 vorgelegten Buch "Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa" geht er von nichts anderem aus als einer seit den 1970er Jahren anhaltenden Verwertungsproblematik des kapitalistischen Weltsystems, die auch durch den in der Krise des Fordismus hegemonial gewordenen Neoliberalismus nicht aufgehoben, sondern lediglich in ihrem negativen Verlauf verzögert wurde. In der dadurch verschärften Krisenkonkurrenz gibt es nichts mehr zu gewinnen, vielmehr versuchen die nationalen Akteure, ihre Marktpositionen im allgemeinen Abstieg zu Lasten anderer Staaten und Bevölkerungen so gut wie möglich zu verteidigen. Die bloße Sicherung des erreichten Standes an ökonomischer Stabilität und gesellschaftlicher Kohäsion kann in Anbetracht der sozialen Zerstörungen, von denen immer mehr Länder heimgesucht werden, schon als politischer Erfolg gewertet werden. Vor diesem Hintergrund erweist sich auch das populäre Deutungsmuster, das die Misere anwachsender Ungleichheit in der bloßen Gier nach mehr verortet, als kurzschlüssige Deutung einer Krise, deren systemische Widersprüche fundamentalere Schritte gesellschaftlicher Veränderung erfordern als die bloße Umverteilung in wenigen Händen konzentrierter Reichtümer.


Spardiktate und Defizitkonjunkturen im Deutschen Europa

Ausgehend von der Frage, wieso sich die spätkapitalistische Wirtschaft nicht mehr ohne anwachsende Verschuldung reproduzieren kann, schildert Konicz, wie der Kapitalismus zu produktiv für sich selbst geworden ist, also die aus Arbeitslöhnen generierte Kaufkraft dem produzierten Warenangebot mit wachsendem Abstand hinterherhinkt. Die insbesondere mit informationstechnischen Mitteln forcierte Rationalisierung der Produktion verringert den zur Herstellung eines Produktes notwendigen Anteil an menschlicher Arbeitskraft und damit auch den nur aus dieser zu schöpfenden Mehrwert, an dessen Stelle immer mehr fiktives, aus Krediten und nicht aus Arbeitserträgen geschöpftes Kapital tritt, um Konsum und Investitionstätigkeit aufrechtzuerhalten. Je effizienter und produktiver die zur gesellschaftlichen Reproduktion erforderlichen Güter hergestellt und Dienstleistungen ausgeführt werden, desto mehr steht die dazu erforderliche Arbeit unter dem Diktat der Kostensenkung. Dieser Entwertungsdruck wirkt sich nicht nur negativ auf den rentablen Absatz der durch sie produzierten und verfügbar gemachten Waren aus, er verursacht auch anwachsende Existenznot und unterwirft die Lohnarbeit der Verfügungsgewalt der Gläubiger, die sie im Wortsinne immer weniger wertschätzen.

Dieser "prozessierende Widerspruch", so Marx, der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt die Entwicklungslogik der Krisentheorie, auf die Konicz Bezug nimmt. Deren Verwurzelung in der von Robert Kurz initiierten Schule der Wertkritik tritt insbesondere dort hervor, wo die Rede vom "blinden" oder "unbewussten" Charakter krisendynamischer Prozesse ist. Deren Verortung in einer kognitiven Subjektivität, zu der seit langem eine kontroverse Debatte geführt wird, nimmt der politökonomischen Analyse objektiver Verfalls- und Entwertungsprozesse jedoch nichts von ihrer Gültigkeit. Daß es um nichts anderes als die Überwindung herrschender Verhältnisse gehen kann, steht für den Autor außer Zweifel, laufen diese doch, wie der manifeste, durch Krisenkonkurrenz und soziale Verelendung befeuerte Aufschwung nationalistischer und rassistischer Ressentiments belegt, Gefahr, erneut den Weg der Barbarisierung einzuschlagen. Für Konicz ist es "letztlich ein ums Ganze gehender Unterschied, ob der Kapitalismus von einer emanzipatorischen Bewegung aktiv überwunden wird oder an seinen eigenen Widersprüchen kollabiert". Daß im letzteren Fall die "endgültige, irreversible Niederlage der antikapitalistischen Linken" (S. 158) droht, wäre in Anbetracht der Verwüstungen, die Konicz unter Verweis auf den von Robert Kurz antizipierten Weltbürgerkrieg befürchtet, nur der i-Punkt auf der Bilanz ihres Scheiterns.

So entwickelt der Autor sein Thema, den neuerlichen Griff der deutschen Funktionseliten nach europäischer Hegemonie, gemäß seiner Erkenntnis, daß er dieses Mal mit politökonomischen Mitteln erfolge, anhand der detaillierten, mit Wirtschaftsdaten umfassend unterlegten Analyse der mit dem Ausbruch der Eurokrise eintretenden Geburtsstunde des "'Deutschen Europa', in der die drückende ökonomische Überlegenheit der BRD in einen politischen Führungsanspruch umgewandelt wurde" (S. 9). Zu lesen ist die Geschichte des nationalen Aufstiegs der Bundesrepublik in einem transnationalen Staatenbund, der paradoxerweise mit vertragsrechtlichen und währungspolitischen Mitteln, die einmal auf die Einhegung Deutschlands abzielten, den Interessen des dort angesiedelten Monopolkapitals unterworfen wird. Die Verarmung der süd- und osteuropäischen Peripherie ist maßgeblich einer an monetaristischer Geldwertstabilität orientierten Sparpolitik geschuldet, die die deutsche Wirtschaft bevorteilt, weil die organisierte Abwertung von Löhnen und Unternehmenssteuern im eigenen Land den Standortwettbewerb zu ihren Gunsten entscheidet. Die schon zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung durch eine unternehmensfreundliche Steuerreform, die Senkung der Lohnnebenkosten, die Lockerung des Kündigungsschutzes und durch Leistungskürzungen im Gesundheitswesen bewirkte Prekarisierung weiter Teile der Lohnabhängigenklasse hat eine Exportoffensive befeuert, die der BRD bis heute Leistungsbilanzüberschüsse in exorbitanter Höhe beschert.


Weltweiter Export europäischer Widerspruchslagen

Da diese eins zu eins mit den Handelsdefiziten der Abnehmer deutscher Exporte zu verrechnen sind und sich die erfolgreiche Niedriglohnkonkurrenz der Bundesrepublik in den Zielländern der Eurozone durch anwachsende Arbeitslosigkeit als Ausdruck einer sozialen anstatt der nicht mehr möglichen monetären Abwertung auswirkt, zehrt das Wachstum der BRD letztlich von der Substanz der Eurozonestaaten mit negativer Leistungsbilanz. Konicz erweitert die von ihm geschilderte Systematik europäischer Defizitkreisläufe auch auf den außereuropäischen Handel insbesondere mit den USA, der angesichts der Kannibalisierung der Eurozone und der realen Vernichtung ökonomischen Potentials, wie es am Beispiel Griechenland vorexerziert wird, von zunehmender Bedeutung für die Fortsetzung des deutschen Akkumulationsmodells ist. Es liegt auf der Hand, daß auf diese Weise auch Klassenwidersprüche exportiert werden, deren Bewältigung aufgrund der inhärenten Logik, die Kompensation allgemeiner Wachstumsschwäche nicht unendlich durch Spardiktate und Exportoffensiven kompensieren zu können, lediglich aufgeschoben und nicht aufgehoben sind.

Von der Gefahr seiner dialektischen Aufhebung belastet ist daher auch die EU-weite Verallgemeinerung des deutschen Modells der Austeritätspolitik durch die Etablierung Hartz-IV-gemäßer Workfare-Regime, der Schuldenbremse des Fiskalpaktes und einer Economic Governance, die die haushaltspolitische Souveränität der Mitgliedstaaten enggeschnittenen finanzpolitischen Konvergenzkriterien unterwirft. Etwaige Versuche, der deutschen Finanz- und Währungshegemonie durch keynesianistische Konjunkturprogramme entgegenwirken zu wollen, scheitern in der Regel an den durch die Schuldenkrise beseitigten Verteilungsspielräumen. Dem an die von Konicz geschilderten inneren Schranken der Kapitalverwertung stoßenden Entwicklungsstand des kapitalistischen Weltsystems gemäß sind die Möglichkeiten, auf diesem Wege einen neuen Aufschwung zu initiieren, ohnehin gering. Wo Wachstum hauptsächlich an einem Finanzmarkt stattfindet, auf dem die spekulative Bewertung arbeitsfreier Eigentums- und Rechtstitel immer neue Blasen fiktiven Kapitals treibt, gewinnen vor allem Schulden an Wert, während die Steuereinnahmen stagnieren und die Zinssätze der Staatsverschuldung, bei der es sich im wesentlichen um die Sozialisierung privater Schulden handelt, gerade bei Ländern mit Haushaltsproblemen hoch sind.

Ob die EU-europäische Verallgemeinerung des deutschen Krisenmanagements in Form handelspolitisch nach außen projizierter Widerspruchslagen erfolgreich sein könnte, ist angesichts der desolaten Lage der gesamten Weltwirtschaft zumindest zweifelhaft. Konicz stellt zwar anwachsende Handelsüberschüsse der Eurozone fest und deutet diese als "Reproduktion des deutschen Neomerkantilismus auf europäischer Ebene"(S. 128), doch auch der Schritt auf die nächsthöhere Stufe neomerkantilistischer Politik wird in den Zielländern der Exporte von Verschuldungsproblemen und Rezessionsgefahren behindert, die ein daran geknüpftes Wachstum nur vorübergehend vorstellbar erscheinen lassen. So ist es kein Zufall, daß die Sanierung der Eurozone auf Kosten außereuropäischer Länder durch die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank unterstützt wird, und zwar erst seit 2014, als das deutsche Sparregime in der gesamten Eurozone durchgesetzt worden war. Dabei steht das erklärte Ziel der Öffnung des Geldhahnes, die Deflationsbekämpfung, im Widerspruch zur Entwertung von Sparvermögen und Pensionsansprüchen, die wiederum den Warenkonsum einschränken.

Aus diesen und anderen Gründen hat das "Deutsche Europa" für Konicz seinen Zenit bereits überschritten und befindet sich auf dem Wege des Zerfalls. Zum einen droht die desolate Lage in der Eurozone selbst "als eine Initialzündung für einen neuen globalen Krisenschub zu fungieren, der die Liquiditätsblase platzen lassen würde, in der das kapitalistische Weltsystem seit dem Platzen der Immobilienblasen 2007/2008 verfangen ist" (S. 148). Die Finanzierbarkeit der aufgelaufenen Kredite in der Eurozone steht in direktem Zusammenhang zu den Finanz- und Warenmärkten außerhalb Europas, die ihrerseits mit wachsenden Problemen konfrontiert sind. Die lange Phase, in der die US-Notenbank die Krise durch eine Nullzinspolitik zu kompensieren versuchte, ist seit wenigen Monaten beendet, was das bis dahin auf der Suche nach höheren Renditen in die Schwellenländer strömende Kapital wieder in die Zentren zurückfließen läßt. Die angesichts des schwachen Wachstums und eines wieder teurer werdenden Dollars in Frage gestellte Begleichung der im Globalen Süden aufgelaufenen Kredite gefährdet auch deutsche Exporte, Investitionen und Zahlungsforderungen, so daß die Fortsetzung des deutschen Akkumulationsmodells keineswegs sichergestellt ist.

Dies wiederum verschärft die sozialen Verhältnisse innerhalb Europas und einer EU, deren Mitglieder sich nie von nationalstaatlicher Krisenkonkurrenz gelöst, sondern diese unter dem Vorwand notwendiger Wachstums- und Wettbewerbssteigerung sogar noch vertieft haben. Die widersprüchliche Situation einer angeblichen Überwindung nationaler Egoismen in einem strukturell auf neoliberale Standortkonkurrenz ausgerichteten Staatenbund hat nationalistischen Restaurationsbestrebungen und rassistischen Kulturalismen Tür und Tor geöffnet. "Der Nationalismus ist zum ideologischen Spielball beim eskalierenden Wirtschaftsstandortkrieg geworden. Mit der langsamen Auflösung und Zerfaserung der nationalen Volkswirtschaft in der krisenhaften Globalisierung verliert also auch die nationale Identität ihr Fundament - und deswegen wird sie so wandlungsfähig, instabil und potenziell bösartig." (S. 152)

Ausführlich analysiert der Autor, wie sehr diese Situation den manifesten Aufstieg rechter Kräfte begünstigt, und warnt zudem vor einer europäischen Regionalisierung im Sinne einer forcierten Ausdifferenzierung neoliberaler Wettbewerbsstrukturen, die in der sozialräumlich ohnehin zerrissenen Geographie der EU Bruchlinien vertiefte, in denen die "Wechselwirkung von Systemkrise, Systemkollaps und Separatismus" (S. 151) explosive Wirkungen zeitigen könnte. Wo hochproduktive warenproduzierende Industrien, die hauptsächlich für den Weltmarkt produzieren, auf räumlich eng umgrenzte Cluster konzentriert werden, wird das nicht mehr mit billigen Servicejobs in ihre Zuarbeit integrierte Umfeld immer bedeutungsloser, wie Konicz ausführlich analysiert. Im Ergebnis nimmt die "Verflechtung mit den ökonomisch abgehängten und deindustrialisierten Regionen innerhalb derselben Nation (...) immer weiter ab. Bayern und Baden-Württemberg bilden mit ihrer avancierten sozioökonomischen Struktur somit eher einen Teil der Clusterbildung rund um den Alpenraum, wo in Norditalien, Teilen Österreichs und der Schweiz wirtschaftliche Konzentrationsprozesse ablaufen - bei gleichzeitiger Deindustrialisierung in weiten Teilen Europas" (S. 151).

Für Konicz bildet die Ausbildung einer ressentimentgeladenen Regionalisierung der gesellschaftlichen Produktionsweise lediglich die Innenseite eines europäischen Krisenprozesses ab, der in der Ausbildung transnationaler und transatlantischer Verwertungsräume in die Welt projiziert wird. Wenig Gnade findet daher auch die Durchsetzung des Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) in seinen Augen, dient es doch der Einebnung mühsam errungener Rechte der Lohnarbeiterklasse auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner: "Der Spätkapitalismus als transatlantische Postdemokratie, in der rechtsextreme Ideologien und identitärer Wahn blühen - diese Dystopie scheint mit dem TTIP Wirklichkeit werden zu können" (S. 153).

Aus politökonomischer Sicht geht Konicz von der Etablierung einer transatlantischen Defizitkonjunktur aus, mit der die Eurozone trotz des deutschen Spardiktates aus der Deflation geführt werden soll:

"Es ist eine Flucht nach vorn: Die verheerenden ökonomischen und sozialen Folgen der letzten geplatzten Finanzblase in Europa sollen unter Einsatz einer neuen transatlantischen Finanzblasenbildung zumindest vorübergehend überwunden werden. Auf erweiterter transatlantischer Ebene soll ein ähnlicher Prozess angestoßen werden, wie er im Rahmen der Gründung und Expansion der Europäischen Union abgelaufen ist - und Europa bis zum Krisenausbruch ein knappes Jahrzehnt kreditfinanzierten Wachstums beschert hat.

(...) 

Konfrontiert mit der manifesten inneren Schranke der Kapitalverwertung, dem Abschmelzen der wertbildenden Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion, verfolgt die Politik bereits seit einiger Zeit jene Strategien, die in TTIP nur ihre extremistische Vollendung finden: Lohnkahlschlag, Privatisierungen, Deregulierung insbesondere der Finanzsphäre. All diese Optionen zur Sanierung der Verwertungsbedingungen führen zur langfristigen Destabilisierung des Gesamtsystems. Die Absenkung des Preises der Ware Arbeitskraft (seit den Achtzigern stagnieren die realen Löhne in den USA) hat die Massennachfrage einbrechen lassen; nur durch Privatisierungsprozesse auf den Finanzmärkten konnte sie um den Preis immer größerer Verschuldung reanimiert werden. Das eröffnet zwar dem Kapital neue Verwertungsfelder, doch bringt es mittelfristig den Verfall der spekulativ heimgesuchten Infrastruktur mit sich." (S. 154) 

Zu Recht erinnert der Autor daran, daß die verbreitete Annahme, bei TTIP handle es sich um eine einseitige Offensive US-amerikanischer Kapitalinteressen, nicht der Realität entspricht, sondern die Etablierung einer transatlantischen Freihandelszone mindestens ebensosehr im Rahmen des europäischen Krisenmanagements vorangetrieben wird [1]. So geht Konicz auch auf die geostrategischen Implikationen der gegen den Globalen Süden im allgemeinen und gegen Rußland wie China im besonderen gerichteten Absicht der schlußendlichen Schaffung einer atlantisch-pazifischen Freihandelszone ein, wie er auch entsprechende Überlegungen zur Rolle Deutschlands im Konflikt um die Ukraine anstellt.


Taugt die Mosaik-Linke noch zur Klassensolidarität?

Diskussionswürdig hingegen ist die in der Tradition der wertkritischen Schule stehende Aufgabe des Klassenbegriffs. Dies liegt auf der Linie ihrer an systemtheoretische Selbstregulation gemahnenden Prozeßlogik, jeglichen klassenkämpferischen Ansatz als realitätsfern zu entsorgen. So überantwortet die These eines aus sich selbst heraus fungierenden "automatischen Subjekts" der Kapitalverwertung doch das eigene Handlungsvermögen ohne Not an eine Instanz, die den Durchgriff konkreter Herrschaftsverhältnisse auf kognitiver Ebene abstrahiert, anstatt die materialistische Analyse und Kritik an den Anfang sozialen Widerstands zu stellen. Dies wäre auch ein wirksames Antidot gegen die von Konicz genannte Gefahr einer Personalisierung kapitalistischer Wirkprinzipien und ihrer bekannten Implikationen vulgärmaterialistischer Art. So kann die vorherrschende Sachzwanglogik, aufgrund derer angeblich alternativlose Krisenlösungen neoliberaler wie keynesianistischer Art propagiert werden, durchaus als interessengebundenes Konstrukt politischer Definitionsmacht entlarvt werden, ohne sogleich dem moralisierenden Klischee vom gierigen Kapitalisten zu verfallen. Zudem sollte nicht ausgeschlossen werden, daß es zum Instrumentarium kalkulierten Regierungshandelns gehören kann, Krisen bewußt eskalieren zu lassen, um den Druck auf die Lohnabhängigen zu verstärken oder eine gegen unliebsame Konkurrenz gerichtete Marktbereinigung herbeizuführen [2].

Hinsichtlich der orthodoxen Auffassung von der Einheit der Arbeiterklasse trifft die Erkenntnis des Autoren, die "Klassen, das Proletariat wie die Kapitalisten", befänden sich "gerade in ihrer krisenbedingten Auflösung" (S. 159), sicherlich zu, muß jedoch nicht für alle daran anknüpfenden Veränderungen der Klassenzusammensetzung gelten. Eine an positivistischer Soziologie orientierte Gesellschaftsanalyse ist bei Veränderungsschritten aus unterlegener Position, die in Anbetracht herrschender Gewaltverhältnisse ohnehin nur mit großer Mühe zu gehen sind, wenig hilfreich. Zwar bedarf die Ermächtigung des Subjekts zu sozialer Emanzipation nicht der Subsumierung unter den Klassenbegriff, doch kann eine solche Positionierung in antagonistischen Verhältnissen die Organisation kollektiver Handlungsmacht, wenn sie zum Zweck gemeinsamen Kämpfens und nicht bloß affirmativer Identifikation Verwendung findet, nach wie vor unterstützen.

Wo das pluralistische Transformationskonzept der postmodernen Mosaik-Linken Gefahr läuft, in Positionslosigkeit zu verebben, bleibt die klassenkämpferische Linie linker Geschichte auch deshalb ein verbindlicher Maßstab sozialrevolutionären Handelns, weil sie in vielen Ländern des Globalen Südens oder auch der europäischen Peripherie weit lebendiger ist als unter den saturierten Bedingungen der Bundesrepublik. Interessanterweise leitet Konicz die Kritik am Klassenbegriff mit einem Ausblick auf eine mögliche Qualifikation herrschaftlicher Entwicklung ein, die sich ebensogut als Argument für seine zukünftige Funktionalität nutzen ließe:

"Die vermittelte Macht der kapitalistischen Märkte, der stumme Zwang der Verhältnisse, welche die Herrschaft im Kapitalismus kennzeichnen, könnte sich im Transformationsverlauf in direkte, persönliche Herrschaftsverhältnisse wandeln. Ansätze hierzu gibt es bereits bei den Sklavenmärkten des Islamischen Staates, auf denen schon jetzt 'erbeutete' Frauen und Mädchen gehandelt werden, oder sind in den deutschen Hartz-IV-Arbeitsgesetzen, die letztendlich eine Klasse von staatseigenen Zwangsarbeitern geschaffen haben, vorhanden." (S. 158) 

Ergänzen ließe sich hier die Zuspitzung materieller Abhängigkeitsverhältnisse, bei denen, wie schon im Fall von Asylbewerbern praktiziert, Sachleistungen an die Stelle frei verfügbaren Geldes treten, oder die durch die informationstechnische Aufrüstung administrativer Verfügungsgewalt realisierbare Individualisierung sozialer Kontrolle, mit der sich etwa eine zwingende Korrelation von Leistungsbereitschaft und Verbrauchsansprüchen etablieren ließe.

Langer Rede kurzer Sinn: Konicz hat eine lesenswerte, die unerläßliche theoretische Durchdringung kapitalistischer Krisendynamik vertiefende Analyse mit besonderem Blick auf das "Deutsche Europa" und die Dialektik seines Niedergangs verfaßt. Stehen die hegemonialen Ambitionen der Bundesrepublik auch im Mittelpunkt der Betrachtung, so gelingt es dem Autor, deren aktive wie passive Einbettung in sich weltweit entfaltende Zerstörungprozesse auf den gemeinsamen Nenner einer zusehends transnational bestimmten Verwertungslogik zu bringen. Das Buch schließt mit Überlegungen zu den Bedingungen, unter denen die Linke sich in diesem Krisenszenario positionieren kann, denen schon in Anbetracht der Unterlegenheit, in der sich emanzipatorische Positionen gegenüber den sozialdarwinistischen Imperativen herrschender Vergesellschaftungslogik [3] befinden, zu wünschen ist, Eingang in eine fruchtbare Diskussion zu finden.


Fußnoten:

[1] BERICHT/075: Das Anti-TTIP-Bündnis - beim Thema bleiben ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0075.html

[2] REZENSION/654: Detlef Hartmann - Krisen Kämpfe Kriege (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar654.html

[3] HERRSCHAFT/1723: Die Logik sozialdarwinistischen Erfolgsstrebens brechen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1723.html

Tomasz Konicz
Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa
Unrast Verlag, Münster 2015
192 Seiten, 14,00 Euro
ISBN 978-3-89771-591-2


20. April 2016


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