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REZENSION/602: Pussy Riot - Ein Punkgebet für Freiheit (SB)


Pussy Riot!


Ein Punkgebet für Freiheit



Auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin (ilb) wurde der heutige 12. Dezember 2012 zum Solidaritätstag für die feministische russische Künstlergruppe Pussy Riot erklärt. Mit Unterstützung der Literaturnobelpreisträger Elfriede Jelinek und Mario Vargas Llosa rief die Festivalleitung zur weltweiten Solidarität mit den verfolgten jungen Russinnen auf [1]. Bereits im August hatte das ilb zu einer Benefizveranstaltung zur Unterstützung von Pussy Riot aufgerufen. Autoren und Kulturschaffende aus aller Welt "verneigen sich vor Nadeschda Tolokonnikowa, Jekatarina Samuzewitsch, Maria Alechina", so Festivalleiter Ulrich Schreiber. Sie hätten mit ihrem Protest "der Welt" gezeigt, "dass es ein anderes Russland gibt, das sich weder von dieser Kirche noch von der politisch herrschenden Klasse die Art und Weise ihres Ausdrucks verbieten lässt", hieß es im damaligen Aufruf [2].

Nun kann der politische wie kulturelle Stellenwert widerständigen Agierens und Propagierens in einer Zeit wie der gegenwärtigen gar nicht hoch genug bewertet werden, stehen doch die aktuellen, im engsten Wortsinn brennenden und noch ungelösten Menschheitsfragen in einem umgekehrten Verhältnis zu der Bereitschaft vieler Menschen, sich in gesellschaftlichen Belangen über das Maß der bloßen Akklamation sozialer wie politischer Mißstände und daran geknüpfter Forderungen hinausgehend selbst dann an der politischen Gestaltung zu beteiligen, wenn dieses Engagement, konsequent und unbeirrbar verfolgt, zu Konfrontationen und Konflikten mit der Staatsgewalt führen könnte. Im Klappentext des nun erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit" in der Edition Nautilus vorgelegten Bandes, einer von der Gruppe bzw. ihren Mitgliedern stammenden Textsammlung, die im September in den USA erstveröffentlicht wurde, ist denn auch vom mutigen Widerstand dieser Frauen die Rede:

PUSSY RIOT! versammelt Briefe, Plädoyers, Erklärungen und Gedichte der drei Künstlerinnen, die von der russischen Willkürjustiz zu zwei Jahren Straflager verurteilt wurden. Die Texte bieten ein bedrückendes Bild von der "russischen Demokratie", vom Filz zwischen Staat und Kirche, von der Realität im Gerichtsverfahren und im Gefängnisalltag - sie zeigen aber auch, wie mutig und stark der Widerstand dieser Frauen ist.

Die Justiz eines Staates mit dem Etikett "Willkür" zu versehen, offenbart eine grundsätzlich kritische Haltung diesem gegenüber. Ein Staat, dessen rechtliche Organe demokratischen Ansprüchen und Maßstäben nicht genügen und der das beanspruchte Gewaltmonopol einsetzt, um bestimmten Herrschaftsinteressen zur Durchsetzung zu verhelfen, kann selbstverständlich als Willkürapparat bezeichnet werden. Weder aus dem Klappentext noch dem gesamten Inhalt des vorliegenden Bandes geht jedoch hervor, ob und wenn ja inwiefern die bedrückende Realität russischer Gerichtssäle, Polizeiwachen und Gefängnisse sich von den entsprechenden, nicht minder bedrückenden Verhältnissen in anderen Staaten unterscheidet, und so bleibt die Frage offen, ob sich das repressive System Rußlands von den westlichen Führungsstaaten, die in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit so etwas wie eine weltweite Meinungsführerschaft und Definitionshoheit für sich beanspruchen, tatsächlich deutlich absetzen läßt.

Die repressiven Verhältnisse Rußlands zu kritisieren und für junge Menschen, die mit ihnen wie die drei verurteilten Frauen der feministischen Punkgruppe Pussy Riot konfrontiert sind, Partei zu ergreifen, kommt einer Selbstverständlichkeit gleich auf der Basis einer Position, die sich generell und ebenso bedingungs- wie ausnahmslos in dem prekären Verhältnis zwischen betroffenen Bürgern und staatlicher Allmacht auf die Seite der Schwächeren stellt. Ebensowenig jedoch, wie es Anlaß zu der Vermutung gibt, daß Rußland - genauer gesagt die auf die am 12. Dezember 1993 in Kraft getretene und zuvor von der Bevölkerung in einem Referendum angenommene Verfassung gegründete Russische Föderation -, von einer solchen Staatskritik auszunehmen sei, gibt es allerdings auch überzeugende Gründe für die Annahme, daß sie für andere Staaten nicht ebenso gelte.

In Tradition und Geschichte der Protestkulturen und Widerstandsbewegungen hat sich allerdings abgezeichnet, daß sich ihre Akteure in erster Linie gegen die Repressionsapparate zur Wehr setzen, mit denen sie selbst konfrontiert sind, also mit der Regierung(spolitik) im eigenen Lande und natürlich auch mit dessen Polizei und Justiz. Internationalistische Ansätze, wie sie beispielsweise in der Studentenbewegung der 1970er Jahre weit verbreitet waren, standen dazu nicht unbedingt im Widerspruch, da diesem Protest beispielsweise gegen den von den USA geführten Krieg in Vietnam die Analyse vorausgegangen war, daß auch die Bundesrepublik Deutschland als treuer Vasall Washingtons an ihm mitbeteiligt war. Davon scharf zu trennen sind Vereinnahmungs- und Intrumentalisierungsbestrebungen, die auf politische Hegemonialkonflikte zwischen Staaten oder Staatengruppen zurückzuführen und dadurch gekennzeichnet sind, daß Proteste und innerhalb eines anderen Staaten bestehende Konflikte von ausländischen Interessengruppen angeheizt, finanziert und deren Akteure womöglich sogar mit Waffen ausgestattet werden, um einen als gegnerisch definierten Staat bzw. dessen Regierung zu schwächen oder zu Fall zu bringen.

Wenn nun eine russische Punkgruppe, die fraglos von einer alles andere als milde gestimmten Justiz hart abgestraft wurde, ein internationales Renommee erlangt hat, das seinesgleichen sucht, liegt der Verdacht nahe, hier könne das kulturaktionistische Aufbegehren junger Russinnen von westlichen Staaten, die aus hegemonialpolitischen Gründen in einem Spannungsverhältnis zur Putin-Regierung stehen und über deren Agieren im Weltsicherheitsrat, wo diese ein geschlossenes Vorgehen gegen Syrien immer wieder behindert, "not amused" sind, zum Anlaß genommen werden, das internationale Ansehen Rußlands herabzuwürdigen. Die als Nautilus-Flugschrift nun auch auf deutsch erschienene Textsammlung "Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit" bietet insofern eine willkommene Gelegenheit, sich näher mit diesem Justizskandal und seiner internationalen Rezeption zu befassen. Sie enthält das inkriminierte Punkgebet, weitere Texte der Gruppe, aber auch Briefe der inhaftierten Frauen aus dem Gefängnis, die Plädoyers der Staatsanwaltschaft wie auch der Verteidigung und die Schlußerklärungen der drei Frauen vor Gericht.

Bei ihnen handelt es sich um die 1989 geborene Nadeschda Andrejewna ("Nadja") Tolokonnikowa, die in Moskau Philosophie studiert, die Künstlergruppe Woina (Krieg) mitbegründet und sich bereits vor den Präsidentschaftswahlen 2008 durch provokative Straßenkunst einen Namen gemacht hat. Sie wurde wie auch Marija ("Mascha") Aljochina, die in Moskau Journalistik studiert und sich für Umweltprojekte und psychisch kranke Kinder engagiert, und Jekaterina ("Katja") Samuzewitsch, die als Programmiererin beim Rüstungskonzern Morinformsistema-Agat gearbeitet hat, eine Fotoschule besucht und ebenfalls zur Gruppe Woina gehört, am 12. August 2012 zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Gegen Katja wurde dieses Urteil später zur Bewährung ausgesetzt, die anderen beiden jedoch, Nadja und Mascha, befinden sich ungeachtet zahlreicher Freilassungsforderungen und internationaler Proteste gegen ihre Kriminalisierung noch immer in Haft.

Im Vorwort zur im September beim Verlag Feminist Press erschienenen US-amerikanischen Originalausgabe schrieb Amy Schoulder, daß die Frauen des New Yorker Verlags die in der Untersuchungshaft von den drei inhaftierten Frauen geschriebenen Briefe und Gerichtserklärungen "wie Millionen Menschen auf der ganzen Welt" gelesen hätten und daß sie in diesen Erklärungen "erstaunlich klar" Stellung nähmen "zur miserablen Lage der Bürgerrechte in Russland sowie zur Korruption im inneren Kern der russischen Regierung, die eine taktische Allianz mit einer mächtigen religiösen Institution eingegangen ist" (S. 10). In New York wie in vielen anderen Städten der westlichen Welt scheinen die Ereignisse um Pussy Riot mit großem Interesse verfolgt zu werden. In den USA rufen die Todesstrafenpraxis wie auch eine Vielzahl von Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen, die von US-amerikanischen Soldaten im Zuge ihrer Weltordnungskriege begangen wurden, aber auch rassistische Polizeiübergriffe in vielen Städten des Landes immer wieder Proteste von Bürgerrechts- und Menschenrechtsorganisationen hervor. Die gegen die Putin-Regierung im Zusammenhang mit einer Punkgirlband erhobenen Vorwürfe weisen allem Anschein nach jedoch keine Qualität auf, die imstande wäre, diesen Rahmen angewandter Repression zu sprengen.

Für das Vorwort zur deutschen Ausgabe konnte die 26jährige britische Bloggerin, Feministin und Publizistin Laurie Penny gewonnen werden, deren Buch "Fleischmarkt. Weibliche Körper im Kapitalismus", eine Streitschrift gegen Schönheitswahn und Pornographie, ebenfalls bei Nautilus erschienen ist. Sie erklärte sich mit den "drei unerschrockenen jungen Frauen" solidarisch und forderte ihre Freilassung, erweiterte diese Solidaritätserklärung jedoch auch auf alle Frauen und Männer, die auf der ganzen Welt in grausamen Gefängnissen inhaftiert sind, "weil sie es gewagt haben, gegen Diktatur, Männerherrschaft und Zensur den Mund aufzumachen" (S. 9). Penny nimmt in einer Weise zu den Vorfällen um Pussy Riot Stellung, die nicht geeignet ist, die russische Regierung in einem mitgedachten Kontrast zu anderen und allein an den Pranger zu stellen, erklärte sie doch (S. 8):

Russland hat nicht das Monopol auf Scheinheiligkeit, was abweichende Meinungen angeht. Heute, während ich das hier schreibe, steht in Großbritannien ein junger Freund von mir vor Gericht, wo er sich für die fadenscheinige Straftat "gewalttätige Ausschreitungen" verantworten muß; sollte er verurteilt werden, droht ihm über ein Jahr Haft. Er wird beschuldigt, 2010 an einer Demonstration gegen die Verdreifachung der Studiengebühren teilgenommen zu haben, bei der er eine lebensgefährliche Hirnverletzung erlitt. In den letzten Jahren wurden Hunderte von Aktivisten und Künstlern wegen nichtgewalttätiger Proteste und Demonstrationen ins Gefängnis gesteckt, nicht nur in Russland, auch in Europa und in Amerika.

Mit Beginn der russischen Präsidentschaftswahlen war Pussy Riot im Oktober vergangenen Jahres aktiv geworden. Mit Auftritten auf öffentlichen Plätzen hatte die Gruppe immer wieder ihre Kritik an Putin bzw. dem System Putin deutlich gemacht. Zunächst soll die öffentliche Resonanz in Rußland recht gering gewesen sein, auch kam es nicht zu juristischen Maßnahmen. Dies änderte sich erst am 21. Februar 2012, als die Künstlerinnen weltweite mediale Aufmerksamkeit erregten durch eine Performance-Aktion im zentralen Gotteshaus der Christ-Erlöser-Kirche in Moskau, bei der sie den Ambo der Kathedrale, zu dem Privatpersonen ohne ausdrückliche priesterliche Einladung keinen Zutritt haben, betraten und vor dem Altar das Punk-Gebet zelebrierten. In der Bundesrepublik Deutschland hätte eine solche Aktion unter Umständen auch zu Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen führen können; nach § 167 StGB kann die Störung der Religionsausübung mit Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren oder Geldstrafe geahndet werden.

In Moskau wurden am Tag vor der letzten, von Putin gewonnenen Präsidentschaftswahl vom 4. März zwei der Pussy-Riot-Aktivistinnen verhaftet, wegen "Rowdytum aus religiös motiviertem Hass" wurden drei von ihnen verurteilt. Die Proteste gegen dieses höchst umstrittene Urteil scheinen sich innerhalb Rußlands jedoch in Grenzen zu halten. Russischen Umfragen zufolge, so einer im März vom Forschungsinstitut Romir durchgeführten, sollen rund 70 Prozent der Befragten den Auftritt negativ bewertet haben, während 7 Prozent Verständnis für die Band, nicht jedoch für die Wahl des Auftrittsortes geäußert und nur 1 Prozent ihre Solidarität bekundet haben sollen. Im August sollen 46 Prozent die zu diesem Zeitpunkt drohende Strafe von zwei bis sieben Jahren für adäquat gehalten und 35 Prozent ein solches Strafmaß als übertrieben bewertet haben.

Nun spricht die aus solchen Umfragen angeblich ablesbare weitverbreitete Zustimmung der russischen Bevölkerung für ihren wiedergewählten Präsidenten keineswegs gegen Proteste oder Protestaktionen, seien diese auch noch so randständig. Wie in vielen Texten, Stellungnahmen und Erklärungen der Gruppenmitglieder deutlich geworden ist, richtete sich ihre am 21. Februar in der Christ-Erlöser-Kirche deutlich gemachte Kritik am System Putin konkret gegen das aus ihrer Sicht viel zu enge Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Mascha ging in ihrer Eingangserklärung vor Gericht näher auf ihre Beweggründe ein (S. 42):

Die Anklageschrift wirft mir ungebührliches Benehmen vor, motiviert aus religiösem Hass sowie Hass und Feindseligkeit gegenüber orthodoxen Christen. Diese Behauptung ist mir zutiefst unverständlich. Unser Auftritt hatte das Ziel, die Aufmerksamkeit des russischen Klerus und des Priesters der Christ-Erlöser-Kirche, Patriarch Kyrill, zu erregen. Wir sind Vertreterinnen unserer Generation und ratlos angesichts seiner Aktivitäten und öffentlichen Appelle.
Wir wollten und wollen auch weiterhin einen Dialog. Wir wissen, dass es keine andere Möglichkeit gibt, bei irgendeinem Repräsentanten der Kirchenführung eine Audienz zu bekommen, wegen ihrer Sicherheitsleute, die in unserem Fall ironischerweise Opfer, moralisch Geschädigte sind. Wir wollten, dass Vater Kyrill auf uns aufmerksam wird, weil wir ihn zu seiner Entscheidung befragen wollten, das Volk dazu aufzurufen, [bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012] für Putin zu stimmen. Ich bin orthodoxe Christin, vertrete aber andere politische Ansichten, und meine Frage lautet: Was soll ich tun?

Allem Anschein nach geht es in diesem Konflikt um eine Frage, die die inneren Verhältnisse eines Staates in geradezu klassischer Weise betreffen, nämlich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Pussy Riot beanstandet, und für diese Kritik mag es gute Gründe geben, die wechselweise Vereinnahmung zwischen der Regierung Putin und der Christ-Erlöser-Kirche bzw. der von ihrem Patriarchen ausgesprochenen Wahlempfehlung. Nun scheint eine recht enge Bindung zwischen Kirche und Staat in der russischen Geschichte und Tradition älter und tiefer verwurzelt zu sein als der hier zur Sprache gebrachte Vorfall im Zusammenhang mit den jüngsten Präsidentschaftswahlen.

Sollte dieser innerrussischen Streitfrage ein solches Gewicht beigemessen werden, daß sie zum Gegenstand internationaler Diskussionen und an die Regierung Putin gerichteter offizieller Protestnoten avancieren konnte? Bislang haben die tonangebenden Kräfte in dieser von vielen Kulturschaffenden unterstützten Kampagne für die inhaftierten Moskauer Künstlerinnen mit gutem Grund davon abgesehen; schließlich würden mit einer solchen Argumentation Fragen danach provoziert werden, wie es denn um die säkulare Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland bestellt sein mag, wenn zwei seiner großen Parteien das christliche "C" im Namen tragen und den beiden Großkirchen im Unterschied zu anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften das Recht auf Steuereintreibung zubilligt wird.

Tatsächlich ist in dem nur 41 Sekunden dauernden Auftritt der jungen, mit bunten Strickmützen bewehrten Frauen nicht allzuviel passiert, sieht man von den politischen Provokationen und Verletzungen religiöser Gefühle anderer, für die die Bandmitglieder sich später auch entschuldigt haben, einmal ab, und so ist der Gedanke, die russischen Behörden könnten auf diese Weise zu den überzogenen Reaktionen provoziert worden sein, aufgrund derer sie nun kritisiert werden, nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Das Punkgebet, in dem die Jungfrau Maria aufgefordert wird, Putin aus dem Weg zu räumen, so die deutsche Übersetzung in dem vorliegenden Band, hätte allerdings auch in Deutschland die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung auf sich ziehen können.

Stellte man sich den Schlußrefrain - "Jungfrau Maria, heilige Muttergottes, räum Putin aus dem Weg. Räum Putin aus dem Weg, räum Putin aus dem Weg!" (S. 16) beispielsweise gemünzt auf die deutsche Kanzlerin vor, wäre wohl nicht mit Sicherheit auszuschließen, daß deutsche Strafverfolgungsbehörden darin eine Aufforderung zu einer Straftat erkennen könnten, zumal der Ausdruck "etwas oder jemanden aus dem Weg zu räumen" als sprichwörtliche Redensart bedeutet: "etw. Hemmendes beseitigen, einen unliebsamen oder gefährlichen Menschen umbringen". [3]

In Rußland hat sich im Verlauf der weiteren Ereignisse auch der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung Putin, Wladimir Petrowitsch Lukin, für eine Haftverschonung ausgesprochen und erklärt, ein Strafverfahren sei "jenseits jeder Vorstellung". Putin selbst hat sich am 2. August, also kurz vor der Verurteilung der drei jungen Frauen, während eines Besuchs in London zu dem Fall geäußert und erklärt: "Ich denke nicht, dass sie dafür zu hart verurteilt werden sollten." Am 7. Tag des Prozesses hatte die Staatsanwaltschaft ihr Plädoyer vorgetragen und darin erklärt, daß sich die drei Frauen in einem der Russisch-Orthodoxen Geistlichkeit vorbehaltenem Bereich der Kathedrale in unangemessener Kleidung aufgehalten und dort in "vulgärer, zynischer und herausfordernder Art" (S. 59) herumgelaufen seien. Die Frauen hätten diese Handlungsweise nicht bestritten, weshalb die Frage laute, wie sie zu bewerten sei. Die Anklagebehörde befand eine Gefährlichkeit auch für die Gesellschaft und forderte, da die Angeklagten ihrer Meinung nach "nur unter Haftbedingungen geläutert werden können" (S. 60), drei bzw. zwei Jahre Straflager.

Dem hielten die Verteidiger, so Mark Feigin in seinem Schlussplädoyer, entgegen, daß es sich um eine politische Protestaktion gehandelt habe, die "sicher außerordentlich nonkonformistisch" gewesen sei und gewiß nicht von jedem hinsichtlich der Wahl des Ortes und des Zeitpunktes gutgeheißen werde. Und weiter (S. 73):

Dennoch hielt ich ... ebenso wie die anderen Vertreter der Verteidigung die Handlungsweise nicht für eine Straftat. Selbstverständlich war sie keine. Denn von Anfang an konnten Juristen und selbst nur leidlich informierte Menschen leicht erkennen, dass es sich um eine Ordnungswidrigkeit handelte. Dies wurde immer und immer wieder diskutiert.

Nikolai Polosow, ein weiterer Verteidiger, ging in seinem Schlußplädoyer noch einmal auf die Gruppe ein und erklärte (S. 87):

Wie die Angeklagten angaben, wurde die Gruppe Pussy Riot vor buchstäblich weniger als einem Jahr gegründet. Ihr Ziel bestand darin, einer breiten Öffentlichkeit künstlerische Formen des politischen Protestes nahezubringen. Sie taten es mit Erfolg. Ihr Bekanntheitsgrad war zunächst, um ehrlich zu sein, ziemlich gering, abgesehen von einem kleinen Kreis von Sympathisanten und Anhängern der Gegenwartskunst, die ihre künstlerische Arbeit bewundern. Doch dank Fernsehen und Massenmedien, allen voran aber dank des Einsatzes der Regierung, wurden ihre Aktivitäten in der ganzen Welt bekannt. Es gibt vermutlich keinen Winkel der Erde mehr, wo man nicht weiß, wer die Gruppe Pussy Riot ist.

In einer am 23. März 2012 von der Gruppe verfaßten und in dem Band veröffentlichten Erklärung mit dem Titel "Pussy Riot: Kunst oder Politik?" heißt es unter anderem, daß die Aktivistinnen über Verstöße bei den Duma-Wahlen stark empört waren und deshalb ihrer Performance das Punk-Gebet hinzugefügt hätten. Sie stellten desweiteren fest, daß die Kirche "ein sehr konservatives Weltbild fördert, das nicht zu Werten passt wie Wahlfreiheit, Ausbildung einer politischen, geschlechtlichen oder sexuellen Identität, kritischem Denken, Multikulturalismus oder Wertschätzung der zeitgenössischem Kultur" (S. 17/18). Zu welcher Traditionskirche, die in der gesellschaftlichen Struktur ihres Landes einen festen Platz einnimmt, könnte eine solche Kritik wohl nicht formuliert werden?

Die letzten Sätze in der von Katja (Jekaterina Samuzewitsch) vor Gericht abgegebenen Schlusserklärung machen deutlich, was ohnehin zu vermuten war: die Proteste von Pussy Riot scheinen weniger auf die innerrussische Opposition ausgerichtet zu sein, sei sie nun parlamentarisch oder zivilgesellschaftlich organisiert, sondern haben nicht weniger als die "die ganze Welt" im Visier (S. 103/104):

Im Vergleich zum Justizapparat sind wir Niemande, und wir haben verloren. Auf der anderen Seite haben wir gewonnen. Die ganze Welt kann sehen, dass das Strafverfahren gegen uns fingiert wurde. Das System kann den repressiven Charakter dieses Prozesses nicht verschleiern. Einmal mehr sieht die Welt Russland anders, als Putin es bei seinen täglichen internationalen Terminen zu präsentieren versucht. Es ist eindeutig, dass keiner der Schritte zur Rechtsstaatlicheit unternommen wurde, die Putin versprochen hat. Und seine Äußerung, dieses Gericht werde objektiv sein und ein faires Urteil fällen, ist nur eine weitere Täuschung, die dem ganzen Land und der internationalen Gemeinschaft präsentiert wurde.

Wenn ein politisch motivierter, repressiver Akt wie das hier gefällte Urteil als Maßstab für die Rechtsstaatlichkeit eines Systems herangezogen wird - wofür es aus legalistischer Sicht gute Gründe gäbe, denn woran sonst, wenn nicht an der konkreten juristischen Praxis, sollte sich diese Frage erörtern lassen? -, steht allerdings zu befürchten oder vielmehr zu begrüßen, daß eine solche Prüfung, würde sie auch in all den Staaten durchgeführt werden, deren politische Repräsentanten in vorderster Linie der Putin-Kritiker stehen, zu keinem anderen Ergebnis führen würde. Die Vermutung, das vorliegende Buch "Pussy Riot! - Ein Punkgebet für Freiheit" könnte, ungeachtet der Aufrichtigkeit der russischen Künstlerinnengruppe, eine ihm aus gänzlich anderer Richtung zugedachte propagandistische Funktion zum Schaden der international seitens westlicher Staaten ohnehin mehr oder minder offen angefeindeten Putin-Regierung erfüllen, ist nach aufmerksamer Lektüre allerdings nicht von der Hand zu weisen.

Fußnoten:

[1] Nicht mundtot machen lassen. Solidaritätstag für Pussy Riot am 12. Dezember, Literarisches Leben, 29.11.2012,
http://www.boersenblatt.net/573394/

[2] Benefiz-Veranstaltung. Nobelpreisträger solidarisieren sich mit Pussy Riot, Literarisches Leben, 21.08.2012,
http://www.boersenblatt.net/546047/

[3] Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 4, Lutz Röhrich, Herder 1982, Eintrag zu "Weg", S. 1129

12. Dezember 2012


Pussy Riot
Pussy Riot! Ein Punkgebet für Freiheit
Mit einem Vorwort von Laurie Penny
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Häusler
Nautilus Flugschrift
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Hamburg
Deutsche Erstausgabe November 2012
Print ISBN 978-3-89401-769-9
E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-128-7
E-Book PDF ISBN 978-3-86438-129-4
Originalausgabe Pussy Riot! A Punk Prayer For Freedom
The Feminist Press at the City University of New York
New York City, September 2012