Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/571: AgrarBündnis e. V. (Hrsg.) - Landwirtschaft 2011 - Der kritische Agrarbericht (SB)


AgrarBündnis e. V. (Hrsg.)


Landwirtschaft 2011 - Der kritische Agrarbericht

Hintergrundberichte und Positionen zur Agrardebatte - Schwerpunkt: Vielfalt



Die Europäische Union überarbeitet zur Zeit ihre Agrarpolitik, denn sie will bis Ende 2013 neue Grundlagen für die Vergabe von Mitteln aus diesem Sektor in Höhe von rund 55 Milliarden Euro beschließen. In einer Mitteilung des Agrarkommissars Dacian Ciolos vom 18. November vergangenen Jahres mit dem Titel "Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) bis 2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und ländliche Gebiete - die künftigen Herausforderungen" wird ein deutlicher Schwerpunkt auf die Förderung umweltrelevanter Faktoren der Landwirtschaft sowie den Anbau nach ökologischen Kriterien gelegt. Vor kurzem hat der Europäische Rechnungshof (EuRH) den Sonderbericht Nr. 7/2011 mit dem Titel "Wie gut sind Konzeption und Verwaltung der geförderten Agrarumweltmaßnahmen?" herausgegeben und darin festgestellt, daß die ökologischen Ziele der EU-Agrarpolitik zu vage gefaßt sind und sich nicht feststellen lasse, ob die Umweltziele erreicht wurden. Die Finanzexperten schlagen daher einer Reform der Ziele vor.

Als das AgrarBündnis im Januar seinen "kritischen Agrarbericht 2011" herausgab, ahnten dessen Autorinnen und Autoren wohl noch nicht, wie sehr sich die Finanz- und Wirtschaftskrise der EU im Laufe dieses Jahres zuspitzen würde. Welche Richtung in der Agrarpolitik eingeschlagen wird, dürfte nicht zuletzt von der zukünftigen finanzpolitischen Entwicklung abhängen. Ein Rollback in den vermeintlich sicheren Hafen der industriellen Landwirtschaft mit Massentierhaltung und großflächigem Monokulturanbau kann ebensowenig ausgeschlossen werden wie die Beibehaltung des eingeleiteten Trends zur Stärkung ökologisch orientierter Produktionsweisen, bei der auch kleinere Betriebsstrukturen zumindest mehr als bisher gefördert werden.

In dem im Dezember 2010 verfaßten Editorial zu dieser alles in allem 57 Beiträge umfassenden Textsammlung war vorsichtiger Optimismus zu vernehmen: "Vieles von dem, was die Verbände des AgrarBündnisses seit Jahren fordern, hat in die 'Mitteilung' der Brüsseler Kommission Eingang gefunden." (S. 3) Künftig sollen über die reine Produktionsmenge hinaus vom Landwirt erbrachte Leistungen für die Gesellschaft wie eine "besonders umweltschonende Bewirtschaftung seiner Äcker und Wiesen" oder "die Schaffung von Arbeitsplätzen" stärker gefördert werden. Auch die Vereinbarungen, die auf der 10. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt im vergangenen Jahr in der japanischen Stadt Nagoya getroffen wurden, fanden das Wohlgefallen der Redaktion des kritischen Agrarberichts. Wohingegen sie deutliche Kritik sowohl an der Tierschutzpolitik der EU-Kommission als auch am nach wie vor praktizierten Export-Dumping, bei dem die Märkte in den Entwicklungsländern mit hochsubventionierten Agrarprodukten aus der Europäischen Union überschwemmt werden, übte.

Im wesentlichen werden die einleitenden Einschätzungen des AgrarBündnisses von den Autorinnen und Autoren in ihren jeweiligen Beiträgen, in der die einzelnen Aspekte der Agrarpolitik vertiefend analysiert werden, geteilt. Der kritische Agrarbericht, der seit 1993 jedes Jahr herausgegeben wird, lebt von der regen Debattenkultur, die in den 24 dem AgrarBündnis angeschlossenen Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik gepflegt wird. Darauf deuten Titel wie "Europa braucht eine zukunftsfähige Eiweißstrategie! - Das Landgrabbing mit Messer und Gabel muss beendet werden" (Martin Häusling), "Förderung der Agrobiodiversität als Strategie im Klimawandel" (Sandra Blessin) oder "Gefahr für Schmetterling & Co - Auswirkungen der Agro-Gentechnik auf Naturschutz und Biodiversität" (Steffi Ober).

Andere Beiträge verlegen den Schwerpunkt eher auf administrative Fragen. In "Wider die Ausgleichslogik - Die Beantwortung der Zukunftsfragen gehört zum Kern der EU-Agrarpolitik" fordert Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), von der Europäischen Union eine agrarpolitische Kurskorrektur sowohl hinsichtlich der Direktzahlungen der Ersten Säule, bei der zwar inzwischen eine Entkopplung der Finanzzuwendungen von der bloßen Ertragshöhe vorgenommen wurde, wie der Autor einräumt, aber nach wie vor die unterschiedliche Qualität in der Art und Weise der Erzeugung von Agrarprodukten unberücksichtigt geblieben ist. "Bäuerliche Produktionsweisen, die hohe Leistungen in den Bereichen Umweltschutz und Erhalt der Kulturlandschaft sowie in Tierschutz erbringen, bleiben weiterhin stark benachteiligt." (S. 23) Die gesetzlichen Standards (Cross Compliance) der umweltverträglichen Produktion reichen dem Autor nicht aus. Er verweist darauf, daß vielfältig wirtschaftende Betriebe nicht gegenüber einseitig spezialisierten Betrieben begünstigt werden, obgleich sie mehr Aufwand und Kosten für den Erhalt der Landschaft aufbringen als diese.

Die Zweite Säule der EU-Agrarpolitik erfüllt ebenfalls nicht die Erwartungen des AbL-Bundesvorsitzenden, auch wenn durch sie schwerpunktmäßig ökologische und Ausgleichsmaßnahmen gefördert werden. Ein Widersinn besteht seiner Ansicht nach darin, daß "ökologische Schäden der rationalisierten und industrialisierten Wirtschaftsweisen" (S. 24) ausgeglichen werden, was bedeutet, daß mit öffentlichen Geldern zunächst Schäden hervorgerufen werden, die anschließend mit weiteren finanziellen Mitteln beseitigt werden müssen. Neben einer Qualifizierung der staatlichen Agrargelder in Richtung einer bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft hat der langjährige Abgeordnete des Europaparlaments fünf weitere "Leitlinien für die anstehende Agrarreform" aufgestellt. In ihnen wird der regionalen Erzeugung und Vermarktung Vorrang vor der Weltmarktorientierung eingeräumt sowie ein Wechsel von der öl- zur solargestützten Landwirtschaft, der Erhalt der Artenvielfalt durch die Erzeugung und eine artgerechte Tierhaltung gefordert.

Die Tierärztin und Mitarbeiterin der Agrarsozialen Gesellschaft e. V. Dagmar Babel hebt unter dem Titel "Pestizide und Agrarpolitik gefährden Biodiversität" den Widerspruch zwischen dem Ziel der EU, die negativen Umweltwirkungen der Landwirtschaft zu mindern, und der gleichzeitig vorangetriebenen Intensivierung der landwirtschaftlichen Bodennutzung, hervor. (S. 126) Die im März 2010 veröffentlichten Ergebnisse des EU-weiten Forschungsprojekts AGRIPOPES (AGRIcultural POlicy-induced landscaPe changes: effects on biodiversity und Ecosystem Services) seien weitgehend unbeachtet geblieben, stellt die Autorin fest und schafft diesem Mangel durch ihren Beitrag in dem durchaus größere Beachtung findenden kritischen Agrarbericht Abhilfe. Zusammengefaßt sprechen sich die Forscherinnen und Forscher von AGRIPOPES für eine drastische Verringerung des Pestizideinsatzes aus.

Nicht thematisiert wird im kritischen Agrarbericht eine landwirtschaftliche Praxis, die beim Übergang vom Agrarprodukt zum Lebensmittel verwendet wird: die Reifesteuerung durch den Einsatz von Chemie, auch Sikkation genannt. Die Landwirte besprühen kurz vor der Ernte ihre Felder mit Unkrautvernichtungsmitteln wie Diquat, Glufosinat-Ammonium oder Glyphosat, um das Kraut abzubrennen (Kartoffeln) oder die Schoten auszutrocknen (Raps). Mögliche gesundheitliche Auswirkungen wurden und werden anscheinend gar nicht erst untersucht, wie der Schattenblick in einer eigenen, umfangreichen Studie feststellen mußte [http://schattenblick.com/infopool/umwelt/redakt/umko0005.html]. Anscheinend hält sich das Thema Sikkation erfolgreich unterhalb des Radars selbst der ansonsten gegenüber dem Pestizidgebrauch kritisch eingestellten Personen und Organisationen, wie sie auch im vorliegenden Agrarbericht zu Wort kommen.

Der faktenreiche kritische Agrarbericht ist weniger ein Buch, das man in einem Stück von vorne bis hinten durchliest, als eine Sammlung von Standpunkten und Analysen, auf die jeder Interessierte immer wieder zurückgreifen kann und die, wie die früheren Agarberichte auch, nach Jahren noch von Bedeutung sind. Das AgrarBündnis positioniert sich mit seinen Publikationen nicht prinzipiell als Konterpart zur deutschen oder europäischen Agrarpolitik, sondern unterstützt die administrativen Reformbemühungen, aber bezieht in Detailfragen eine deutlich abweichende Position.

7. Oktober 2011


AgrarBündnis e. V. (Hrsg.)
Landwirtschaft 2011 - Der kritische Agrarbericht
Hintergrundberichte und Positionen zur Agrardebatte - Schwerpunkt: Vielfalt
Konstanz/Hamm, Januar 2011
304 Seiten, 22,- EUR
ISBN 978-3-930 413-45-4