Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/521: Jens Erik Ambacher u. Romin Khan, Hg. - Südafrika. Die Grenzen der Befreiung (SB)


Jens Erik Ambacher & Romin Khan (Hg.)


Südafrika

Die Grenzen der Befreiung



"Befreiung" und "Grenzen" sind Begriffe, die einander sprachlogisch ausschließen, ist doch unter Freiheit die Abwesenheit jedweder Grenzen oder Einengungen zu verstehen, woraus sich im Umkehrschluß ableiten läßt, daß die Existenz welcher Grenzen auch immer das untrügliche Indiz für einen noch nicht zu Ende geführten Befreiungskampf ist. Jens Erik Ambacher und Romin Khan, Herausgeber des im April 2010 vom Verlag Assoziation A vorgelegten Sammelbandes "Südafrika - Die Grenzen der Befreiung", werden diesem für alle an Südafrika, dem Erbe seines Befreiungskampfes und dem Streit um seine gesellschaftliche Zukunft Interessierten überaus empfehlenswerten Werk mit Bedacht diesen Titel gegeben haben. Der Terminus "Grenzen der Befreiung" führt schnurstracks in eine Widersprüchlichkeit ein, wie sie fundamentaler und, wenn man so will, auch tragischer kaum noch in einem weiteren Staat dieser Erde anzutreffen sein dürfte.

Im Klappentext wird dieses Dilemma im Vorgriff auf die in den einzelnen Textbeiträgen der oftmals in die politischen Entwicklungen und Bewegungen des heutigen Südafrikas involvierten Autoren und Autorinnen zur Verfügung gestellten informativen und engagierten Ausführungen, Stellungnahmen und Fragestellungen folgendermaßen angedeutet:

Die an das Ende der Apartheid geknüpfte Hoffnung auf ein besseres Leben ist für den größten Teil der südafrikanischen Bevölkerung unerfüllt geblieben. Kolonialismus und Apartheid haben gesellschaftliche Spaltungen und Ungleichheiten produziert, die den Alltag der Menschen am Kap bis heute prägen. Die Politik des regierenden ANC hat daran wenig zu ändern vermocht.

Dieses Buch beleuchtet die alten und neuen Konflikte in Südafrika: Vom Kampf um soziale Grundrechte über den Wandel des Rassismus bis hin zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Fußball-Weltmeisterschaft 2010.

Diesem Anspruch wird das Buch in vollem Umfang gerecht. In ihm und mit ihm ist es dem Autoren- und Herausgeberkreis darüberhinaus auch gelungen, durch die Gesamtpräsentation der 18 Einzelbeiträge, die jeweils einen eigenständigen Themenschwerpunkt aufweisen und zugleich in ihrer systematischen Anordnung eine klare "redaktionelle Linie" in Hinsicht auf die Kernthematik des Buches erkennen lassen, bei interessierten Lesern eine Sensibilität für die spezifische wie auch die unspezifische politische Realität des heutigen Südafrikas zu erzeugen, deren Qualität mit der Gretchenfrage "Wie hältst du's mit dem ANC?" nicht zu fassen ist.

Wie auch könnten Menschen in Südafrika, so sie nicht an einer Rückkehr zu Apartheidsverhältnissen interessiert sind, dem Afrikanischen National-Kongreß, der den jahrzehntelangen Kampf gegen die Apartheid bis heute verkörpert, die Solidarität verweigern? Wie aber können dieselben Menschen "ihrem" ANC, "ihrer" Dreierallianz und "ihrer" Regierung die Treue halten, wenn die sozialpolitischen Zielsetzungen des Anti-Apartheidskampfes, wie sie in der Freiheitscharta von 1955 festgelegt wurden und wie sie noch heute zum Kernprogramm des ANC gehören, nach so vielen Jahren noch immer der Realisierung harren mit der Folge, daß die Lebensbedingungen vieler Südafrikaner heute noch schlechter sind als in der Apartheidsära? Ohne jemals eine anklagende oder urteilende Position einzunehmen, sondern stets getragen von einer Haltung kritischer Solidarität, spüren die Autoren der in diesem Band zusammengestellten Beiträge mit politisch durchaus unterschiedlichen und zum Teil konträren eigenen Positionierungen diesem Dilemma nach.

Wie die Herausgeber Jens Erik Ambacher und Romin Khan am Schluß des Buches darlegen, stellt der Sammelband "die Entwicklung der sozialen Bewegungen als Teil der Geschichte des 'neuen' Südafrika in den Mittelpunkt" (S. 251). Sie stellen klar, daß "bei allen Unterschieden im Detail" den Einzelbeiträgen "doch der positive Bezug auf diese Bewegungen und das Wissen um ihre emanzipatorische Kraft" gemein ist und stellen, einem Lösungskonzept und -versprechen gleich, die "bewusste Selbstermächtigung von unten" an den Zenit ihrer Ausführungen, da diese "ein elementarer Bestandteil einer umfassenden Demokratisierung" sei. Ihre politische Kernbotschaft besteht neben ihrer Parteinahme für die Basisbewegungen des heutigen Südafrikas in der Perspektive, daß eine umfassende Befreiung, wie sie 1955 im Anti-Apartheidskampf in der "sozialistisch und basisdemokratisch geprägten Freedom Charta" (S. 8) konzipiert wurde, in dem Maße realisiert werden könne, in dem in der breiten Bevölkerung das Bewußtsein anwachse, daß die Erfüllung dieses Versprechens nicht länger an die ANC-Eliten delegiert werden könne, sondern selbst eingelöst werden müsse.

Wenngleich der durchaus heterogene, in dieser Grundpositionierung jedoch homogene Herausgeber- und Autorenkreis nicht zu den insofern gescholtenen ANC-Eliten zu zählen ist, ist er alles andere als eine Schar erklärter Regierungsgegner oder gar Staatsfeinde. Die Kernproblematik des heutigen demokratischen Südafrikas, nämlich daß die inner- wie außerparlamentarische Linksopposition fest in der Tradition des Anti-Apartheidkampfes steht und deshalb den ANC nicht als Feind begreifen kann und will, zeichnet sich auch in den Stellungnahmen und Biographien einzelner Aktivisten ab, die Beiträge zu diesem Sammelband geliefert haben.

In dem von Khan mit Zackie Achmat, einem Mitbegründer der 1998 entstandenen "Treatment Action Campaign" (TAC), einer Organisation, die die Aids-Politik der Regierung massiv kritisierte, geführten Interview ("Du kämpfst einen Bürgerkrieg gegen deine Mutter und deinen Vater, du kämpfst einen Bürgerkrieg gegen deine eigene Partei", S. 117) wird dies besonders deutlich. Achmat ist seit dem Schüleraufstand von Soweto 1976 politisch aktiv. Auf die Frage, warum er bei aller Kritik an der Regierung ANC-Mitglied geblieben ist, antwortet er:

Dafür gibt es mehrere Gründe. Ich unterstütze den ANC seit 34 Jahren und engagiere mich in Netzwerken, um verstärkt Einfluss auf seine Ausrichtung zu nehmen. Meiner Meinung nach gleicht der ANC einer Hydra. Für eine Vielzahl von Menschen ist der ANC noch immer die, möglicherweise sogar die einzige, Partei, die in der Lage ist, das Land zusammenzuhalten und damit eine Fraktionierung zu verhindern. Derlei Brüche könnten zu ethnischen Kriegen führen, dem weiteren Aufkommen von Xenophobie, Rassismus oder einem Populismus, der auf der Diskriminierung von Minderheiten oder auch Mehrheiten beruht. Also das ist der erste Grund.

Der zweite Grund ist die Rolle des ANC im Befreiungskampf, die schwarzen Menschen ihre Würde zurückgab, die ihnen unter der Apartheid genommen worden war. Die Bedeutung dieser Würde lässt sich gar nicht ermessen. Und von allen bürgerlichen Parteien ist sie die einzige Partei, die zumindest das Potential hat, einen sozialdemokratischen Plan, wenn nicht sogar einen Plan für eine soziale Transformation, zu implementieren.
(S. 121/122)

So wie Achmat geht es vielen Menschen nicht nur in der TAC, sondern auch in weiteren sozialen Organisationen und Basisbewegungen, die die Politik des Postapartheids-ANC zum Teil aufs Schärfste kritisieren und ihm gleichwohl die Treue halten, obwohl sie sich bzw. die "Prinzipien des Kampfes" (S. 110) durch die ANC-Regierung "verraten" sehen. So sahen viele TAC-Aktivisten den Kampf um eine Versorgung der Aids-Betroffenen als eine Fortsetzung des Anti-Apartheidkampfes an. Hätte sich die ANC-Regierung an die Freiheitscharta von 1955, die eine "kostenlose medizinische Versorgung und stationäre Behandung ... mit besonderer Versorgung für Mütter und kleine Kinder" ebenso vorsah wie die Aufgabe des demokratischen Staates, die Versorgung für "die Älteren, die Waisen, die Behinderten und die Kranken" (S. 104) sicherzustellen, gebunden gefühlt und hätte sie 1997 nicht von ihren eigenem Anti-Aids-Programm von 1994 Abstand genommen, hätte es 1998 keine Veranlassung für die Gründung der TAC gegeben, die die Forderung nach kostenloser Ausgabe von antivironalen Medikamenten und Nevirapine für HIV-positive schwangere Frauen durchsetzen wollte.

Durch Aids sind im Südafrika der Nachapartheidszeit mehr Menschen gestorben als während der Apartheid umgebracht wurden. Achmat spricht von eineinhalb Millionen Menschen, die "aufgrund von Krankheiten gestorben sind, die mit Aids in Verbindung stehen". Die offizielle Aidspolitik der ANC-Regierung, die zwischenzeitlich zu erbitterten Auseinandersetzungen geführt hatte insbesondere deshalb, weil der frühere Präsident Thabo Mbeki öffentlich die Existenz des Virus bestritt, war 1997 der neoliberalen Grundpositionierung der Nachapartheidsregierung untergeordnet worden. Nach jahrelangen Kämpfen keineswegs nur mit der Pharmaindustrie, sondern auch mit der eigenen Regierung, konnten erste Erfolge erzielt werden, nachdem die TAC 2003 zu einer Kampagne zivilen Ungehorsams aufgerufen hatte.

Inzwischen verfolgt der South African National AIDS Council einen landesweiten HIV/Aids-Strategieplan, der die Reduzierung der Neuinfektionen bis 2011 auf 50 Prozent sowie einen Zugang zu Behandlung, Versorgung und Unterstützung für Menschen mit HIV und ihren Familien zu 80 Prozent vorsieht (S. 113). Die Medikamente, die Zackie Achmat, selbst betroffen, heute nimmt, kosteten 1996/97 umgerechnet 1.000 Euro pro Monat und werden heute vom Staat für 20 Euro gekauft, und so gilt der Kampf der TAC als ein positives Beispiel dafür, daß die noch immer in großer Armut lebende Bevölkerungsmehrheit Südafrikas im ANC-Staat etwas erreichen kann, so sie sich organisiert und für ihre Interessen kämpft.

Auch wenn Achmat erklärt, daß zur schlimmsten HIV-Zeit die Organisation "einen Zustand der Ausgebranntheit und Müdigkeit erreicht" hat, "die an die Umstände eines Bürgerkriegs denken lässt, ohne dass ein Krieg gegen uns erklärt wurde" (S. 119), darf dies nicht im mindesten als eine Gleichsetzung des Apartheidsterrors mit den immensen Problemen fehlinterpretiert werden, die die den ANC mehrheitlich unterstützende und stets wiederwählende Bevölkerungsmehrheit mit "ihrer" Regierung zugleich hatte und noch immer hat. Mbekis seinerzeit weltweit aufsehenerregende These, die Existenz des HIV-Virus sei keineswegs nachgewiesen, weshalb die unter Aids subsummierten Krankheiten in erster Linie ein Armutsproblem darstellten, ist keineswegs so abwegig, wie sie von internationalen Kritikern bewertet wurde. In Südafrika selbst konnte sie allerdings schon deshalb auf kein positives Echo stoßen, weil die Bemühungen der regierenden Dreierallianz, das soziale Erbe der Vergangenheit in Angriff zu nehmen und die verheerenden Zustände, die dem Land aus jahrhundertelanger Kolonialgeschichte und Apartheid erwachsen waren, systematisch zu beheben, der neoliberalen Ratio überantwortet worden waren, zu der sich die ANC-Regierung in dem Bestreben, sich als "regierungsfähig" zu erweisen, durchgerungen hatte.

Es gehört zu den großen Verdiensten des vorliegenden Sammelbandes über die "Grenzen der Befreiung" Südafrikas, in diesen Fragen nüchterne Aufklärungsarbeit geleistet zu haben. Zu den gesellschaftlichen Folgen und sozialen Konsequenzen neoliberaler Politik, die anstelle einer Umverteilungspolitik von oben nach unten betrieben wurde, um das neue Südafrika für ausländische Investoren interessant zu machen in der vagen Hoffnung, durch eine Qualifizierung der globalen Wettbewerbsfähigkeit früher oder später auch die sozialen Verhältnisse im Land verbessern zu können, nehmen die Herausgeber in ihrer Einleitung klar Stellung:

Das Ergebnis dieser Politiken ist angesichts der Entbehrungen und Opfer die der antikoloniale Kampf gefordert hat, für viele Menschen katastrophal.
(S. 9)

Was "katastrophal" in wenn auch sozialwissenschaftlich dürren Worten ausgedrückt und angedeutet bedeutet, ist einer Anmerkung zu den Sozialdaten zu entnehmen:

Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit in einer Gesellschaft misst, ist heute höher als zum Ende der Apartheid. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich im Zuge der Aids-Krise von 1990 bis 2007 um 13 Jahre verringert. Über eine Million Farmarbeiter wurden im gleichen Zeitraum von den Farmen vertrieben. Die Landflucht hat am Rande der Städte zu einem Wachstum der informellen Siedlungen beigetragen, in denen jeder vierte Südafrikaner lebt. Knapp die Hälfte der südafrikanischen Bevölkerung von 44 Millionen Menschen lebt unter der nationalen Armutsgrenze von ca. 40 Euro im Monat. Besonders durch die Einbindung der Wirtschaft in den Weltmarkt sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von niedrigqualifizierten, aber regulären Arbeitsplätzen weggefallen, was zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf offiziell über 30 Prozent beigetragen hat.
(S. 9, Fußnote 8)

Dies alles trägt die Handschrift der regierenden, neben dem ANC durch den Gewerkschaftsverband COSATU wie auch die Kommunistische Partei (SACP) gebildeten Dreierallianz, deren Fundament die zur Beendigung des Apartheidregimes zwischen dem ANC und der Klasse des "weißen" Kapitals getroffene Verhandlungsvereinbarung darstellt. Die durch diesen historischen Kompromiß abgesteckten roten Linien, nämlich bei aller Entrassifizierung die Axt niemals an die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung anzulegen, wurden vom ANC bzw. der Dreierallianz niemals überschritten. Die noch in den 1990er Jahren gemachten Wahlversprechen des ANC, denen zufolge nach seinem Wahlsieg eine radikale Umverteilung des Landes wie auch des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der schwarzen Arbeiterklasse, die in einem basisdemokratischen und partizipativen Volksstaat (people's state) leben würde, wichen nach 1994 dem Wirtschaftsprogramm (GEAR) der neuen Regierung. Der Politikwissenschaftler Dale T. McKinley, der nach fünfjähriger Tätigkeit in der Kommunistischen Partei aus dieser wegen seiner Kritik am Privatisierungskurs der Regierung ausgeschlossen wurde, legt in seinem Beitrag "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück: Südafrikas African National Congress und die Dreierallianz seit 1994" (S. 29) dar, daß dieses Programm einen strikt entgegengesetzten Kurs der Weltmarktöffnung, Privatisierung und Haushaltskonsolidierung beinhaltete.

Greg Ruiters, Professor am Institute for Social and Economic Research an der Rhodes University in Grahamstown, weist in seinem Text über die "Freie Stromversorgung in Südafrika: Eine Strategie zur Befreiung oder zur Kontrolle der verarmten Bevölkerung?" (S. 43) nach, daß letzteres der Fall ist. Dezidiert zeigt er anhand des Regierungsprogramms zur "Freien Elektrizitäts-Grundversorgung" (FED) auf, daß dessen Effizienz dem gesteckten Ziel, eine Versorgung mit Elektrizität für alle Menschen durchzusetzen, zuwiderläuft. So wurden im Rahmen dieses Programmes in drei Millionen Haushaushalten vom Stromanbieter Eskom, aber auch den Kommunen, sogenannte Prepaid-Stromzähler installiert, die es den Stromanbietern ermöglichen, die Stromzufuhr abzuschneiden, sobald die den Haushalten zugebilligte (und keineswegs ausreichende) Menge überschritten wird und/oder die Abnehmer Zahlungsrückstände aufweisen. Die Folge dieses Systems sind massenhafte Stromabschaltungen, gegen die sich die Betroffenen organisiert zur Wehr setzen durch "illegales" Wiederanschließen ans Stromnetz. Ruiters sagt dazu, daß eines der Hauptziele des Staates darin bestünde, "gegen eine behauptete 'Kultur der Zahlungsverweigerung' zu kämpfen und marktkonforme Verhaltensweisen zu fördern" (S. 51).

Stephen Greenberg, der eng mit der Landlosenbewegung in der Region Gauteng zusammengearbeitet und Untersuchungen zur Landreform durchgeführt hat, kommt in seinem Beitrag "Land und Unfreiheit" (S. 59) zu gleichermaßen ernüchternden Ergebnissen und zeigt auf, daß es des Widerstands der Landlosen bzw. der in der Vergangenheit enteigneten Landbevölkerung bedarf, um ihr Interesse an einer Verbesserung ihrer Lebensbedingungen durchzusetzen. Nach Maßgabe der Weltbank (!) hat die ANC-Regierung ein Programm der Landumverteilung aufgelegt, das diesen Namen kaum verdient, da es auf dem Freiwilligkeitsprinzip des Verkäufers beruht. Und welcher (in aller Regel weiße) Farmer wird schon "freiwillig" die Besitz- und damit auch Macht- und Gewaltmittel aus der Hand geben, die ihm, basierend auf kolonialer Enteignung und Apartheid, die Kontrolle und Ausbeutung der noch immer in Armut und Abhängigkeit lebenden Landbevölkerung ermöglichen?

Durch den sogenannten technischen Fortschritt wurde in der Zeit zwischen 1985 und 2000 die Zahl der Landarbeiter von fast 1.500.000 auf 500.000 reduziert. Der 2002 eingeführte Mindestlohn für Landarbeiter von ca. 65 Euro ist einerseits zu niedrig und wird andererseits nicht zur vollen Höhe ausgezahlt, wogegen die Landarbeiter kaum zu protestieren wagen. So haben die Herrschaftsverhältnisse zwischen weißen Farmern und schwarzen Landarbeitern bzw. Landlosen das Ende der Apartheid überdauert. Oder, wie der Autor unter Berufung auf den von ihm zitierten Jabu Dladla, einen Aktivisten der Landless People's Movement (LPM) in Wakkerstrom im Orange Free State, darlegt:

Die Buren haben die Polizei wieder unter ihrer Kontrolle. Das lässt sich anhand eines privaten Sicherheitsdienstes zeigen, der widerständige Farmarbeiter überfällt und sie dann zur Polizei bringt, wo ihnen gedroht wird, dass sie angezeigt werden.
(S. 63)

In einem anonymen Interview vom 12. August 2003 soll ein Farmbewohner gesagt haben:

Wir werden uns niemals an den Farmer direkt wenden, weil wir Angst haben. Wenn du mit ihnen sprichst und die Forderung nach Land anmeldest, fahren sie mit dir an einen entlegenen Ort und schlagen dich solange zusammen, bis du deine Kündigung unterschreibst und keine weiteren Forderungen mehr stellst.
(S. 63)

Nun sind die Verhältnisse auf dem Land oder in der Elektrizitäts- und Gesundheitsversorgung keine unrühmlichen Ausnahmen oder eklatanten Mißstände inmitten einer im übrigen systematisch vorangetriebenen Sozial- und Wirtschaftspolitik, die die Umsetzung der aus der Freiheitscharta wie auch früherer ANC-Versprechen herrührenden Absichtserklärungen mit wenn auch langfristig angelegter Zielstrebigkeit verfolgen würde. Patrick Bond, Professor für Politische Ökonomie und Leiter des Centre for Civil Society an der University of KwaZulu-Natal in Durban, war zu Beginn der ANC-Regierungsära als Regierungsberater tätig und gehört heute zu den prominentesten Kritikern der Regierungspolitik. Am Beispiel der Metropole Johannesburg weist er in seinem 2007 verfaßten Text ("Johannesburg: Von Gold und Gangstern", S. 127) die Verbindungslinien zwischen dem Apartheidsregime und der heutigen Regierungsallianz nach.

Um der Wasserknappheit in der Metropole zu begegnen, hatten die "Architekten der Apartheid und die Projektleiter der Weltbank" seinerzeit ein Damm- und Tunnelsystem entworfen, um aus dem verarmten Nachbarstaat Lesotho Wasser abzuziehen. Zehntausende Kleinbauern wurden von ihrem Land vertrieben, die Zeche zahlten die städtischen Armen in Johannesburg durch erhöhte Wasserpreise infolge der Baukosten für die Dämme in Lesotho. Zur Zeit des Apartheid-Präsidenten P. W. Botha hatte die Weltbank wegen des gegen Südafrika verhängten Embargos geheime Konten eingerichtet, um ungeachtet der Proteste der Befreiungsbewegung dieses Projekt zu finanzieren. Als der ANC an die Regierungsmacht kam, segnete er das Dammprojekt ab und lehnte die Forderungen betroffenen Basisbewegungen nach einer finanziellen Inanspruchnahme der Großverbraucher ab. Vergebens wandten sich die Bewohner der Townships 1998 an das Kontrollgremium der Weltbank, das eine Untersuchung dieser Vorwürfe ablehnte.

Diese Beispiele mögen genügen um anzudeuten, wie vieles in Südafrika noch immer im argen liegt. Um der politischen Solidarität mit der Anti-Apartheidsbewegung, die als Fundament des heutigen demokratischen Südafrikas zweifellos zu gelten hat, willen wäre es wohl unangemessen, wenn auch nicht unbegründet, so etwas wie eine Mängelliste aufzustellen, um der heutigen ANC-Elite ihre nicht eingelösten Versprechen vorzuhalten. Dies wäre allein Sache derjenigen, denen gegenüber der ANC sowie die übrigen Organisationen aus dem Anti-Apartheidskampf, die sich in der Zeit danach am Aufbau des womöglich gar nicht so neuen Staates beteiligt haben und beteiligen, diese Versprechen gemacht haben. Neville Alexander, Anti-Apartheidsaktivist seit den 1950er Jahren und nach seiner Promotion 1961 in Tübingen in Südafrika zehn Jahre lang auf Robben Island inhaftiert, unternimmt in seinem Beitrag "Klasse, 'Rasse' und nationale Einheit im neuen Südafrika" (S. 177) einen Erklärungversuch zur 'schwarzen Elitenbildung' der Post-Apartheid-Ära:

Die Metamorphose der schwarzen Elite - womit ich die oberen drei Zehntausend der Einkommensleiter meine - zu dem, was alle Eliten werden, ist nur für Naivlinge und auf eine romantische Vorstellung von Ubuntu hoffende Menschen unerklärlich und überraschend. Das Diktum de te fabula narratur von Karl Marx erweist sich in diesem anthropologischen Rätsel als nur allzu wahr. Für viele von uns, die mit etlichen der leuchtenden Vorbilder dieser Elite in den Schützengräben gegen den "Apartheid-Kapitalismus" gekämpft haben, ist es schwer, die psychischen Strukturen zu begreifen, die es ihnen ermöglichen, in so kurzer Zeit einen derart fundamentalen Wandel zu vollziehen.
(S. 181-182)

Alexander bezieht sich auf eine im Auftrag der UN-Konferenz gegen Rassismus vom International Council on Human Rights Policy 2001 erstellte Studie, um zu untermauern, daß sich rassistische Diskriminierung und ökonomische Marginalisierung wechselseitig verstärken, woraus der Wissenschaftler ableitet, daß der "Kampf für ein nicht-rassistisches, nicht sexistisches und demokratisches Südafrika" eher "Generationen als Jahrzehnte dauern" werde (S. 183). Die naheliegende Schlußfolgerung, daß selbst in einem Land wie Südafrika, das wie kaum ein zweites eine extreme Geschichte rassistisch ausgeprägter Gewaltherrschaft aufweist, der Rassenfrage keine primär-kausale Bedeutung zukommt, sondern daß in dieser Region europäisch-abendländischer Expansion und Inbesitznahme die Hautfarbe das höchstwillkommene und aus Sicht der Okkupanten überaus geeignete Unterscheidungsmerkmal war, um eben diese Unterscheidung als das Kernprinzip der Herrschaft des Menschen über den Menschen in eine unangreifbar anmutende Form zu bringen, zieht Alexander allerdings nicht. Gleichwohl neigt er der kapitalismuskritischen Sicht zu, derzufolge das Erbe der Apartheid nicht überwunden werden kann, solange die armen (schwarzen) Menschen immer ärmer werden:

Auch in Südafrika wird die gewandte Rhetorik über soziale Transformation, nationale demokratische Revolution und afrikanische Renaissance ihre Vertreter so lange zum Narren halten, bis eine radikale Umverteilung der materiellen Ressourcen zu Lebzeiten der heutigen und nächsten Generation realisiert wird.
(S. 184)

Alexander zufolge kann eine "viktimierte Gruppe" ohne eine "ausgleichende, reformorientierte Macht" der Armut oder dem Stigma nicht so einfach entfliehen (S. 184), weshalb er eine Verpflichtung des Staates postuliert, hier tätig zu werden:

In Anbetracht der Tatsache, dass Südafrika keine soziale Revolution - wie z.B. Kuba 1959 - erlebt hat, in deren Verlauf unter Bedingungen von Bürgerkrieg und traumatisierter Gewalt der Besitz der herrschenden Klasse konfisziert worden wäre, war, ist und bleibt affirmative action ein politisches Muss für die Befreiungsbewegung. Jede Post-Apartheid-Regierung ist zur Umverteilung von ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Macht und der entsprechenden Ressourcen verpflichtet, da sie das grundsätzliche Motiv für den Kampf gegen den "rassischen Kapitalismus" (racial capitalism) im Allgemeinen und Apartheid im Besonderen bildeten. Andernfalls werden ihre soziale Basis und ihre Wählerschaft diese Regierung als ein Neo-Apartheid-Regime abschreiben.
(S. 184/185)

Mit der Adressierung der Regierung und der Formulierung gesellschaftlicher Ansprüche, so begründet diese auch sein mögen, ist dem Dilemma des heutigen Südafrikas kaum beizukommen, einem Land, das eine in der Bevölkerungsmehrheit tief verwurzelte und verankerte Tradition des Widerstandes aufweist, die, so seltsam das klingen mag, heute ein Teil des Problems wie auch möglicher Lösungen ist. Mit der Herausgabe des Sammelbandes "Südafrika. Die Grenzen der Befreiung" ist es dem Verlag Assoziation A gelungen, sozusagen rechtzeitig vor der kurz bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft, ein Werk vorzulegen, das dem hierzulande - und sei es kurzfristig - aufflackernden Interesse an Land und Leuten vollauf Rechnung zu tragen imstande ist und deshalb nur wärmstens und in der gebotenen politischen Solidarität empfohlen werden kann. Es versteht sich von selbst, daß in einem solchen Band die WM nicht als ein Akt der Befreiung Afrikas oder ein Geschenk der internationalen Gemeinschaft an die Republik Südafrika gefeiert, sondern kritisch reflektiert wird.

Der Ökonom Oupa Lehulere, Leiter des Khanya Colleges in Johannesburg, das Bildungskurse für Arbeitende und Mitglieder der armen Communities anbietet, widmet sich in einem der letzten Beiträge des Buches ("Der xenophobe Ausbruch in Südafrika: Strategische Fragen für soziale Bewegungen", S. 233) den Ereignissen vom Juni 2008, durch die Südafrika wegen der pogromartigen Überfälle auf zumeist illegalisierte Ausländer international in die Negativ-Schlagzeilen gekommen war. Tausende Menschen waren durch einen "fremdenfeindlichen Mob" vertrieben worden, 63 sogar getötet. Südafrika war entsetzt, und augenblicklich entstand großer Erklärungsbedarf, um zunächst einmal verständlich zu machen, warum etwas geschehen war, was im Post-Apartheid-Staat niemals hätte geschehen dürfen. Lehulere benennt in seinem Fazit die "politische und organisatorische Schwäche der ArbeiterInnenklasse und ihrer Organisationen" als "hilfreich zur Erklärung xenophober Gewaltausbrüche" (S. 144).

Der praktische Nutzen eines solchen Erklärungsansatzes ist jedoch eher gering, da er die aufgeworfene Frage lediglich weiterleitet etwa dahin, worin die Ursache der angeführten Schwäche der Arbeiterklasse zu vermuten sei. Da die Suche nach Antworten und Lösungskonzepten, die in diesem Kontext in die Forderung nach offenen Grenzen mündet, um Menschen aus anderen Staaten Afrikas gar nicht erst auszugrenzen bzw. als Fremde erscheinen zu lassen, der Inangriffnahme der aufgezeigten Probleme sowie der Bewältigung der bislang keineswegs zu Ende geführten Konflikte nicht unbedingt zuträglich ist, stellt das Fehlen paßförmiger Rezepte und mutmaßlicher Rundum-Erklärungen keineswegs ein Manko des vornehmlich von regierungskritischen Autoren und Autorinnen verfaßten Sammelbandes dar. Dessen unbestreitbare Qualitäten liegen gerade darin, ohne vorschnelle Urteile und doch nicht standpunktlos in die gesellschaftlichen Probleme Südafrikas, wie sie für sehr viele Menschen ungeachtet des hierzulande vorherrschenden Klischees eines Landes im trommelnden Fußballfieber, in dem Elefanten und Löwen in sehenswerten Wildparks zu bestaunen sind, bestehen mögen, eingeführt zu haben.

11. Mai 2010


Jens Erik Ambacher & Romin Khan (Hg.)
Südafrika
Die Grenzen der Befreiung
Berlin/Hamburg, April 2010
Verlag Assoziation A
263 Seiten
ISBN 978-3-935936-60-6