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REZENSION/499: Andreas Fisahn - Herrschaft im Wandel (SB)


Andreas Fisahn


Herrschaft im Wandel

Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates



Die Weltwirtschaftskrise hat den vordergründigen Charakter der neoliberalen Verwertungsdoktrin überzeugend unter Beweis gestellt. Die zur Optimierung der Profitrate geforderte Staatsferne war in dem Moment vergessen, als die öffentliche Alimentierung der überschuldeten Finanzwirtschaft als einziger Ausweg aus einer Krise erschien, die ansonsten zu grundlegenden Veränderungen des herrschenden Akkumulationsregimes hätte führen können. Eben deshalb bleibt die Verabsolutierung der kapitalistischen Wachstumslogik zum Imperativ wesentlicher politischer Entscheidungen unangefochten bestehen. Der Abgesang auf das Ende des Kapitalismus, der auf das Eingeständnis der Jahre vor ihrer öffentlichen Wahrnehmung manifest gewordenen Wirtschaftskrise einsetzte, ist verstummt, die Debatte um die neokonservative Formierung einer an Klassenprivilegien und Standesdenken ausgerichteten Gesellschaft beherrscht das publizistische Feld. Mit Antritt der schwarz-gelben Bundesregierung setzt sich ein Staatsverständnis durch, das die fortschrittlichen Errungenschaften der sechziger und siebziger Jahre vollends durch eine Ideologie sozialen Zwangs und politischer Repression ersetzen soll. Von allgemein unterschätzter Bedeutung für die Durchsetzung unumkehrbarer Herrschaftsstrukturen ist die europäische Integration, die auf demokratischem Wege eroberte Potentiale durch eine administrative Superstruktur rückgängig macht, deren politische Ökonomie neoliberal verfaßt ist und die den dafür erforderlichen ordnungspolitischen Rahmen mit Hilfe einer übergeordneten zentralistischen Gouvernementalität etabliert, deren Dezisionismus Ausdruck programmatischer Demokratieferne ist.

Um so wertvoller sind Überlegungen, die sich unter Anknüpfung an den bereits erreichten Stand linker Staatstheorie mit der zeitgemäßen Artikulation administrativer Verfügungsgewalt auseinandersetzen. Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bielefeld, ist zuletzt als Verfahrensbevollmächtigter für die Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Lissaboner Vertrag der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag öffentlich in Erscheinung getreten. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 hat der Beschwerdeführer zumindest einen Teilerfolg erzielt. Auch wenn das Inkrafttreten des Vertrags nicht verhindert werden konnte und die Novellierung der Begleitgesetze das offenkundige Demokratiedefizit der EU-Integration nicht aufgehoben hat, so hat das Engagement der Linken gegen die Fortentwicklung der Europäischen Union zu einem nach innen repressiven und nach außen aggressiven europäischen Bundesstaat die in Deutschland stets unterentwickelte Debatte um diese Entwicklung zumindest etwas belebt.

Mit seinem im März 2008 erschienenen Buch "Herrschaft im Wandel" hat Fisahn ein Grundlagenwerk zur kritischen Staatstheorie vorgelegt, das sich gerade in Anbetracht dieser Entwicklung mit wachsendem Gewinn lesen läßt. Aufgezäumt an der Frage "über welche Mittel und Methoden organisiert und stabilisiert der moderne demokratische Staat soziale Herrschaft, d.h. eine ungleiche Macht und Chancenverteilung" (S. 9), läßt der Autor die wichtigsten und bekanntesten Theorien staatskritischen Denkens Revue passieren. Bei aller Komplexität und Differenziertheit des dargebotenen Materials verhindert diese Frage ein deskriptives Referieren, das viele politikwissenschaftliche Abhandlungen zu diesem Thema zu einer schwerverdaulichen Lektüre macht. Fisahn verzichtet an keiner Stelle darauf, die vorgestellten Theorien durch eigene Überlegungen zu ergänzen und in ihrer jeweiligen Relevanz für die notwendige Kritik an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen zu bewerten.

Wie sehr eine solche erforderlich ist, belegt der Autor anhand der materialistischen Analyse der Herrschaftsverhältnisse in kapitalistischen Systemen unter Verwendung zahlreicher Zitate aus dem reichen Fundus der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels. Der Rückgriff auf diese Klassiker linken Denkens führt auch dem marxistisch nicht geschulten Leser die Aktualität einer Gesellschaftskritik vor Augen, die im 19. Jahrhundert unter ganz anderen sozialen Entwicklungsbedingungen Gestalt annahm. So verweist Fisahn anhand des von Marx postulierten Ziels der Selbstorganisation der Gesellschaft auf die bis heute gültige Ambivalenz der Grundrechte, die einerseits "die staatsbürgerliche Stellung konstituieren und absichern", während sie andererseits "die Staatsbürger in ihrer Gesamtheit daran hindern, ihre Vorstellung vom gesellschaftlichen Zusammenleben zu beschließen, weil individuelle Rechte entgegenstehen" (S. 83).

Mit Ernst Bloch geht Fisahn jedoch über das Problem eines die Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung vermeintlich behindernden Individualrechts hinaus und spricht sich für ein naturrechtlich verankertes Menschenrechtsverständnis aus, in dem der sozialutopische Vorschein auf eine andere Gesellschaft allerdings nur dann eine Chance auf Verwirklichung hat, wenn die Etablierung der Menschenrechte mit dem Ende der Ausbeutung einhergeht et vice versa. Als Rechtswissenschaftler scheint es dem Autor ein besonderes Anliegen zu sein, den von ihm ausführlich analysierten Widerspruch zwischen formaler Rechtsgleichheit und materieller Ungleichheit auf den Nenner einer Rechtsform zu bringen, der über das Absterben des Staates in einer kommunistischen Gesellschaft hinaus Gültigkeit zukäme. Zu beurteilen, ob diese an der von ihm befürchteten Beseitigung aller Unterschiede zwischen Menschen scheiterte oder ob die Aufhebung der kapitalistische Gesellschaften bestimmenden Interessengegensätze nicht einen in seiner Individualität ganz und gar autonomen Menschen hervorbrächte, dem die dritte Instanz einer übergeordneten Rechtsform entbehrlich wäre, um den anderen im Sinne der von Bloch gesetzten "letzten Norm des objektiven Rechts: Solidarität" (S. 90) zu respektieren, muß wohl Aufgabe der praktischen Verwirklichung herrschaftsfreien Lebens bleiben.

Die politische Ökonomie der kapitalistischen Vergesellschaftung bildet die Achse der Untersuchung, mit der Fisahn das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Öffentlichem und Privaten, von Herrschaft und Demokratie, von Recht und Freiheit bestimmt. An der Prämisse des Kapitalverhältnisses zeigt sich die irreführende Wirkung einer politischen Wissenschaft, die das soziale Geschehen an verfassungsrechtlichen Normen ausrichtet, deren Zustandekommen unter Ausblendung der sie konstituierenden Klasseninteressen wenn nicht ad hoc als Axiom gesetzt, dann bestenfalls in einer geschichtsphilosophischen Kausalität verankert wird, deren Fortschrittsanspruch unüberprüft bleibt. Indem Fisahn dem demokratischen Verfassungsideal die zahlreichen Widersprüche entgegenhält, die aus ökonomischen, institutionellen und bürokratischen Machtdispositionen resultieren, eröffnet er eine Diskussion, die den im antikommunistischen Furor herrschender Ideologie wegbehauptete Wirkmächtigkeit linker Kritik als unvermindert zukunftsweisende Emanzipationsbestrebung kenntlich macht.

Während die Theorien solch profilierter Staatstheoretiker wie Nicos Poulantzas, Antonio Gramsci, Joachim Hirsch und Eugen Paschukanis auf ihre Tauglichkeit als analytische Instrumente zur Widerlegung systemapologetischer Ideologeme und Bestimmung eines antagonistischen Subjekts hin überprüft werden, unterzieht Fisahn die eher systemkonformen Anschauungen Max Webers, Niklas Luhmanns und Jürgen Habermas' der gründlichen Kritik ihres herrschaftsförmigen Charakters. Dabei klärt der Autor über den irreführenden Charakter der neoliberalen Verwendung des von Gramsci geprägten Begriffs der Zivilgesellschaft als eine gegen den Staat positionierte Sphäre bürgerlicher Freiheit auf, bringt die Luhmannschen Systemtheorie auf ihren eigenen Begriff einer selbstreferentiellen Kurzschlüssigkeit und weist der Habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns eine programmatische Blindheit gegenüber systemischen Machtansprüchen nach. Ideologie als Mittel zur Sicherung kapitalistischer wie staatlicher Herrschaft wird am Beispiel Louis Althusser kritisiert und am Marxschen Entfremdungsbegriff weitergeführt, um in die von der Frankfurter Schule geleistete Kritik der instrumentellen Vernunft zu münden und unter Verweis auf Leo Kofler, Georg Lukács und Pierre Bourdieu weiterdiskutiert zu werden.

So schöpft Fisahn aus der Fülle in den letzten Jahrzehnten geführter Diskussionen, deren Akteure sich bereits ausgiebig mit den Sackgassen und Abgründen einer Systemkritik herumgeschlagen haben, die allzuleicht Gefahr läuft, vom hegemonialen Strom intellektueller Reflexion aufgesogen und gegen das ursprüngliche emanzipatorische Ziel gewendet zu werden. Die hochgradige Adaptionsfähigkeit kapitalistischer Modernisierung hat sich gerade am Beispiel des Neoliberalismus bewiesen, war dieser doch in der Lage, den fortschrittlichen Anspruch auf Freiheit und Gleichheit in die Atomisierung der flexibilisierten Arbeitsteilung zu treiben, als "Leistungsgerechtigkeit" gegen die ursprünglich gemeinte Solidarität mit den Schwachen zu kehren und anhand der Forderung nach mehr "Eigenverantwortung" die Entkopplung des Sozialen von seiner gesellschaftlichen Determination zu vollziehen. Dem unzureichenden bis kontraproduktiven Charakter der der Entgrenzung des Kapitalprimats entgegengehaltenen Verrechtlichung trägt Fisahn durch die profunde Widerlegung der Unterstellung Rechnung, die Institutionen des Rechts könnten unabhängig von den Bedingungen der Vergesellschaftung gedacht werden.

Bei aller Abstraktheit der herausgearbeiteten Zusammenhänge und Widersprüche wird stets deutlich, daß deren strukturelle Voraussetzungen, die in ihrer Verstetigung eine Eigendynamik entfalten, gegenüber der der einzelne sich ohnmächtig wähnt, unter Zustimmung aller daran Beteiligten etabliert werden. Herrschaft muß organisiert und kann gegen eine ihr entschieden ablehnend gegenüberstehende Bevölkerung nicht vollzogen werden. Die Komplexität der Administration hochorganisierter arbeitsteiliger Gesellschaften ändert nichts daran, daß die Ermächtigung des bürgerlichen Subjekts zum politischen Souverän durch Vermittlungsprozeduren hintertrieben werden muß. Nur so kann die offenkundige Ungerechtigkeit herrschender Verhältnisse fortgeschrieben und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche in den Rang einer anthropologischen Konstante erhoben werden. Die eigene Beteiligung an der Herrschaft des Menschen über den Menschen spiegelt sich mithin ebenso in der erlittenen Unterwerfung, wie sie in der Eroberung der Kommandohöhen manifest wird.

Die Lektüre dieses Werks ist bei aller Kompliziertheit der Materie überaus spannend, gerade weil der Autor keinen finalen Entwurf abliefert, sondern die jeweiligen Postulate im dialektischen Umschlag auf ihre Entwicklungsträchtigkeit hin überprüft. In Anbetracht der zunehmenden Trivialisierung und Ideologisierung des gesellschaftspolitischen Diskurses bleibt ihm eine Verbreitung über die beruflich mit Staatstheorien befaßten Kreise hinaus zu wünschen, um die erforderliche Ausbildung einer streitbaren emanzipatorischen Gegenbewegung zu beflügeln.

13. November 2009


Andreas Fisahn
Herrschaft im Wandel
Überlegungen zu einer kritischen Theorie des Staates
PapyRossa Verlag, Köln, 2008
410 Seiten, 22,90 Euro
ISBN 978-3-89438-391-6