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REZENSION/493: Michael Zeuske - Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas (SB)


Michael Zeuske


Von Bolívar zu Chávez

Die Geschichte Venezuelas



"Venezuela ist in aller Munde." Mit diesem, wohl leicht übertriebenem Satz beginnt das 2008 erschienene und von Michael Zeuske verfaßte Buch "Von Bolívar bis Chávez. Die Geschichte Venezuelas", in dem der Autor, seit 1993 Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln, auf über 600 Seiten seinem Ansinnen, die Geschichte Venezuelas in den letzten 500 Jahren umfassend darzustellen, gerecht zu werden sucht. Da es zum berufsständischen Repertoire der Historikerzunft wie auch anderer Wissenschaftsdiszplinen gehört, auf der Basis einer in Anspruch genommenen angeblichen Neutralität den Eindruck zu erwecken, als könnten sich forschende und vermeintliche Erkenntnisse gewinnende Geister dem Objekt ihrer Begierde ohne eigene Interessen und Absichten auch nur nähern, ist leicht nachzuvollziehen, warum sich der Autor eines Beobachterstandpunktes bediente, von dem aus er die Geschichte Venezuelas seit ihren vorkolonialen Anfängen Revue passieren läßt.

Mit der Formulierung, Venezuela sei heute in aller Munde, wird der Autor vermutlich auf die hohe politische, um nicht zu sagen weltpolitische Brisanz anspielen, die dem heutigen Venezuela unter der Regierung von Präsident Hugo Chávez schon allein deshalb zukommt, weil dessen "Bolivarische Revolution" aufgrund ihrer bloßen Existenz eine Infragestellung und damit Gefährdung globaler Macht- und Herrschaftsverhältnisse darstellt, von denen eine in den westlichen Führungsstaaten zu verortende administrative Elite bereits geglaubt haben mag, sie vollständig unter ihre Kontrolle gebracht zu haben. Die große Schlacht gegen einen Herausforderer mit Namen "Sozialismus" scheint längst geschlagen (und gewonnen) zu sein.

Nun kommt ein "Niemand" daher und bricht in einem Land, das laut Zeuske jahrzehntelang zu den "stabilen Demokratien" Lateinamerikas gehörte, eine Entwicklung vom Zaun, die nicht mehr den Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen einer "neoliberal" titulierten Weltordnung entspricht und dem Zugriff jener, die sich dieses Instruments zur Erfüllung ihres Verfügungsanspruchs gegen alle Länder, Menschen und Sourcen der Erde bedienen, bereits entzogen wurde. Wenn also Venezuela heute in aller Munde zu sein scheint, dann deshalb, weil mit dem Wahlsieg des Venezolaners Hugo Chávez im Jahre 1998 und dem anschließend eingeleiteten und nach wie vor weiterentwickelten Umwandlungsprozeß eine Konflikt- und Konfrontationslinie nachgezogen wurde, die häufig mit dem Begriff "Polarisierung" umschrieben wird.

Michael Zeuske benutzt diesen Begriff in seinem Buch gern und häufig und knüpft damit begrifflich wie inhaltlich an den vorherrschenden Konsens an, durch den eine große Einigkeit zwischen Herrschenden und Beherrschten behauptet wird ganz so, als könnte eine Aufhebung solch fundamentaler Interessengegensätze überhaupt möglich sein. Die Verwendung des Begriffs Polarisierung stellte eine wenn auch eher versteckte Stellungnahme zugunsten der herrschenden Ordnung und ihrer Protagonisten dar, die selbstverständlich kein Interesse daran haben können, daß durch das Beispiel Venezuelas weltweit Menschen angeregt werden könnten, das Wort Sozialismus neu zu buchstabieren und auf die Brauchbarkeit einer noch unerfüllten gesellschaftlichen Utopie hin abzuklopfen. Im Klappentext des Buches wird die abwertende Verwendung des Begriffs "polarisiert" durch das kleine Wörtchen "aber" betont:

Einige Jahrzehnte lang gehörte das Erdölland Venezuela zu den "stabilen Demokratien" in Lateinamerika. Zwischen 1950 und 1980 war es dank Petrodollars das reichste Land des Subkontinents. Venezuela ist aber zugleich ein Beispiel dafür, wie traditionelle Oligarchien "Demokratie" gestalten und ein Land zugrunde wirtschaften können. 1983 kam der Staatsbankrott und in der Folge davon der Aufstieg einer der schillernsten politischen Figuren Lateinamerikas, Hugo Chávez. Ihm ist oft das baldige Scheitern vorausgesagt bzw. herbeigewünscht worden. Doch tatsächlich ist er dabei, das Land umzugestalten. Er hat ihm einen neuen Namen, eine neue Verfassung, neues politisches Personal und eine ganze Reihe moderner Sozial- und Armutsprogramme verschafft. Aber das Land ist auch nach wie vor stark polarisiert. Das ist das Ambiente großer historischer Wandlungsprozesse, und diese verlangen nach historischen Erklärungen. Michael Zeuske zeichnet die Geschichte Venezuelas von vorkolonialen Zeiten und spanischer Conquista über Sklaverei und Unabhängigkeitskampf, die Abspaltung des Landes von Símon Bolívars "Groß-Kolumbien" im 19. Jahrhundert, Industrialisierung und Erdölboom im 20. Jahrhundert bis zu Chávez' "Bolivarianischer Revolution", mit der das 21. Jahrhundert Venezuelas begonnen hat.

Aus diesen, die inhaltliche Ausrichtung des gesamten Buches durchaus umreißenden Sätzen läßt sich ablesen, daß Zeuske einen verhalten anti-chavistischen Standpunkt einnimmt. Chávez ist nicht nur sein Scheitern (oder gar sein gewaltsamer Tod) gewünscht worden, sondern - anders ließen sich die hohen und seit nun bereits zehn Jahren andauernden Wahlerfolge des venezolanischen Präsidenten und seiner Regierung wohl nicht erklären - das genaue Gegenteil. Wenn Zeuske von einem "Ambiente großer historischer Wandlungsprozesse" spricht, die nach "historischen Erklärungen verlangen", tut er dies im Gestus des überaus sachkundigen Historikers, der seine in der Detailtiefe fraglos ergiebige und informative Darstellung eines halben Jahrtausends venezolanischer Geschichte ganz in den Dienst einer Bewältigung des Problems Chávez gestellt zu haben scheint. Dabei darf Zeuske keineswegs als (offener) Chávez-Gegner bezeichnet werden, wie auch die Zielgruppe seines jüngsten Buches zur Geschichte des Landes nicht in erklärten Chávez-Gegnern, wie sie auch im deutschsprachigen Raum anzutreffen sind, sondern in der anwachsenden Schar wohlwollend-interessierter Menschen zu vermuten sein dürfte, die ausgehend von den aktuellen Auseinandersetzungen in und über Venezuela hinaus zunächst einmal einfach nur wissen wollen, was es denn mit dem sogenannten "Chavismus" auf sich hat und was nicht.

Wie ernst die politische Auseinandersetzung bereits ist, die sich an dieser Frage auch über den lateinamerikanischen Raum hinaus entzünden könnte, belegt der Militärputsch vom 28. Juni dieses Jahres in Honduras, der zwar weltweit einhellig verurteilt, aber keineswegs beendet wurde, was durch eine konsequente Finanz- und Wirtschaftsblockade auch ohne Einsatz gewaltsamer Mittel sehr wohl möglich wäre. Dieser Putsch wird mehr oder minder offen als erster erfolgreicher Schritt im Kampf gegen den "Chavismus" bezeichnet, was das Interesse hierzulande an Venezuela noch befördern könnte. Zeuske hingegen spricht - mit durchaus diffamierendem Unterton - von den "exotischen Sehnsuchtsprojekten europäischer Linker":

Für Globalisierungskritikerinnen und -kritiker (das sind Menschen, die gegen eine nahezu ausschließliche Globalisierung von Kapital, Technologien und Dienstleistungen, aber durchaus für eine Globalisierung von unten sind) und einen Teil der traditionellen Linken ist Venezuela die Option für die Zukunft. Der historische Raum Venezuela und die Nation mit dem Vornamen Venezuela haben allerdings mit den exotischen Sehnsuchtsprojekten europäischer Linker wenig zu tun. Folglich zeichnen sich alle jetzt schnell geschriebenen Arbeiten über die "bolivarianische Revolution" neben vielen Positiva vor allem durch ein Manko aus, das man an einem Detail festmachen kann: Keines der Bücher und Pamphlete greift auf eine Karte Venezuelas zurück - die Utopie hat also, wie immer, keinen richtigen Ort.
(S. 12)

Die (Un-) Logik dieser Sätze gereicht dem Autor nicht unbedingt zur beruflichen Ehre. Weil "alle jetzt schnell geschriebenen Arbeiten" über die bolivarische Revolution - vermutlich meint Zeuske unvoreingenommen-interessierte bis solidarische Stellungnahmen - ohne einen Rückgriff auf geographisches Kartenmaterial auskommen, habe die Utopie "wie immer" keinen "richtigen Ort"?! Dabei kommt Zeuske gar nicht umhin, die positiven Errungenschaften der bisherigen, gemessen an den vorherigen fünf Jahrhunderten venezolanischer Geschichte und Vorgeschichte recht kurzen Regierungszeit unter Präsident Chávez darzustellen und durchaus auch zu würdigen. Doch mit welchem Unterton, mit welcher Absicht?

Und Venezuela zeigte dem Westen auch, dass linke und soziale Themen in demokratischen Wahlen mehrheitsfähig sind, egal, was irgend welche Fachleute über die Richtigkeit oder Falschheit nach "reiner Lehre" orakeln - darin dürfte eine globale Wirkung des bolivarianischen Prozesses liegen.
(S. 528)

Das klingt ganz so, als wollte Zeuske den "Fall" Venezuelas in der westlichen Welt als Warnung verstanden wissen wollen. Für das Land selbst stellt der Historiker zähneknirschend fest:

Und es gibt keine Alternative in Bezug auf Sozial- und Wirtschaftspolitik für die 50 bis 60 Prozent Armen im Lande. Der Personalismo hat auch außerhalb des Chávez-Lagers außerordentliche Bedeutung, wie insgesamt für die politische Kultur im "Land der Helden", dem Texas von Südamerika, und somit auch und gerade für die Erkennbarkeit der Opposition.
(S. 529)

Wie ein roter Faden ziehen sich Begriffe, Schilderungen und Bewertungen durch das Gesamtwerk, die auf den "Personalismo", also die hohe Bedeutung einzelner Persönlichkeiten, abstellen und dies zur Generalerklärung gesellschaftlich-historischer Vorgänge und Entwicklungen im gesamten lateinamerikanischen Raum machen. Die Nutzanwendung einer solchen Analyse liegt auf der Hand: Politik wird als "von oben" und mehr noch von bedeutenden Anführern ("Caudillos") dominiertes Geschehen definiert, beschrieben und vermittelt, ohne zu reflektieren, daß ein solches Denken hierarchische Verhältnisse widerspiegelt, zur Tatsache erklärt und somit tendenziell rechtfertigt. Damit sei an dieser Stelle keineswegs in Abrede gestellt, daß sich in der Geschichte und Vorgeschichte Venezuelas Anhaltspunkte in Hülle und Fülle finden lassen, um diesem Politik- und Geschichtsverständnis Leben einzuhauchen; dafür hat Michael Zeuske mit seinem Buch "Von Bolívar bis Chávez" angesichts des Umfanges sowie der Detailfreude und -genauigkeit einen durchaus beeindruckenden Beweis geliefert.

Wenn also, um nur ein Beispiel zu nennen, in der Tradition, Kultur und Geschichte Venezuelas das Geschichtenerzählen einen besonderen Stellenwert aufweist, der nicht auf der Seite der Conquistadoren und ihrer einheimischen Helfer und Helfershelfer, sondern auf der der gesellschaftlich ausgegrenzten Habenichtse zu verorten war, liegt es natürlich nahe, eine Linie zu ziehen zu dem fraglos ungewöhnlichen Redetalent des amtierenden venezolanischen Präsidenten. Wenn Hugo Chávez dann, wie Zeuske beschreibt, aus den Llanos, wie die weitläufigen Steppen im venezolanischen Hinterland genannt werden, stammt, mestizisch-schwarze Vorfahren aufweist und bis zu seinem 17. Lebensjahr weder das Meer noch Caracas oder gar das Ausland gesehen hat und noch dazu als abergläubig gilt, scheint der Stoff, aus dem eine moderne Heldengeschichte geschrieben werden kann, wie es schon viele in der venezolanischen, von Kämpfen und Kriegen um Befreiung in durchaus unterschiedlichen und gegensätzlichen Bedeutungen gezeichneten Geschichte gegeben hat, komplett zu sein.

Der Erfolg der Regierung Chávez, die das heutige Venezuela, so wie Zeuske es darlegt, gespalten hat in rund 60 Prozent "Chavistas" und 40 Prozent "Anti-Chavistas", wäre jedoch kaum zu erklären, würde er ausschließlich auf dem Charisma des Präsidenten und/oder der Inanspruchnahme des Bolivar-Kultes beruhen. Der Autor hat in seinen umfänglichen historischen Darstellungen selbst aufgezeigt und nachgewiesen, daß die Conquistadoren und auch alle übrigen Herrscher des Landes selten selbst in Erscheinung getreten sind, sondern sich wortgewandter Statthalter bedienten, die "die Sprache des Volkes" so gut sprachen, daß sie die eigentlich große Masse der Ausgegrenzten, deren Aufbegehren und Revolten seit Jahrhunderten mit gutem Grund insgeheim befürchtet wurden, einzubinden verstanden. Wäre Chávez ein begnadeter Redner, dem es ohne Realitätsanbindung immer wieder gelingen würde, Menschenmassen für sich und seine Interessen einzuspannen, hätte er sich nahtlos eingereiht in die diesbezüglich keineswegs beispiellose Geschichte Venezuelas.

Nicht anders verhält es sich mit der Inanspruchnahme des Bolivar-Kultes, die ebenfalls, wie aus Zeuskes Schilderungen hervorgeht, keine neue Idee der Regierung Chávez war. Da Símon Bolívar im ganzen Land schlicht als der "Libertador" (Befreier) gilt und jedes Kind in Venezuela diesen Namen in dieser Bedeutung kennt, hat es in den zurückliegenden Jahrhunderten kaum eine Regierung oder ein Regime verabsäumt, sich dieses Mythos' zu bedienen. Símon Bolívar, ein konservativer Aristokrat, war und blieb ein Vertreter seiner Klasse bzw. Klasseninteressen, was erklärungsbedürftig ist angesichts der ihm bis heute zugewiesenen Rolle eines Vorstreiters für die Befreiung und Einigung Lateinamerikas (von ausländischer, das heißt kolonialer Vorherrschaft). Es gehört zu den Verdiensten Zeuskes, in seinem Buch über die Geschichte Venezuelas umfangreiches Material vorgelegt zu haben zu der Entmystifizierung historischer Persönlichkeiten wie Bolívar.

Bolívar lebte zwischen 1783 und 1830 und war Angehöriger der kreolischen Kolonialelite. Ihm gelang es, so Zeuskes Darstellung (S. 17.), durch Charisma und Geschick, einen Teil der wilden Bewohner aus den Savannen auf die Seite der "Patrioten" zu ziehen, wie sich die Küsteneliten nannten, die sich von der Vorherrschaft der spanischen Krone lösen und einen eigenständigen liberalen Staat nach europäischem Vorbild gründen wollten. Francisco de Miranda, ein weiterer kreolischer Freiheitskämpfer jener Zeit, der noch heute zu den (auch von Chávez verehrten) Nationalhelden gehört, scheiterte mit seiner Idee, in Venezuela eine Art französischer Revolution durchzuführen. Für einen Sieg gegen die spanischen Truppen war eine Zusammenführung und Einbindung der Kreolen, Mestizen, Indios, freien Farbigen ("Pardos") und ehemaligen Sklaven ("Cimarrones") unverzichtbar.

Unter den damaligen Eliten Venezuelas ging die Angst vor dem Gespenst "Haiti" um, wo keine Befreiung von oben, sondern ein revolutionärer Befreiungskampf der Sklaven und Unterdrückten stattgefunden hatte. Die Geschichte um die Befreiung Venezuelas hingegen ist untrennbar mit der der europäischen Kolonialmächte verbunden. Als 1808 napoleonische Truppen nach Spanien vordrangen und die spanischen Truppen in den anschließenden Kriegen banden, brachen Kämpfe und Kriege zwischen rivalisierenden venezolanischen Städten bzw. Eliten aus, ohne daß diese ihr primäres Interesse, nämlich einen Aufstand und Befreiungskrieg der venezolanischen "Pardos" präventiv zu verhindern, vernachlässigten. Eine komplizierte Gemengelage, aus der heraus Símon Bolívar einen - für die weißen Eliten - gangbaren Ausweg fand.

Am 5. Juli 1811 - der 5. Juli ist heute noch Nationalfeiertag in Venezuela - wurde die Unabhängigkeit Venezuelas proklamiert, obwohl seinerzeit kaum jemand von Venezuela als Nation sprach. Die herrschenden Eliten in den sieben spanischen Provinzen, die nach der Unabhängigkeitserklärung eine Konföderation bildeten, hatten sich zu diesem Schritt veranlaßt gesehen, nachdem Spanien Militärverbände zum Kampf gegen die zu Verrätern erklärte Junta von Caracas losgeschickt hatte. Zeuske beleuchtet die Rolle Bolívars in diesem Zusammenhang dahingehend, daß dieser früher als andere den militärischen Nutzen der Gewährung von Freiheitsrechten erkannt und eingesetzt hatte:

Bolivar beschrieb die Schwächen der bisherigen Unabhängigkeitsbewegung (Föderalismus) und plädierte für unbedingten Zentralismus (militärischen Jakobinismus). Der Krieg hatte Bolivars Erkenntnisse stark erweitert, vor allem indem er ihn aus den Gespinsten aristokratischer Kreise oder Diskurse herausgerissen hatte. Er erkannte, dass die Sklaven- und Bauernfrage sowie das Problem sozialer Freiheitsrechte für alle Männer Südamerikas extrem wichtig war.
(S. 146)

Um gegen die spanischen Truppen bestehen zu können, mußte die kreolische Unabhängigkeitsbewegung Soldaten rekrutieren. Was lag näher, als zu diesem Zweck die Sklaverei aufzuheben? Bolívar, der Befreier, ließ eine Proklamation verbreiten, in der die Befreiung der Sklaven verkündet wurde - allerdings nur für Sklaven im Alter zwischen vierzehn und sechzig, die sich innerhalb von 24 Stunden den Truppen Bolívars anschlossen, sowie ihre Familien und Verwandten. Es ist eine der unbestreitbaren Stärken des Buches, daß Zeuske auf der Basis seiner umfangreichen Quellenkenntnisse auch über die Vor- und Frühgeschichte Venezuelas, Widersprüche und Bruchlinien dieser Art herausgearbeitet bzw. diese seiner Leserschaft in gut verständlicher und leicht lesbarer Form in einer Umfänglichkeit präsentiert hat, die es allen Interessierten ermöglicht, eigene Fragestellungen aufzuwerfen und weiterzuentwickeln. Dem steht die Annahme, der Autor habe sein Gesamtwerk gleichwohl nicht ohne die eher unterschwellig gehaltene Absicht, Mißtrauen sowie eine potentiell ablehnende Haltung gegenüber der gegenwärtigen Regierung Venezuelas und den von ihr maßgeblich vorangetriebenen Loslösungsprozeß nicht nur des eigenen Landes, sondern ganz Lateinamerikas von der Vormachtstellung westlicher Staaten wie den USA zu schüren, keineswegs entgegen. Zeuske stellte beispielsweise klar, daß Bolívar nicht der Sklavenbefreier war, als der er gilt:

Land und Sklaven waren genau jene Institutionen, die Bolivar im Kampf gegen den Kolonialismus 1816 (Dekret zur Aufhebung der Sklaverei) sowie 1817 in der Auseinandersetzung mit dem Pardo Manuel Piar angegriffen hatte (Ley de Repartos). Im Krieg hatte es zwar furchtbare Zerstörungen gegeben, aber eine wirkliche Reform oder gar Aufteilung des Bodens (eine solche Verteilung des Bodens war Teil der Schreckenserzählungen über Haiti, wo wirklich die größte Landumverteilung der karibischen Geschichte stattfand) hatte kein einziger Vertreter der Eliten auf seiner Agenda, auch Bolivar nicht. (...)

Schwieriger war es schon, Freiheitsdiskurs und Sklaverei unter einen Hut zu bekommen. Die Sklaverei musste aus der Sicht der kreolischen Eliten der Küstenstädte unbedingt restauriert werden, denn eine der wichtigsten Folgen des Krieges war eine Verteuerung der Arbeitskraft. Die Rekonstruktion der Sklaverei bei so viel Reden und Texten über die "Freiheit" war kompliziert - aber die kreolischen Notablen, Rechtsanwälte und Notare verfügten über lange Herrschaftserfahrung.
(S. 170/171)

Da die Regierung von Präsident Hugo Chávez Bolívar auf die Fahnen des neuen Venezuela geschrieben hat und mit dem Begriff "bolivarisch" nicht nur den Staatsnamen ("Bolivarische Republik Venezuela"), sondern den gesamten Revolutionsprozeß sowie später auch den von Venezuela und Kuba gegründeten Zusammenschluß fortschrittlicher lateinamerikanischer Staaten ALBA ("Bolivarische Alternative für die Völker Unseres Amerika") belegt hat, könnten aufmerksame Leser die Schlußfolgerung ziehen, daß der heutige "bolivarische" Prozeß, der häufig mit Chávez gleichgesetzt wird, so als wäre eine solche Entwicklung tatsächlich durch das Wirken eines einzigen Menschen monokausal zu erklären, eine Mogelpackung. Da der Autor seine eigene politische Positionierung nicht klar zu erkennen gibt, kann eine kritische Würdigung seines Werks an dieser Stelle bestenfalls in der Fragestellung münden, ob dies in seiner Absicht gelegen haben könnte. Genährt wird diese Vermutung allerdings durch einige Anmerkungen, die, über das gesamte Werk verstreut, als dezente Seitenhiebe gegen die Regierung Chávez aufgefaßt werden könnten, indem sie ihr unterstellen, im Grunde ein verstecktes Militärregime zu sein. So führte der Autor beispielsweise in einem Kapitel, in dem es um den "Kampf für eine Nation mit dem Vornamen Venezuela" geht, folgendes aus:

Nach einigen Konflikten zwischen 1821 und 1825, die sich vor allem um die Kosten für Armee und Kriegführung drehten, aber auch mehr und mehr um die soziale und politische Stellung des Militärs, wurde eine informelle Methode entwickelt, demjenigen militärischen Anführer als obersten Chef (ab 1830 auch als formalen Präsidenten) zu wählen, der in der Lage war, die schlagkräftigste Armee persönlicher Milizen zu organisieren und unter Kontrolle zu halten und zugleich die Interessen des Machtkerns der Oligarchie zu sichern. Diese eher krude erscheinende "Wahl" gibt einen Schlüssel für die politische Geschichte Venezuelas von 1821 bis 1908 und für die politischen Traditionen bis heute. Das informelle System der Wahl des besten Caudillo [Anführer, Anm. d. SB-Red.] durch die grauen Eminenzen der Oligarchie, der durchaus auch eine radikale Sprache führen durfte, um von Llaneros [Bewohner der Steppen im Landesinnern, zumeist Reiternomaden, Anm. d. SB-Red.] und Volk verstanden zu werden, gewann beträchtliche Flexibilität und Subtilität, man könnte sogar von Eleganz sprechen.
(S. 176)

"... gibt einen Schlüssel ... für die politischen Traditionen bis heute" - dieses Satzfragment enthält in indirekter und verklausulierter Form eine der schwersten Anschuldigungen, die sich gegen die demokratisch gewählte Regierung einer parlamentarisch verfaßten Republik überhaupt nur erheben läßt. Da der Autor dies selbstverständlich sehr genau weiß und sich weder an dieser noch an anderer Stelle durch direkt formulierte und, so dies denn überhaupt möglich ist, konkret belegte und begründete Vorwürfe gegen die Regierung Chávez greifbar machen möchte, bleibt es bei Andeutungen dieser Art. Wenig später schlägt Zeuske noch einmal in dieselbe Kerbe:

Die Muntuanos [Eliten, Anm. d. SB-Red.] aus den alten Oligarchien nahmen in ihrem Kampf gegen den neuen Staat das Argument der Wirtschaftlichkeit sowie des realen Geld- und Arbeitskraftmangels auf und schlugen vor, die Militärs nach Ende des Krieges zu entlassen und die Armee aufzulösen. Das gelang ihnen zeitweilig; die Armee wurde durch Privatmilizen von Caudillos ersetzt (also quasi "privatisiert") - die Militares allerdings spielten trotzdem, im Grunde bis heute, vor allem im informellen Macht- und Wahlsystem eine extrem wichtige Rolle.
(S. 189)

Mit den dürren Worten "im Grunde bis heute" wird hier, ohne auch nur den Versuch einer Konkretisierung oder Begründung vorzunehmen, eine Verallgemeinerung vollzogen, die einem Historiker eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben müßte. Die Sachkompetenz, über die der Autor, noch dazu in seinem spezifischen Spezialgebiet, fraglos verfügt, wird in ihrer Nutzanwendung für interessierte Leser - leider - durch den sich im Verlauf des Buch erhärtenden Verdacht geschmälert, hier solle mit der geballten Faust historisch fundierter und umfangreicher Kenntnisse gegen die Regierung eines international höchst umstrittenen lateinamerikanischen Staates polemisiert und agitiert werden, der zufälligerweise den führenden Staaten der westlich-kapitalistischen Welt ob seiner Bemühungen um einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", zu dem die "Bolivarische Revolution" längst weiterentwickelt wurde, ein Dorn im Auge ist. In dem der Bolivarischen Revolution gewidmeten Kapitel heißt es unter dem Titel "Brücken, Seilbahnen und schottischer Whiskey für alle - Konsolidierung des Chavismus":

Die bisher Privilegierten leisten massiven Widerstand, der heute vorwiegend virtuell ist oder in Gerüchten besteht. Mit ihrer Kontrolle der Massenmedien verunsichert der harte Kern der Opposition, durchaus mithilfe internationaler Medien und Institutionen, die schon in den 80er- und 90er-Jahren irritierten urbanen Mittelklassen, Kleinunternehmen und Intellektuellen noch tiefer. Wegen des fast völligen Fehlens jeglichen De-facto-Rechtssystems, der weitverbreiteten Schattenwirtschaft, Kriminalität und Anarchie, die aus dem Staatszerfall der Jahre 1983 bis 1999 herrührt (und den jahrhundertealten Traditionen der Gewalt) und des Fehlens einer klar strukturierten sozialen und politischen Basis des Chavismus, muss dieser mehr und mehr auf die einzig organisierte Kraft setzen, die das Land hat und die auf keinen Fall auf die Gegenseite geraten darf: das Militär.
(S. 558)

Mit dem hier behaupteten "fast völligen Fehlen jeglichen De-facto-Rechtssystems" wird der zum heimlichen Militärregime erklärten Bolivarischen Republik Venezuela im Grunde die Staatlichkeit abgesprochen. Nach heutigen, westlich dominierten Vorstellungen ist ein demokratischer Staat ohne ein funktionierendes Rechtssystem nicht möglich - eine weitere Breitseite gegen das heutige Venezuela und dessen "Bolivarische Revolution". Zeuske problematisiert den Widerspruch zwischen dieser Behauptung und der von ihm selbst konstatierten Tatsache, daß Präsident Chávez über die "unbestreitbare demokratische Legitimation für die Weiterführung des bolivarianischen Prozesses" (S. 559) verfügt, keineswegs. Er muß sogar zugestehen:

Chávez hat politisch, auch mit dem Symbol seiner Person und den sozialen Maßnahmen des bolivarianischen Prozesses, bereits eine greifbare Gesamtvision eines neuen Venezuela geschaffen und begonnen zu verwirklichen, was vor 1999 keine der Regierungen der Vierten Republik geschafft hat.
(S. 559)

An anderer Stelle behauptet der Autor gleichwohl, es sei in der nach dem Sieg im Referendum vom 15. August 2004, als der Versuch der Opposition, durch eine von der neuen Verfassung vorgesehene Volksbefragung eine Abberufung des ihr verhaßten Präsidenten durchzusetzen, gescheitert war, eingeleiteten Zeit der Transformation immer noch nicht deutlich, was die Vierte Republik (1830 bis 1998) "außer der neuen Zahl und dem noch direkteren Bezug auf Bolivar ersetzen soll" (S. 531). Ein halbes Jahr später verkündete Chávez, wie Zeuske weiter berichtete, auf dem Weltsozialforum von Porto Alegre "den sozialistischen Charakter" der bolivarianischen Revolution. Damit dürften seine in der Oligarchie des eigenen Landes wie auch in bestimmten westlichen Hauptstädten zu verortenden politischen Gegner letzte Gewißheit darüber erlangt haben, daß sie in Venezuela einer neuen "roten Gefahr" gegenüberstehen, die mit den bis dahin erprobten Mitteln (Putsch- und Mordversuch gegen Chávez im April 2002, Massenaussperrungen 2003) nicht beseitigt werden konnte.

Wenig später nahm die damalige US-Regierung, die durch Außenministerin Condoleezza Rice Kuba als "Vorposten der Tyrannei" bezeichnet hatte, auch Venezuela ins Visier. Porter Goss, damaliger Chef der CIA, bezeichnete Venezuela als "potentiellen Arbeitsschwerpunkt" des Jahres 2005. US-Außenministerin Rice intrigierte gegen Caracas bei der "Organisation Amerikanischer Staaten" (OAS) und stellte in Hinsicht auf Venezuela darauf ab, "gegen Staatschefs vorzugehen, die nicht demokratisch regieren, auch wenn sie demokratisch gewählt wurden". [1] Rice wollte erreichen, daß die OAS-Staaten die venezolanische Regierung "überwachen und isolieren". Die venezolanische Regierung ihrerseits gelangte in dieser Zeit zu der Auffassung, daß eine militärische Aggression und Invasion seitens der USA gegen ihr Land nicht ausgeschlossen werden könne.

Aus diesem Grund wurden die verteidigungspolitischen Richtlinien auf eine Militärdoktrin der "asymmetrischen Kriegführung" umgestellt. Um in Kampfhandlungen gegen einen "technisch überlegenen Feind" bestehen zu können, wurde unter anderem beschlossen, das Reservistenheer in einem langjährigen Ausbildungsprogramm auf eine Gesamtstärke von 1,5 Millionen Soldaten auszuweiten. Der venezolanische Außenminister Ali Rodríguez begründete diese Schritte gegenüber der daran entzündeten Kritik aus den USA, die die Verteidigungsbemühungen Venezuelas für absurd erklärten, damit, daß "zahlreiche Erfahrungen belegten, dass entsprechenden Anschuldigungen früher oder später militärische Aktionen folgten" [1]. Für Michael Zeuske ist all dies kein Thema; er vertritt hingegen den Standpunkt, daß die Chávez-Regierung das Land militarisieren würde, um ihrer unbewältigten Probleme Herr werden und ihre Macht erhalten zu können:

Der Prozess kann immer noch in eine Militärherrschaft abrutschen. Der immer massivere Klientelismus und das sich ausbreitende Mitläufertum kann ihn in eine für Lateinamerika "normale" Vettern-, Amigo- und Klientelwirtschaft zurückwerfen, oder es kann noch einmal zu einem Putsch im Zusammenspiel mit Rechtlosigkeit, Kriminalität und Bandenwesen im Innern und Destabilisierungen von außen kommen. Deshalb braucht Chávez Militär und Milizen.
(S. 559)

Der Autor legt im übrigen eine erstaunliche Kaltschnäuzigkeit an den Tag hinsichtlich der zumindest von der venezolanischen Regierung ernstgenommenen Pläne oppositioneller Kräfte, Präsident Chávez ermorden zu lassen. In einer der Opposition gewidmeten Textpassage heißt es:

Die Opposition dagegen hatte lange kein Sozialprogramm, sie hatte kaum ein soziales Minimalprogramm - dafür aber selbst eine extrem starke Tradition des klassischen Populismus. Aber im Grunde existierte zwischen 2005 und der zweiten Jahreshälfte 2007 (neue Studentenbewegung) kaum eine Opposition außerhalb der chávez-feindlichen Medien. Unter den gegenwärtigen Wortführern wird sie mit diesem hohlen Oberschichten-Populismus noch auf Jahre hinaus auf nationaler Ebene nicht an Chávez heranreichen und kaum eine Chance erhalten, die Geschicke des Landes zu lenken, falls es nicht zu einem erfolgreichen Anti-Chávez-Putsch, zu einem Mord oder zu einer Implosion durch Kriminalität und Anarchie in Venezuela kommt.
(S. 532)

Die Frage, ob aus diesen Sätzen eine stillschweigende Akzeptanz für einen politischen Mord an Chávez herauszulesen ist oder nicht, mag sich jeder Interessierte selbst beantworten. Am 10. September 2008 - dieser Zeitpunkt ist nicht mehr im Berichtszeitraum des einen Monat später am 10. Oktober 2008 erschienenen Buches enthalten - wurden im venezolanischen Fernsehen Telefonmitschnitte von einer aus ehemaligen und aktiven hochrangigen Militärs bestehenden Verschwörergruppe veröffentlicht, die die Ermordung des Präsidenten geplant haben soll. Aus den mitgeschnittenen Gesprächen der anschließend verhafteten Putschisten sei hervorgegangen, daß sie für die Beseitigung von Chávez über Soldaten und Piloten in der Armee verfügten, die nur auf ihre Befehle warten würden [2].

Selbst die Vision, die der Autor auf der letzten Seite seines Buches entwirft, enthält einen letzten Seitenhieb gegen die Regierung Chávez und ihr Reform- bzw. Revolutionsprojekt. "Irgendwann um die 2020er-Jahre ist ein Wirtschaftsmodell auf Basis erneuerbarer Energien und sozialer Rechte entstanden sowie ein partizipativer Rechtsstaat, in dem die Venezolanerinnen und Venezolaner Recht nicht mehr als Diktat der Oberschichten interpretieren." (S. 565) Da in die Zukunft projiziert wird, was durchaus als Realität der Bolivarischen Republik Venezuela verstanden werden könnte, impliziert diese Schlußbemerkung die Aussage, daß das gegenwärtige Venezuela seinen Bürgern weder fundamentale soziale Rechte noch ein Rechtssystem zu bieten habe, das nicht mehr, wie in der Vergangenheit, dem Diktat der Oberschichten entsprungen ist.

Die im Dezember 1999 verabschiedete Verfassung des neuen Venezuela mit ihren 350 Artikeln, die Zeuske im übrigen als "überaus demokratisch" bewertet (S. 487), enthält jedoch umfangreiche soziale Rechte. Diese in das Jahr 2020 zu projizieren, so als hätte die Verfassung nicht die geringste Relevanz, deutet die tatsächliche Haltung des Autors gegenüber dem heutigen Venezuela an. Da er zudem das "alte" Venezuela vor Chávez' erstem Wahlsieg 1998 als eine der "stabilen Demokratien" Lateinamerikas verstanden wissen will, kann er ungeachtet der politischen Neutralität, um die er sich über sehr weite Strecken seines Buches bemüht, durchaus als Gegner einer sozialistischen Entwicklung in Venezuela und darüber hinaus verstanden werden.

"Stabile Demokratie" hieß in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, daß eine Linksentwicklung in Venezuela mit Brachialgewalt verhindert wurde. Dem sind, was viele Menschen in den westlichen Staaten nicht wissen, zehntausende Oppositionelle zum Opfer gefallen. So wurde Anfang der 1960er Jahre unter dem damaligen Innenminister und späteren Präsidenten Carlos Andrés Pérez ein Repressionsapparat aufgebaut, dem Zeuskes Ausführungen zufolge heute "etwa 30.000 Tote" nachgesagt werden. "Kein geringer Preis für eine Paktdemokratie", so der Kommentar des Autors (S. 413).

Zur Erläuterung: Als Paktdemokratie ("Pontofijo") wurde das nach der Pérez-Jiménez-Diktatur von 1952 bis 1958 geschlossene und bis 1989 herrschende Zwei-Parteien-Bündnis bezeichnet, durch das der auch von den USA befürchtete Systemwechsel Venezuelas hin zu einem zweiten Kuba verhindert werden konnte. Dies schloß die Ausgrenzung radikaler linker Kräfte ebenso ein wie die militärische Bekämpfung linksgerichteter Guerillabewegungen. 1989, inzwischen war Carlos Andrés Pérez Präsident geworden, erhielten die Generäle den Befehl, Unruhen und Proteste der Bevölkerung gewaltsam niederzuschlagen. An nur zwei Tagen wurden, so berichtet es Zeuske, drei- bis viertausend Menschen umgebracht (S. 440), ohne daß dies eine den internationalen Protesten über die Vorfälle in China auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" auch nur annähernd vergleichbare Reaktion hervorgerufen hätte.

Die sozialen Probleme in dieser Zeit waren extrem. 1990 lebten 60 Prozent der Bevölkerung Venezuelas in Armut, viele hatte nicht einmal genug zu essen. Dies waren die Verhältnisse und Bedingungen, unter den Hugo Chávez Frías und gleichgesinnte Offiziere eine Verschwörung begannen, die 1992 in einem mißglückten Putschversuch endete, den späteren Präsidenten Venezuela jedoch quasi über Nacht oder vielmehr übers Fernsehen im ganzen Land bekannt machte. Den Vorwurf gegen die heutige Regierung Venezuelas, sie sei im Grunde ein undemokratisches Militärregime, zu erheben und diesbezügliche Ängste und Befürchtungen im In- und Ausland zu schüren, ist weitaus mehr Parteinahme, als es ein vermeintlich neutraler Historiker in einer Abhandlung über 500 Jahre Geschichte Venezuelas leisten würde. Es ist Parteinahme für die Gegner einer erklärtermaßen demokratisch legitimierten Regierung und noch dazu, da die Toten militärischer Ordnungspolitik von den Präsidenten der von der Bolivarischen Republik abgelösten Vierten Republik zu verantworten sind und nicht von der Regierung Chávez, historisch so unsauber, daß das eigentlich informative und aufschlußreiche Buch "Von Bolívar zu Chávez" nur sehr bedingt zu empfehlen ist.

Anmerkungen

[1] Kriegsvorbereitungen in Venezuela. Die linksnationale Regierung von Hugo Chávez opponiert gegen die US-Politik in Lateinamerika, Harald Neuber, junge Welt, 15.04.2005

[2] Putschversuch in Venezuela. Exmilitärs planten Staatsstreich. Parlament richtet Untersuchungskommission ein, von Maxim Graubner, junge Welt, 15.09.2008, S. 6

4. September 2009


Michael Zeuske
Von Bolívar zu Chávez
Die Geschichte Venezuelas
1. Auflage 2008
Rotpunktverlag, Zürich
ISBN 978-3-85869-313-6