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REZENSION/456: Hans Fricke - Politische Justiz, Sozialabbau ... (SB)


Hans Fricke


Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn & Krieg

Essays



Während sich die Mitglieder der Bundesregierung Jahr für Jahr zum Tag der Deutschen Einheit gegenseitig auf die Schulter klopfen ob des seit dem Fall der Mauer angeblich bereits Erreichten - oder wahlweise pseudokritisch zu bedenken geben, daß das eine oder andere noch zu leisten sei -, weiß der Autor Hans Fricke von einer gänzlich anderen Einheit zu berichten. Seite für Seite zeugt seine Essaysammlung von einem Zorn aufgrund der nahezu zwanghaften Diffamierungskampagne gegen die Deutsche Demokratische Republik und der Schönfärberei der vermeintlich überwältigenden Vorzüge des politischen Systems der Bundesrepublik.

Es bedarf heute keines beharrlich die Widersprüche der herrschenden Verhältnisse aufzeigenden Kritikers wie Fricke, um zu konstatieren, daß von der Einheit Deutschlands keine Rede sein kann. Fast zwei Jahrzehnte nach der "Angliederung der DDR an die Bundesrepublik", wie der Autor die "Wiedervereinigung" treffend zu nennen pflegt, ist die Nation entlang der ehemaligen Grenze (und nicht nur dort) tief gespalten.

Generell erhält ein Arbeiter in Ostdeutschland weniger Lohn als sein westdeutscher Kollege. Diese Diskrepanz wurde nach der Wende mit umstrittenen Begründungen durchgesetzt und seitdem noch immer nicht restlos beseitigt. Dafür gibt es keinen triftigeren Grund als den, daß die Unternehmen von den niedrigeren Löhnen und Gehältern im Osten profitieren und wiederum das Lohngefälle nutzen, um die Beschäftigten gegeneinander auszuspielen. Wenn überhaupt von einer Einheit Deutschlands gesprochen werden kann, so besteht sie darin, daß die Reallöhne in Ost und West sinken und die Verarmung der Bevölkerung flächendeckend zunimmt.

Das uneinheitliche Lohnniveau zählt zu den vielen Themen, die der Autor in seinen beinahe vier Dutzend Essays unter dem Sammeltitel "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg" mit spitzer Feder abgehandelt hat. Wie sehr es einen gestandenen DDR-Bürger und Streiter wider den Faschismus wie Hans Fricke im Innersten schmerzen muß, vorgeworfen zu bekommen, er habe in einem Regime ähnlich dem nationalsozialistischen gelebt, zeigt sich daran, daß er eine dementsprechende Behauptung des früheren bundesrepublikanischen Justizministers Klaus Kinkel aus der Begrüßungsansprache vor dem 15. Deutschen Richtertag 1991 in Köln gleich an den Beginn seiner Essaysammlung stellt. Kinkel hatte behauptet, daß die DDR "in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich" gewesen sei wie das "faschistische Deutschland". Und in derselben Rede erteilte er der Justiz der BRD den Auftrag: "Es muß gelingen, das SED-Regime zu delegitimieren" (S. 5).

Hier erspart sich Fricke, auf Kinkels logischen Zirkelschluß einzugehen. Denn wozu wird eigens ein Appell zur Delegitimierung eines Regimes gebraucht? Wenn es sich bei der DDR um einen Unrechtsstaat gehandelt hat, sollte es eigentlich keiner Delegitimierung bedürfen, die verwerflichen Taten sprächen für sich. Umgekehrt gilt dann: Wenn die Taten des DDR-"Regimes" nicht für sich sprechen und die Richter eigens auf eine Delegitimierung eingeschworen werden müssen, handelt es sich bei Kinkels Vergleich um einen Fehlgriff, wie er nicht einmal einem Geschichtsunkundigen unterlaufen darf. Hatte sich doch das nationalsozialistische Regime mit seinen Angriffskriegen, unsäglichen Repressionen und nicht zuletzt seiner breit angelegten und durchorganisierten Massenvernichtungsmaschinerie selbst delegitimiert.

Da Kinkel keine Geschichtsunkenntnis zu unterstellen ist und ihm die Bodenlosigkeit seines Vergleichs bewußt gewesen sein muß, dürfte sein Appell an die Richter am ehesten als Aufruf, Siegerjustiz zu betreiben, gedeutet werden. Anscheinend hielt es der Repräsentant des westlichen Systems für nötig, über das hinaus, was es an der verbesserungswürdigen DDR tatsächlich auszusetzen gab, alles Positive zu verunglimpfen.

Es hätte von großer Souveränität gezeugt, wenn die Bevölkerung Deutschlands in Ost und West an den Entscheidungen zu ihrer gemeinsamen Zukunft beteiligt worden wäre. Da wurde bewußt eine Chance hintertrieben, auch die westlichen, ebenfalls verbesserungswürdigen Strukturen aufzubrechen. Somit bestand der Übergriff der Bundesrepublik nicht allein in der Angliederung der DDR - auch den Menschen in Westdeutschland wurde gar nicht erst die Möglichkeit eingeräumt, Einfluß auf ihre Zukunft zu nehmen und darüber zu bestimmen, ob ihr politisches System vollständig erhalten und das des Ostens vollständig zerschlagen werden sollte oder nicht.

Die negativen Resultate dieses gezielten Versäumnisses ließen nicht lange auf sich warten: Das wiedervereinigte Deutschland unter Kanzlerschaft Helmut Kohls spielt bei der Zerschlagung der blockfreien Bundesrepublik Jugoslawien eine tragende Rolle, 1999 bombardiert die Bundesluftwaffe Belgrad. Heute wird Deutschland am Hindukusch verteidigt, und Arbeitslose, egal welchen Ausbildungsgrads, werden innerhalb eines Jahres ins Hartz-IV-Prekariat gestoßen. Fricke schreibt dazu:

"Wenn zum Beispiel ein Opel-Arbeiter, der 30 Jahre gearbeitet hat, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zum Fürsorgefall wird und 347 Euro bekommt, als hätte er nie in seinem Leben ein Werkzeug angefaßt, dann besteht der Skandal nicht nur darin, daß er mit diesem Geld nicht auskommen kann, sondern in der staatlichen Mißachtung seiner Lebensleistung. Er wird in seiner Würde verletzt und deshalb ist Hartz IV eindeutig verfassungswidrig!"
(S. 141)

Hier spricht ein Autor, der etwas zu sagen hat. Er hat sogar viel zu sagen und spart nicht mit Fakten, die seine nimmermüden Fingerzeige auf die gesellschaftlichen Mißstände des vereinigten Deutschlands ordentlich pfeffern. "Daß die Abgeordnetenpensionen seit 2000 um 6,5 Prozent gestiegen sind, während Neurentner seitdem bis zu 14,5 Prozent weniger gezahlt bekommen, werten Millionen Rentner als schamlosen Akt der Politik" (S. 106), lautet eine weitere der typischen Attacken des Autors gegen die Dauerpropaganda der Meinungsmacher. Zur justitiellen Treibjagd auf DDR-Amtsträger stellt er fest:

"Um Anklagen und Urteile gegen sie konstruieren zu können, mußte die Justiz die Grenzen des Rechtsstaats deutlich verlassen und sich über elementare, für alle zivilisierten Staaten selbstverständliche Rechtsgrundsätze ebenso hinwegsetzen wie über Bestimmungen des Grundgesetzes, des Strafgesetzbuchs der BRD, des Grundlagenvertrags zwischen der DDR und der BRD und des Einigungsvertrages."
(S. 23)

Bedauerlich für das Buch ist allerdings, daß die Werbung in eigener Sache auf der Rückseite des Einbands so außerordentlich mißlang. Wenn in dem kurzen Text, für den in der Regel der Verlag verantwortlich zeichnet, Frickes Essaysammlung letztlich auf die Leerformel eingedampft wird, daß "alles mit allem zusammenhängt", dann bleibt zu wünschen, daß sich die Leserschaft nicht von solch esoterisch anmutender Phraseologie abschrecken läßt. Ebenso wenig wie von dem nachlässigen Lektorat, dem zahllose Tippfehler entgangen sind.

Detailreich kontrastiert Fricke das Bildungssystem von DDR und BRD und kritisiert dessen Niedergang. Vielleicht war es nicht mit der Absicht des Autors in Deckung zu bringen, wenn er sich auch mit Entwicklungen der Schulsysteme und des Leistungsstands von Schülern im Ausland befaßt hätte. Aber zur besseren Einschätzung der heutigen bundesrepublikanischen Entwicklung wäre ein Verweis auf vergleichbare Tendenzen unter anderem in den USA, Großbritannien und Frankreich nützlich gewesen. Das Schulwesen verändert sich grenzüberschreitend, "Bildungsnotstand!" erschallt es in Berlin, London, Paris und Washington gleichermaßen.

Die Bildungspolitik dieser Staaten läuft ungeachtet ihrer nationalen Eigenarten auf ein ähnliches Menschenbild hinaus, das zu verfolgen der früheren DDR-Regierung einst vom Westen pauschal zum Vorwurf gemacht wurde: Das Bild des autoritätshörigen Untertanen, dessen Meinungsfreiheit massiv eingeschränkt wird und der dagegen nicht einmal mehr nennenswert aufbegehrt.

Die Fülle der von Fricke im Salventakt abgefeuerten Kritiken am Werdegang Gesamtdeutschlands dürfte eine von vielen Bürgern geteilte Ahnung zur Gewißheit werden lassen: Der Eifer, mit dem nach 1989 nicht nur alle staatlichen Strukturen der DDR samt ihren personellen Vertretern verteufelt werden, sondern auch die Idee des Sozialismus gleich dazu, zeugt letztlich von einer Legitimationsnot auf Seiten des kapitalistischen Systems. Offensichtlich steckt es in einer tiefen Krise, ansonsten ist gar nicht zu erklären, wieso es die BRD nötig hat, mehrere Jahrzehnte eines staatssozialistischen Gesellschaftsmodells aus seiner eigenen Geschichte durch bis in Unkenntlichkeit getriebene Verdrehungen zu verleugnen.

Damit soll keineswegs der Verklärung der DDR das Wort geredet werden. Politische Verfolgung und Unterdrückung der Opposition hat es zweifellos gegeben; das Ministerium für Staatssicherheit war ein allgewaltiger Geheimdienst, dessen Anspruch, das politische System der DDR zu schützen, nicht jeden von ihm verübten Repressionsakt rechtfertigen konnte; und die Selbstschußanlagen an den Grenzen waren nicht in erster Linie dazu bestimmt, das Eindringen von außen zu verhindern. Es gab aber auch soziale Sicherheiten, die sich verständlicherweise viele Menschen wieder herbeiwünschen. Im übrigen sind politische Verfolgung und Berufsverbote auch in der Bundesrepublik kein Fremdwort, und was die staatliche Obsession zur Observierung betrifft, so war der Westen nicht frei davon - ganz zu schweigen von der gegenwärtigen Entwicklung.

Ein Kritiker könnte es sich leicht machen und Fricke kurzerhand vorwerfen, daß er als ehemaliger Oberst der NVA und Kommandeur der Grenztruppen eine ideologisch verbrämte Sichtweise verbreitet, einseitig die DDR ins rechte Licht zu rücken versucht und umgekehrt die alte Bundesrepublik madig machen will. Dann müßte sich dieser Kritiker allerdings die Frage stellen, warum jemand, der nicht bereit ist, sein Fähnchen nach dem Wind zu drehen und sämtliche Errungenschaften der DDR auf die Müllhalde der Geschichte zu werfen, darauf verzichten sollte, seine Meinung zu sagen?

Fricke hat etwas von der Rechtstreue und Besessenheit eines Michael Kohlhaas. Das wirkt herzerfrischend, weil er aus dem Vollen schöpft und mit zahlreichen Beispielen die Widersprüche der offiziellen bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung bloßstellt - das Buch macht aber auch nachdenklich, weil es fast zwei Jahrzehnte nach der Angliederung der DDR immer weniger Köpfe und Herzen zu geben scheint, in denen Frickes Anliegen auf Widerhall trifft. Der Delegitimierung der DDR ist anscheinend ein großer Erfolg beschieden.

Allerdings schließt das nicht aus, daß eines Tages Menschen feststellen werden, daß sich das Verschwinden der DDR entscheidend auf die weitere Entwicklung der Bundesrepublik ausgewirkt hat. Als staatssozialistischer Gegenentwurf legte sie dem kapitalistischen Staat Zügel an, ohne die der neoliberalen Destruktivität freien Lauf gelassen werden konnte. Das vorliegende Buch kann durchaus dazu beitragen, daß eine angemessene Bewertung dieses Verlustes eher erfolgt, als es den für die andauernde Delegitimierung und Dämonisierung der DDR sorgenden Kräften recht sein kann.

2. Oktober 2008


Hans Fricke
Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn & Krieg
Essays
verlag am park in der edition ost Ltd., Berlin 2008
ISBN 978-3-89793-155-8
384 Seiten, 19,90 EUR