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REZENSION/453: Jakob, Schorb - Soziale Säuberung (New Orleans) (SB)


Christian Jakob, Friedrich Schorb


Soziale Säuberung

Wie New Orleans nach der Flut seine Unterschicht vertrieb



Als der Hurrikan Katrina Ende August 2005 über New Orleans hinwegfegte, die Deiche brachen und die Stadt überschwemmt wurde, wußten die Einwohner nicht, vor wem sie sich mehr fürchten sollten, vor der Gewalt der Natur oder der des Staates. Es hatte sich gezeigt, daß für die exekutiven Kräfte, angefangen von der Stadtverwaltung New Orleans' über die Staatsregierung Louisianas bis zum fernen Washington, stets dieselbe Sorge Priorität besaß, nämlich die Sorge um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Dieser wurden alle anderen Ziele, beispielsweise so nebensächliche Dinge wie die Rettung von Menschenleben oder die Achtung des Eigentumsrechts der ärmeren Bevölkerungsgruppen, nachgeordnet. So geschah es, daß Einwohner erschossen wurden, weil sie ihre eigene Habe in Sicherheit bringen wollten, Bettlägrige und an den Rollstuhl gefesselte im Stich gelassen wurden und Flüchtlinge tagelang auf ihren Hausdächern ausharren mußten, bis Hilfe kam.

Schließlich wurden jene Menschen, die kein eigenes Auto besaßen und sich nicht rechtzeitig vor dem Herannahen des Wirbelsturms in Sicherheit gebracht hatten, im Footballstadion von New Orleans, dem Superdome, zusammengetrieben wie Vieh, nur unzureichend mit Nahrung und dem Nötigsten versorgt und erst mehrere Tage später in teils weit entfernte Landesregionen verbracht. Einige Flüchtlinge waren mit Waffengewalt daran gehindert worden, New Orleans zu verlassen, anderen streckten sich die Gewehrmündungen der Sicherheitskräfte entgegen, als sie sich dringend benötigte Nahrung im Convention Center, einem weiteren Sammelpunkt, beschaffen wollten.

Dem noch nicht genug, hat das Heimatschutzministerium dem Roten Kreuz verboten, den Flüchtlingen zu helfen, weil das angeblich den Ablauf der Evakuierung gestört hätte. Und die Medien hatten nichts Eiligeres zu tun, als das Gerücht zu verbreiten, daß sich "die schwarzen Unterschichtler" im Footballstadion wie Tiere benehmen und übereinander herfallen. Nahezu alle Behauptungen über Morde und Vergewaltigungen erwiesen sich als Phantasieprodukte ihrer Urheber. Nicht, daß es keine Morde gegeben hätte, aber die wurden vorwiegend von weißen Bürgerwehren an vermeintlichen Plünderern begangen.

Der diskriminierende Umgang mit den ärmeren, meist afroamerikanischen Einwohnern von New Orleans während der Katrina-Katastrophe liefert eine Vielzahl von äußerst erhellenden Erkenntnissen über die Art und Weise, wie die verschiedenen administrativen Ebenen in den Vereinigten Staaten von Amerika ihre Verfügungsgewalt rücksichtslos gegen die Bevölkerung ausspielen. Ein Einschnitt bildete der 2. September. An dem Tag wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, so daß die Nationalgarde ausrücken durfte, damit sie die staatliche Ordnung aufrechterhält. Auch das private Sicherheitsunternehmen Blackwater wurde eingespannt. Deren Mitarbeiter, die schon im Irakkrieg aufgrund ihrer Schießwütigkeit und Brutalität in die Schlagzeilen geraten waren, griffen bei der Verbringung der Katrina-Flüchtlinge auf ihren reichhaltigen Erfahrungsschatz aus dem Kriegsgebiet zurück.

Später, als die Flüchtlinge schon dachten, sie seien endlich in Sicherheit, stellte sich heraus, daß sie zu Zehntausenden in Wohntrailern untergebracht worden waren, die in einem teils weit über den zulässigen Grenzwert für Arbeitsplatzbelastungen liegenden Maß hinaus giftiges Formaldehyd ausdünsteten, was bei den Bewohnern zu Schädigungen unter anderem der Atemwege und Nerven sowie zu Kopfschmerzen und Nasenbluten führte. Einige Trailer-Kinder werden ihr Leben lang in Behandlung bleiben.

Obgleich Experten wiederholt gewarnt hatten, daß die Deiche des Mississippi nicht ausreichend gesichert sind, wurden keine Schutzmaßnahmen ergriffen. Prompt hielten die Schutzwände und Wälle dem Druck der Wassermassen nicht stand, so daß vor allem die tiefer gelegenen, vornehmlich von ärmeren Menschen bewohnten Stadtviertel von New Orleans überflutet wurden.

Jede dieser Implikationen der Katrina-Katastrophe für sich genommen wäre es wert, genauer in Augenschein genommen zu werden, um herauszuarbeiten, wie administrative Institutionen im Falle einer Katastrophe funktionieren, wessen Interessen sie schützen und wessen nicht. Die beiden Bremer Autoren Christian Jakob und Friedrich Schorb haben in ihrem Buch "Soziale Säuberung. Wie New Orleans nach der Flut seine Unterschicht vertrieb" den Schwerpunkt auf soziologische Fragen gelegt - allerdings ohne dabei auf eine ideologische Einordnung dessen, was dort geschehen ist, zu verzichten.

Sie schrieben, daß der Ökonom Milton Friedman (1912 - 2006), der an der Universität von Chicago lehrte und mit seinen Ideen des sogenannten Neoliberalismus die US-Politik federführend bestimmt, eine Krise als notwendiges Mittel betrachtet, um einen Wandel herbeizuführen (S. 46). Die kanadische Publizistin Naomi Klein hat die Folgen solcher "Schock-Strategien" (S. 47) auf die Politik der letzten dreißig Jahre untersucht und aufgezeigt, daß der angestrebte Wandel auf die Bereicherung weniger Menschen zu Lasten der Mehrheit mit der Folge von Massenverarmung und -verelendung hinausläuft. Der Wandel, den New Orleans nach der Flutkatastrophe erlebt hat, gilt bereits als klassisches Beispiel für die Anwendung der Schock-Strategie.

Jakob und Schorb verhelfen zu Einblicken, die über das von ihnen gelieferte und durchaus wissenswerte Faktenmaterial hinaus verdeutlichen, daß die Vertreibung der Unterschicht nicht aus heiterem Himmel kam und alles andere als ein Versehen war, sondern Folge einer sehr viel älteren Entwicklung, die bis in die Anfangszeit der Eroberung und Unterwerfung des Kontinents durch europäische Siedler zurückreicht. Die Leserinnen und Leser erfahren in einem eigenen Kapitel (S. 109 - 128), daß die Diskriminierung der afrikanischen Bevölkerung die Geschichte Nordamerikas wie ein roter Faden durchzieht.

Den Anfang bildete die Sklaverei. Nach ihrer Abschaffung wurden sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse etabliert. Die Apartheid in den südlichen US-Bundesstaaten blieb bis Mitte der sechziger Jahre erhalten, anschließend kam es zu einer gezielten Vernachlässigung der afroamerikanischen Bevölkerung mit der Folge der Ghettoisierung. Schließlich muß auch der unterlassene Deichschutz der ärmeren Viertel von New Orleans, in denen Public Housing Projects - mehrere Straßenblöcke umfassende, städtische Sozialquartiere (S. 27) - angesiedelt waren, zu dieser Entwicklung gerechnet werden. Heute schließt sich der Kreis zur Sklaverei: Im Hochsicherheitsknast Louisiana State Penitentiary, auch Angola genannt, haben die Afroamerikaner einen Anteil von 80 Prozent unter den Insassen, und von diesen arbeiten viele unter anderem als Baumwollpflücker auf jenen Feldern, auf denen schon ihre versklavten Vorfahren vor 150 Jahren bei Wind und Wetter geschuftet haben - ebenfalls unter den Augen bewaffneter Wachen.

Das Autorenduo belegt ohne jeden Zweifel, daß es eine soziale Säuberung von New Orleans gab und daß sie gezielt durchgeführt wurde. Auf den ersten Blick zeigt sie sich daran, daß 180.000 Einwohner von ursprünglich 450.000 nicht in die Stadt zurückkehren konnten oder irgendwann auch nicht mehr wollten, wobei vor allem die sozial benachteiligten Schichten ausgegrenzt wurden. Die Fenster und Türen der Wohnungen in den Public Houses Projects wurden auf Anweisung der lokalen Wohnungsbehörde HANO mit Stahlplatten verrammelt, die Grundstücke mit Zäunen umgeben und von Polizisten bewacht, um unter allen Umständen eine Rückkehr der Menschen in ihre früheren Wohnungen zu verhindern. Viele Einwohner durften nicht einmal ihre Habe retten.

Die Stadt besaß andere Pläne für die Viertel. Nicht wenige der Verantwortlichen deuteten den Hurrikan Katrina als Werk Gottes zur Säuberung des "Sündenpfuhls". "Wir haben endlich mit den Sozialbauten in New Orleans aufgeräumt. Wir selbst haben das nicht geschafft, aber Gott hat es getan", wird der republikanische Kongreßabgeordnete Richard H. Baker aus Baton Rouge zitiert (S. 50). Demnach muß man es wohl als ein Werk Gottes bezeichnen, daß nach Einschätzung von Bürgerrechtlern mehrere Hundert der 1800 Katrina-Toten von weißen Bürgerwehren erschossen wurden (S. 24). Die hatten die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um straflos Liquidationen vorzunehmen.

Das New Orleans von heute hat sich wahrlich gewandelt: 70 Prozent der Sozialwohnungen sind verschwunden. Die Stadt hat heute doppelt so viele Obdachlose wie vor der Katastrophe. Die Ausgaben für die Versorgung mittelloser Bürger und die Zahlungen an Rentner gingen um die Hälfte zurück, die Zahl der Empfänger staatlicher Lebensmittelhilfe sank um 50 Prozent. 3000 kommunale Angestellte wurden entlassen. Der öffentliche Nahverkehr wurde auf einen Bruchteil reduziert, vielfach wurden öffentliche Schulen durch privat geführte Einrichtungen (Charter Schools) ersetzt. Anstelle der Public Housing Projects entstehen "Mixed-Income"-Siedlungen. In denen sollen wenige ärmere Einwohner zwischen mittelständischen und reicheren leben und sich deren - angeblich überlegene - Einstellungen aneignen.

In der Stadt mangelt es an erschwinglichem Wohnraum, die Mietpreise sind nach Katrina in die Höhe geschnellt. Es wird nicht bei den bislang 12.000 Obdachlosen bleiben. Im kommenden Jahr verlieren mehrere tausend Einwohner ihre Berechtigung auf Mietkostenerstattung, ein soziales Netz ist faktisch nicht vorhanden. Der Kampf der Einwohner, die aus den "Big Four" genannten Sozialquartieren CJ Peete, BW Cooper, Lafitte und St. Bernard zunächst von dem Hurrikan, dann von den Behörden vertrieben wurden, um ihren Wohnraum geht weiter, ungeachtet dessen, daß die Planierraupen vielerorts längst Tatsachen geschaffen haben.

Die Identifikation der Sozialbauten mit Arbeitsscheu, Kriminalität und Promiskuität sei in den USA 'Common Sense', und das nicht erst seit Katrina, erklären die Autoren (S. 142) und führen näher aus:

"Es besteht kein Zweifel: Public Housing in New Orleans ist gleichbedeutend mit ethnischer und sozialer Ghettoisierung. Dies trifft in niedriger Intensität auch für die übrigen US-amerikanischen Großstädte zu. Und eben diese scharfe räumliche Trennung von Afroamerikanern und Weißen, Armen und Reichen wird in der Debatte um eine erstrebenswerte Gestalt sozialen Wohnraums als Argument gegen die Public Housing Blocks ins Feld geführt."
(S. 152)

Allerdings scheinen die Autoren die volle Konsequenz ihrer eigenen Recherche zu scheuen. Beispielsweise sind sie in einem längeren Interview mit einem Manager der Immobilienfirma HRI, die bereits Jahre vor der Katrina-Katastrophe mit der Sanierung eines "Projects" in New Orleans beauftragt wurde, ausgewichen und haben unbestimmt auf die Zitation "einer Position" verwiesen, wonach nicht die Armen, sondern die Armut bekämpft werden müßte, um die Kriminalitätsrate in den "Projects" zu senken (S. 194). Hier wäre eigentlich eine entschiedene Stellungnahme für die Vertriebenen zu erwarten gewesen. Nicht die Biologie hat bewirkt, daß in den hauptsächlich von Menschen mit dunkler Hautpigmentierung bewohnten Vierteln von New Orleans die Gewaltrate die höchste in den USA war und die Häuser unter ihren Händen verfielen. Die Befürworter der sozialen Säuberung hätten alle Argumente auf ihrer Seite, wenn man unterschlüge, daß bereits die Ghettoisierung eine Erscheinungsform der systemischen Ausgrenzungsstrategie der Gesellschaft ist.

In ihrem Resümee bleiben die Autoren hinter den sich aufdrängenden Schlußfolgerungen zurück, wenn sie konstatieren:

"Man kann über den Abriß der Housing Projects von New Orleans keine eindeutigen Urteile fällen. Die Behauptung, reiche weiße Männer würden arme afroamerikanische Familien aus ihren Wohnungen jagen, wird den Verhältnissen jedenfalls nicht gerecht. Die Verantwortlichen für den Abriß der Quartiere (...) sind beide Afroamerikaner. Die Aufträge für die Umwandlung der Housing Projects in 'Mixed-Income'-Quartiere wurden meist an Firmen vergeben, die Afroamerikanern gehören. Viele von ihnen kommen selbst aus ärmlichen Verhältnissen. Auch die Gewalt in den Projects ist nicht allein durch gesellschaftliche Ausgrenzung zu rechtfertigen."
(S. 210)

Mit diesen Erklärungen rudern die Autoren rückwärts. Zuvor stand gar nicht im Mittelpunkt der Debatte, ob weiße Männer arme afroamerikanische Familien aus ihren Wohnungen gejagt haben oder nicht. Auch wenn Rassismus bei der Umgestaltung von New Orleans eine Rolle spielt, so lautet der Titel des Buchs treffenderweise nicht "Ethnische Säuberung", sondern "Soziale Säuberung". Davon betroffen sind letztlich alle sozial Benachteiligten, egal welche Hautfarbe sie tragen.

Die Kriminalität in den "Projects" von New Orleans und anderen Städten nimmt nicht erst da ihren Anfang, wo Menschen, auf engem Raum gehalten und ihrer gesellschaftlichen Perspektiven beraubt, sich gegen ihre Nachbarn wenden oder mittels Drogen Fluchtwelten zu erzeugen versuchen. Sie beginnt dort, wo sie marginalisiert und diskriminiert werden, wo ihnen eine Glitzer- und Glamourwelt vorgegaukelt wird, an der sie niemals werden teilhaben können. Das kann und soll die Gewalt in den Ghettos nicht rechtfertigen, aber rechtfertigt es deshalb die soziale Säuberung? Selbstverständlich nicht. Deshalb ist der Abriß der Housing Projects eindeutig abzulehnen. Er wurde über die Köpfe der Einwohner hinweg angeordnet, und für die Katrina-Flüchtlinge wurde kein adäquater Ersatz geschaffen.

Was bis heute in New Orleans am Beispiel der vorwiegend afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe vorexerziert wird, kann schon morgen die Latinos in Los Angeles und übermorgen die weiße Unterschicht in New York treffen. Für Vorwände zur sozialen Säuberung, auch wenn sie nicht nötig sind, sorgt der Klimawandel. Allein durch den Anstieg des Meeresspiegels rechnen Experten im Laufe der nächsten Jahrzehnte bis 2100 mit dem Verlust von teils dicht besiedelten urbanen Gebieten in Nordamerika und anderen Weltregionen.

9. September 2008


Christian Jakob, Friedrich Schorb
Soziale Säuberung
Wie New Orleans nach der Flut seine Unterschicht vertrieb
Unrast Verlag, Münster 2008
ISBN 978-3-89771-484-7
228 Seiten, 13,80 EUR