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REZENSION/423: Marc Thörner - Der falsche Bart (Antiterrorkrieg) (SB)


Marc Thörner


Der falsche Bart

Reportagen aus dem Krieg gegen den Terror



Jüngsten Signalen aus Berlin zufolge bereitet sich die Bundeswehr auf offensive Kampfeinsätze in Afghanistan vor. Bisher hatte sich das deutsche Engagement im "globalen Antiterrorkrieg" - von den hochgeheimen Einsätzen des Kommandos Spezialkräfte (KSK) einmal abgesehen - auf Wiederaufbau und Luftaufklärung in Afghanistan, Kontrolle der Seewege im und zum Roten Meer sowie Überwachung des Schiffsverkehrs vor der Küste des Libanons beschränkt. Treten demnächst etwa bayerische Gebirgsjäger gegen Mullah Omars Taliban an, so wird Deutschland aus Sicht vieler Muslime neben Großbritannien, Frankreich und den USA endgültig zu einem vollwertigen Mitglied jener westlichen Koalition, die sich aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Erwägungen in die inneren Angelegenheiten fast aller zwischen Atlas und Himalaya liegenden islamischen Staaten einmischt - entweder durch die Unterstützung der dort herrschenden Autokratien oder, wenn das nicht ausreicht, mit Militärgewalt.

In welche Teufelsküche sich die Deutschen damit begeben, zeigt recht eindrücklich Marc Thörner in seinem höchst empfehlenswerten Buch "Der falsche Bart - Reportagen aus dem Krieg gegen den Terror". Der 1964 geborene Autor hat Geschichte und Islamwissenschaft studiert und lebt abwechselnd in Hamburg und Rabat. Seit mehr als 13 Jahren berichtet er als freier Journalist unter anderem für die ARD-Rundfunkanstalten aus den Maghreb-Staaten, dem Irak, Afghanistan und Pakistan sowie vom Persischen Golf. Bereits 2005 veröffentlichte er das Buch "Von Saddam City zu Sadr City - Die irakischen Schiiten". Kenntnisreich und mit viel Verständnis und Respekt für die Menschen vor Ort, unabhängig ob marokkanische Islamistin, pakistanischer General, tunesischer Dissident oder US-Besatzungssoldat, führt Thörner den Leser in die Realität des "Global War on Terror" ein, die sich drastisch von den gängigen Klischees der großen westlichen Medien unterscheidet.

Die Reportagen - Tunesien 2001, Ägypten 2003, Pakistan 2005, Algerien 2006, Afghanistan 2006, Irak 2006 und 2007, Marokko 2007 - sind in mehrfacher Hinsicht spannend. Thörner gibt nicht nur die Stimmen offizieller Vertreter des anti-westlichen Dschihads und der pro-westlichen Koalition samt ihrer Helfershelfer wieder, sondern läßt auch die einfachen Leute, auf deren Rücken der sogenannte Kampf der Kulturen ausgetragen wird, zu Wort kommen. Seine persönlichen Eindrücke von den Verhältnissen im jeweiligen Land ergänzt er durch wichtiges Hintergrundwissen (etwa über die Bedeutung Leo Strauss' und Alfred Wohlstetters für das Denken der US-Neokonservativen).

Dadurch erfährt man beispielsweise, daß bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Streitkräfte Frankreichs und Spaniens im Namen des marokkanischen Sultans einen brutalen Dschihad gegen die Rif-Republik des säkulären arabischen Modernisierers Mohammed Abd el Krim führten und dabei Giftgas aus Deutschland einsetzten, oder daß man in nur vier Stunden auf der Autobahn von der Garnisonsstadt Rawalpindi, dem unweit von Islamabad liegenden Sitz des pakistanischen Generalstabs, nach Peshawar, Tummelplatz der afghanischen Taliban und ihrer Verbündeten von Al Kaida, gelangen kann. Ein ganz besonderer Leckerbissen ist der Bericht Thörners über seine Reise von Bagdad nach Tikrit im Januar 2007 als Begleiter derjenigen US-Militärs, die den Leichnam Saddam Husseins unmittelbar nach dessen Hinrichtung seinen Verwandten übergeben mußten und die Gelegenheit zu einem Versuch nutzen wollten, einen Modus vivendi mit den sunnitischen Stämmen in der Mitte des Zweistromlandes zu finden.

Mit dem Wort vom "falschen Bart" geht Thörner gegen das leichtfertige Schwarzweißbild von den fanatischen, antimodernen Islamisten auf der einen Seite und vom Westen und seinen "gemäßigten" arabischen Verbündeten auf der anderen vor. Er beschreibt, wie die politische Führung und die konservativen religiösen Kräfte in allen von ihm besuchten, islamisch geprägten Staaten seit Jahrzehnten an einem Strang ziehen, um jede demokratische Entwicklung im Keim zu ersticken. Durch die Unterstützung Europas und Amerikas für die Folterregime in Mubaraks Ägypten, Ben Alis Tunesien und anderswo wird die westliche Demokratie in den Augen der arabischen Massen diskreditiert. Angesichts der politischen Ausweglosigkeit werden vor allem junge Männer radikalisiert.

In einem schonungslosen Bericht zeigt Thörner auf, wie in den neunziger Jahren in Algerien die Staatsführung die islamische Opposition infiltriert und diese zu immer neuen Greueltaten angestiftet hat, um sich selbst als einzigen verläßlichen Partner des Westens zu empfehlen. So gesehen sind es nicht die ohnehin unterwanderten und ferngesteuerten Islamisten, welche die Mächtigen in Washington, Riad und anderswo fürchten, sondern die arabischen Massen, die irgendwann ihrem Anspruch auf Mitspracherecht und gerechte Ressourcenverteilung Geltung verschaffen könnten. Dieses Alptraumszenario gilt es zu verhindern - selbst wenn dabei Hunderttausende oder Millionen von Menschen einen gewaltsamen Tod sterben müssen. Nicht umsonst hat US-Vizepräsident Dick Cheney kurz nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 von einem Krieg gesprochen, der noch Generationen dauern könnte.

Auch wenn Politik und Militär im "Antiterrorkrieg" ein überschaubares Laboratorium moderner Aufstandsbekämpfung sehen, sind die Befürchtungen, daß der Flächenbrand zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean außer Kontrolle geraten könnte, nicht von der Hand zu weisen. Man muß nur an die derzeitige Instabilität Pakistans, das schätzungsweise über 50 bis 60 Atomsprengköpfe verfügt, denken. Deshalb plädiert Thörner zurecht für partnerschaftliche Zusammenarbeit, um den schwelenden Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam zu entschärfen.

Statt Rüstungsgüter zu exportieren, sollte man Entwicklunghilfe gewähren, anstelle der korrupten Potentaten sollte man den zivilen Kräften zur Macht verhelfen, selbst wenn diese einen "islamischen" Weg in die Moderne suchen wollen. Schließlich war es mit Oliver Cromwell ein christlicher Fanatiker, der durch Entmachtung und Enthauptung des englischen Königs Karl I. der feudalistischen Despotie in Europa einen tödlichen Schlag versetzte und dem Parlamentarismus unserer Tage den Weg ebnete. Jüngste milliardenschwere Rüstungsverkäufe der USA und Frankreichs an die Länder am Persischen Golf lassen leider erkennen, daß der von Thörner empfohlene, vernünftige Kurs nicht eingeschlagen und uns somit auf unabsehbare Zeit der "falsche Bart" in Form der vermeintlich großen Bedrohung durch den islamischen "Terrorismus" erhalten bleiben wird.

23. Januar 2008


Marc Thörner
Der falsche Bart
Reportagen aus dem Krieg gegen den Terror
Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg, 2007
160 Seiten
ISBN: 978-3-89401-557-2