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REZENSION/418: Giovanni Arrighi u.a. - Kapitalismus Reloaded (SB)


Giovanni Arrighi u.a.


Kapitalismus Reloaded

Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie

Herausgegeben von Christina Kaindl, Christoph Lieber,
Oliver Nachtwey, Rainer Rilling und Tobias ten Brink


Angeregt durch den Kongreß "Kapitalismus Reloaded", der im November 2005 in Berlin stattfand, sollen in dem gleichnamigen Band des VSA-Verlags die dort ausgetragenen Kontroversen fortgesetzt und vertieft werden. Die im Untertitel zum Leitmotiv der Debatte erhobene Trias "Imperialismus, Empire und Hegemonie" deutet bereits an, daß die Organisationsformen des globalen Kapitalismus, seine Praktiken und Ideologien der Bestands- und Herrschaftssicherung im Mittelpunkt des Interesses stehen. Im Vorwort formulieren die Herausgeber Christina Kaindl, Christoph Lieber, Oliver Nachtwey, Rainer Rilling und Tobias ten Brink den Anspruch, über eine lediglich ökonomisch determinierte Analyse der in fortwährender Wandlung begriffenen kapitalistischen Gesellschaft hinaus "die Neuorganisation von (Geld-)Macht und Gewalt, von Politik und Staatlichkeit, von Wertschöpfungsketten und Lohnarbeit" wie "die Frage der Organisation von Zustimmung, von Einbindung der Vielen in neue herrschaftliche Konzepte" (S. 7) zum Gegenstand der Untersuchung zu machen.

Auch "Kapitalismus Reloaded" steht vor dem Problem jener Sammelbände, die als Produkt einer Veranstaltung mit einer weitgefächerten Themenstellung entstehen, über eine bloße Sammlung in Inhalt, Gewichtung und Diktion disparater Artikel durch die sinnvolle Anordnung des vorhandenen Materials einen inneren Aufbau zu gewährleisten, der den roten Faden ersetzt, den von einem Autor wie aus einem Guß gefertigte Arbeiten aufweisen sollten. In Anbetracht des emanzipatorischen Anspruchs linker Wissenschaftler, dem Menschen gegenüber den ihn bedingenden Kräften und Interessen zu autonomer Handlungsfähigkeit zu verhelfen, besteht die inhaltliche Klammer des vorliegenden Bandes in der Frage nach dem Subjekt und seiner Befähigung, den herrschenden Verhältnissen jene Eigenständigkeit abzugewinnen, die ihm mit allen Mitteln vorenthalten werden soll.

Dies gilt es im Hinterkopf zu haben, wenn man sich den elaborierten Ausführungen zum aktuellen Stand des Kapitalismus zuwendet, der in 18 Beiträgen 20 meist im Hochschulbereich tätiger Autoren reflektiert wird. Ansonsten liefe man Gefahr, die Probleme, die sich aus der höchst widersprüchlichen Vergesellschaftung des Menschen zum Agens industrieller Produktivität, zum Partikel demokratischer Partizipation und zum Objekt administrativer Regulation ergeben, als sozialtechnokratische Anforderung zu verstehen und sich damit zum Steigbügelhalter der Interessen zu machen, die es in ihrer Dominanz zu bestreiten gilt. Die Geschichte der westdeutschen Linken ist nicht umsonst mit Biografien bepflastert, in denen der emanzipatorische Impetus gerade dafür ausreichte, einen warmen Sessel in einer Regierungsbürokratie, einer Konzernzentrale oder Meinungsschmiede zu erobern, um die bei der Analyse des angeblichen Gegners erworbenen Fähigkeiten für die Elimination aller sich seiner Verwertung widersetzenden Autonomie dienstbar zu machen.

Von besonderem Interessen sind die Beiträge des Bandes, die sich mit Weltordnungsfragen beschäftigen und dabei versuchen, den Begriff des Imperialismus für die heutige Debatte fruchtbar zu machen. So ist Kees van der Pijl der Ansicht, daß die mit dem Mittel des Kriegs bewirkte Anpassung der politischen Strukturen an die ökonomischen Verhältnisse für den englischsprachigen Westen seit langem nicht mehr erforderlich ist, da dort ein Modell der gemeinsamen Ausbeutung des Südens entwickelt wurde, das die klassische Staatenkonkurrenz der Leninschen Imperialismustheorie für diese Konstellation überflüssig machte. Seine an dem politischen Philosophen des Liberalismus John Locke ausgerichtete Schilderung des "englischsprachigen Entwicklungspfads" gibt als Strukturmerkmal der Entwicklung in Britannien und Nordamerika "die Unterordnung des Staates unter die Gesellschaften" (S. 36) an. Aufgrund dieser gemeinsamen Basis sei auch der "Konflikt zwischen der Siedlerbewegung und dem reaktionären Klassenblock im Mutterland" bei der Sezession der Vereinigten Staaten bald beigelegt worden und in eine gemeinsame Interessenpolitik gemündet, die den "Leninschen Aspekt der imperialistischen Rivalitäten, die nicht durch eine gemeinsame Zivilisation, Kapitalverflechtungen etc. gedämpft werden", an die "Peripherie des Westens" (S. 37) gedrängt habe.

Diese "Herausfordererstaaten" - unter anderem die Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs, die Sowjetunion des Kalten Kriegs und heute China - seien aufgrund des "Anfangsvorteils des (expandierenden) Westens" dazu genötigt gewesen, ihre "soziale Basis vor ökonomischer und ideologischer Durchdringung abzuschotten, die Entwicklungsanstrengungen von oben zu vereinheitlichen und der Formierung von Klassen zuvorzukommen, indem die durch soziale Modernisierung und Differenzierung entstandenen Schichten an den Staat gebunden" (S. 38) würden.

Kees van der Pijl liefert mit dieser Entwicklungslogik eine Erklärung für die Ausbildung sich dem westlichen Verwertungssystem verweigernder Staaten, deren Regierungen etwa in Rußland und China versuchten, an staatskapitalistischen Strukturen festzuhalten, weil ihre Integration in den liberalen Westen eine Entmachtung der herrschenden Klasse durch die Sachwalter der liberalkapitalistischen Vergesellschaftung mit sich brächte. Ebensogut könnte man allerdings vermuten, daß das Insistieren der etablierten Eliten auf der ihnen eigenen Verwertungsform Anlaß und nicht Folge ihrer angestrebten Entmachtung ist.

"Rivalität mit anderen Staaten entlang der Bruchlinie zwischen Kerngebiet/Herausforderer nimmt Formen an von Druck, ideologischer Beeinflussung, wirtschaftlicher Kriegsführung, verdeckter Aktivitäten wie die Finanzierung politischer Parteien und Organisationen, Formen von Gewalt und, am Ende, von Krieg, um die Staatsklasse als solche zu enteignen und die Kontrolle des Staates über seine Wirtschaft zu beenden".
(S. 40)

Der an der University of Sussex lehrende Politikwissenschaftler beschreibt hier das seit dem Niedergang der Sowjetunion mehrfach durchgespielte Szenario eines imperialistischen Übergriffs, als dessen maßgebliche Triebkraft er das westliche Kapital ausmacht. Im Unterschied zu den Staaten, in die es expandiere, sei es souverän und stelle damit die eigentliche Handlungsgewalt dar. Auch wenn der Autor ein griffiges Konzept zum Verständnis der Konflikte und Kriege seit dem Niedergang der Sowjetunion präsentiert, überschätzt er die Stärke der Kapitalmacht im Verhältnis zu ihrer Einbindung in regulative gouvernementale Strukturen. Zwar trifft es zu, daß die Herausfordererstaaten "untereinander keinen vergleichbaren inneren Zusammenhalt besitzen und im Prozess der Herausbildung immer komplexerer Konfigurationen vom Westen ständig gegeneinander ausgespielt werden" (S. 41), doch sind es gerade integrative administrative Strukturen, die den Handlungsvorsprung der liberalen westlichen Gesellschaften gegenüber den Staaten Osteuropas und des Nahen und Mittleren Ostens aufrechterhalten.

Eine lediglich auf unregulierte Kapitalmacht setzende westliche Welt stände schnell vor einem Scherbenhaufen, der einer überhitzten, auf kurzfristige Raubinteressen abonnierten Kapitalverwertung geschuldet wäre. Das Kapital, das Kees van der Pijl zum ersten Beweger des globalen Staatensystems erklärt, erwiese sich ohne seine etatistische Organisation schnell als völlig untauglich, dem Gros der Menschen auch nur die nötigste Daseinsvorsorge zu ermöglichen. Souverän kann es nur durch Akteure werden, die das Raubinteresse auf eine Weise moderieren, die die Sicherung des vorhandenen Bestandes gewährleistet. Auch wenn die Funktionseliten als Agenten des Kapitals fungieren, stößt sein kannibalistischer Charakter dort an Grenzen, wo es die Existenz des Gesamtsystems bedroht. Dies wird gerade in Zeiten knapper werdender Rohstoffe deutlich, in denen der liberale Charakter westlicher Gesellschaften durch immer weitreichendere staatliche Eingriffe in die gesellschaftliche Reproduktion und Lebensführung des einzelnen in Frage gestellt wird. Hier hilft es wenig, zu vermeintlichen Automatismen wie dem des sich selbst verwertenden Werts Zuflucht zu suchen, hier werden Interessen bis zur Konsequenz, das individuelle Lebensrecht zu negieren, mit aller Macht durchgesetzt. Dieser Herrschaftsanspruch nimmt auf gesellschaftlicher Ebene zusehends die Form einer Mangelregulation an, in der die Geldabstraktion wieder auf die materielle Überlebensbemittelung respektive ihre Vorenthaltung heruntergebrochen wird.

Zur notwendigen Kritik an einem Liberalismusverständnis, in dem der Mythos möglicher Selbstregulation des Marktes und damit der Gesellschaft fortgeschrieben wird, bietet der Beitrag von Mario Candeias zum "Leben im Neoliberalismus" einige Anhaltspunkte. Er verweist auf die Kooptation der Linken durch neoliberale Staatskritik und erklärt, wieso gerade einstmals emanzipatorische Kräfte so ansprechbar sind auf diese weit über wirtschaftliche Belange hinaus relevante Ideologie. Dabei betont er, daß das neoliberale Verwertungsregime durchaus von dem starken partizipativen Interesse getragen wird, in seinem Rahmen einen Lebenssinn zu erwirtschaften, der der fordistischen Produktionsweise aufgrund ihrer starr organisierten, geistlosen Arbeitsprozesse nicht abzugewinnen war. So erscheine der neoliberale Umbau in Richtung Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeit vielen Frauen als attraktiv, weil ihnen damit überhaupt erst ermöglicht wurde, neben ihren reproduktiven Arbeiten berufstätig zu sein, und sie sich von den neuen Arbeitsformen erhofften, die eigenen Fähigkeiten unbehinderter von männlicher Dominanz unter Beweis stellen zu können. Schließlich böte "diese Art der Flexploitation, der flexiblen Ausbeutung" selbst unter prekarisierten Erwerbsformen Vorteile des "Selbstmanagements" (S. 319), die die Betroffenen häufiger, als man annähme, nicht mehr missen möchten.

Candeias empfiehlt, "solche Widersprüche konsequent ins Auge zu fassen", sonst würde "der neoliberale Umbau als simpler Verelendungsprozess begriffen und damit verfehlt, warum diese Ideologie eigentlich so stark und wirkungsmächtig ist" (S. 319). Auch wenn diese Warnung berechtigt ist, droht hier die Logik des kleineren Übels, die bei aller Relevanz der geschilderten Gründe für die - zumindest bemessen am geringen Ausmaß aktiven Widerspruchs - vorhandene Zustimmung zum herrschenden Akkumulationsregime Gefahr läuft, die gegebene Verelendung im Verhältnis zu den geschilderten Vorteilen zu gering zu schätzen. So ist neben den materiellen Verlusten, die wiederum bei den von Armutslöhnen und Altersarmut besonders stark betroffenen Frauen beträchtlich sind, an die durch das marktwirtschaftliche Konkurrenzprinzip getriebene Atomisierung der Gesellschaft zu denken, an den Ausbau repressiver Strukturen zur Kanalisierung der destruktiven Auswirkungen der "kreativen Zerstörung", an die dem konsumistischen Warenfetischismus geschuldete kulturelle Degeneration und die Etablierung einer Politik der individualisierten Bezichtigung, mit der das gesellschaftliche Gewaltverhältnis verschleiert wird. Zudem ist gerade von Linken zu erwarten, den Blick nicht nur auf die Lebensmöglichkeiten und Arbeitsformen der globalistischen Triade Nordamerika, Westeuropa und Japan zu richten, sondern den Raubbau in den Ländern des Südens, den das von diesem Staatenblock durchgesetzte Weltwirtschaftssystem maßgeblich zu verantworten hat, zum Maßstab seiner humanen Tauglichkeit zu nehmen.

Tatsächlich stellt Candeias der neoliberalen Gesellschaftsdoktrin keine positive Prognose aus, sondern konstatiert angesichts des nicht zu kittenden Widerspruchs zwischen in Aussicht gestellter Verbesserung der Lebensverhältnisse und praktisch erlebter Erwerbsrealität einen "Bruch zwischen Repräsentierten und Repräsentanten" (S. 324), der die bereits erreichte Zustimmung in Opposition zur herrschenden Vergesellschaftungsform brächte. Diese Entwicklung bedinge auch die zunehmende Hinwendung der herrschenden Kräfte zu Zwang und Gewalt in Innen- wie Außenpolitik als auch auf dem Feld der Arbeits- und Sozialpolitik.

Den Blick auf die Teilhaberschaft der Betroffenen an der Verschärfung ihrer Lebensbedingungen gerichtet zu haben, ist das produktive Ergebnis dieser Analyse des neoliberalen Strukturwandels. Damit wird das Problem des Subjekts, das die neoliberale Ideologie für sich einspannen will, in seiner ganzen Widersprüchlichkeit ausgebreitet. Candeias ist allemal zuzustimmen, wenn er den Verzicht darauf, die Partizipation an den herrschenden Verhältnissen in deren kritische Analyse einzubeziehen, zu einem verhängnisvollen Versäumnis erklärt. Deren Veränderung vor der Klärung der Frage, wie das eigene Interesse an ihrem Bestand gelagert ist, kann nur zu Fehleinschätzungen bei der politischen Arbeit führen.

Äußerst lesenswert zur Analyse der neoliberalen Hegemonie ist auch der Beitrag von Dieter Plehwe und Bernhard Walpen. Die beiden Autoren, die sich schon in früheren Arbeiten mit dem Thema neoliberaler Ideengeschichte beschäftigt haben, verweisen auf die vorrangige Bedeutung der Produktion und Durchsetzung von Wissen und Ideen für den Kampf um die politische Hegemonie. Dabei steht die Mont Pèlerin Society (MPS) als zentraler Ausgangspunkt neoliberaler Ideologie im Mittelpunkt der Untersuchung des Einflusses, den die Institutionen politischer Theoriebildung und Intellektualität auf die Gestaltung der Gesellschaft haben. In ihrem Beitrag "Neoliberale Denkkollektive und ihr Denkstil" geht es eben nicht nur um ideologische Konzepte, sondern er führt auf "das Feld der Beziehung von Wissen und Macht, wissenschaftlicher Produktionsweisen, der Wissenspolitik und seiner strukturellen wie organisatorischen Grundlagen" (S. 350).

Angesichts des erheblichen Einflusses, den etwa die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die Bertelsmann-Stiftung oder die diversen neoliberal ausgerichteten wirtschaftswissenschaftlichen Institute auf den gesellschaftlichen Diskurs um die Leitlinien der Politik nehmen, ist den Autoren allemal zuzustimmen, wenn sie verlangen, über die Beschäftigung mit den Theorien des Neoliberalismus hinaus vor allem deren wissensmachttechnische Durchsetzung ins Visier der kritischen Auseinandersetzung zu nehmen. Indem sie an den Grundlagen des intellektuellen Umgangs mit dominanten gesellschaftlichen Kräften rühren und den wirkmächtigen Einfluß bürgerlicher Intellektueller auf die Durchsetzung neoliberaler Denkformen herausarbeiten, gelangen sie mit Wolfgang Abendroth zu einem praxisbezogenen Verständnis der Politikwissenschaft, die dem kontroversen Charakter ihres Gegenstands gemäß einen Objektivitätsanspruch "nicht durch (fiktive oder fingierte) Neutralität, wohl aber durch Kennzeichnung des Standortes und unverhüllte Parteinahme, die sich damit zur Diskussion und der Kritik stellt" (Fußnote S. 351 f.), reklamieren könne.

Erhellend ist auch der anhand der Grundsatzerklärung der MPS geführte Nachweis, daß die Reduzierung der Kritik am Neoliberalismus auf "Marktradikalismus und Anti-Etatismus" an dem "keineswegs marginalen Staatsinterventionismus" (S. 357) der neoliberalen Doktrin vorbeigehe. Schließlich nehmen die Autoren die Arbeiten des Wissenschaftssoziologen Ludwig Fleck zum Ausgangspunkt der Untersuchung des übergreifenden, Differenzen im Intellektuellenkollektiv der MPS zugunsten einer "Weltanschauungstotalität" (S. 365) neutralisierenden neoliberalen Denkstils, und konstatieren, daß dessen herrschafts- und kapitalismuskritische Würdigung nicht umhin käme, "sich intensiv mit den vielfältigen Wissensstrukturen zu beschäftigen, also neben der Wissenschaft im engeren Sinne u.a. mit Überzeugungen, Glauben, Utopien, Wahrnehmungs- und Wissensformen und ihrer spezifischen Artikulation" (S. 365 f.).

Plehwe und Walpen gewähren mit ihrer Arbeit einen erhellenden Blick nicht nur auf die neoliberale, sondern jede Form herrschender Wissens- und Ideologieproduktion. Die angesichts der Fülle des zu bewältigenden Stoffes und der Unverzichtbarkeit wissenschaftlicher Experten für das sozialtechnokratische Management häufig unterschätzte Bedeutung akademischer Weihen als Initiation in die Phalanx das herrschende System tragender, verteidigender und durchsetzender Kräfte wird mit einem Zitat von Ludwig Fleck aus einer 1935 veröffentlichten Schrift gewürdigt:

"Die Einführung in einen Denkstil, also auch die Einführung in eine Wissenschaft sind erkenntnistheoretisch jenen Einweihungen analog, die wir aus der Ethnologie und Kulturgeschichte kennen. Sie wirken nicht nur formell: der heilige Geist senkt sich auf den Neuling herab und bis jetzt Unsichtbares wird ihm sichtbar."
(S. 366)

Des weiteren zur anregenden Lektüre zu empfehlen sind die Artikel von Rainer Rilling zu "Imperialität", von Peter Gowan zu "Weltmarkt, Staatensystem und Weltordnungsfrage" sowie von Christoph Lieber zu "Gouvernementalität und Neoliberalismus bei Foucault".

Rilling schildert anhand der Geschichte der US-amerikanischen Weltpolitik die strukturellen und entwicklungstheoretischen Bedingungen eines neuen Typus von Imperialität, dessen informeller, nur bedingt territorialer Charakter sich in den Weltordnungskonzepten manifestiert, die die "neue globale Disparität der Macht" (S. 71) zementieren. Die komplexen Strukturmerkmale des "American Empire" weisen "Ungleichheit durch Aneignung" (S. 77) als zentrales Moment ihrer Entstehung und Vertiefung auf, wobei die Stabilität des Zentrums durch eine subtilere Zurichtung der Peripherie gewährleistet wird, als es im klassischen Imperialismus der Fall war:

"Imperiale Formationen produzieren, arrangieren und managen im Raum disparate Zonen abgestufter Souveränität und unbestimmter Rechte der Menschen, die sich fluid verdichten, wieder auflösen und neu bilden und deren elastisches Wirkungsfeld keineswegs in staatliche Grenzziehungen eingespannt ist. Ihre Plastizität wird gesichert durch die kontinuierliche Praxis der Ausnahme."
(S. 77 f.)

Wo Rilling die dynamischen Faktoren imperialer Ordnung analysiert, kritisiert Peter Gowan deren irreführende Verortung durch den herrschenden Wissenschaftsdiskurs in der ökonomischen oder politischen Sphäre. Weder die Sachwalter des liberalen Idealismus noch der militärischen Gewaltanwendung seien in der Lage, Ordnung im Weltsystem zu schaffen, sondern dies erfolge stets ad hoc durch zwischen beiden Lagern ausgehandelte, "ihrem Wesen nach grundsätzlich prinzipienlose, machtbasierte Kompromisse" (S. 147). Gowan verwirft die Dominanz der Marktlogik bei der kausalen Verortung gesellschaftlicher Prozesse und verweist auf die Bedeutung "gesellschaftlicher Ideensysteme und kollektiver Identitäten" für die Ausbildung "gesellschaftlich-kapitalistischer Herrschaftssysteme" (S. 149).

Für den Versuch, der machtpolitischen Willkür, von der die Welt gestern wie heute überzogen wird, eine theoretische Entsprechung abzuringen, besitze der Imperialismusbegriff den Vorteil, daß er "den Charakter dieser Weltordnungen als ad hoc, nicht-normativ und machtbasiert betont und dabei gleichzeitig diese Weltordnungen an ein Verständnis des Wesens des Kapitalismus als soziales System knüpft" (S. 151). Gleichzeitig kritisiert Gowan das klassische Imperialismusverständnis als unzureichend für die Analyse des Verhältnisses zwischen den kapitalistischen Zentren, deren Funktionseliten von einem übergreifenden Interesse an Bestandssicherung geprägt sind. Dem entspricht auch Rillings Darstellung des Kampfes zwischen dem liberal- und rechtsimperialen Lager in den USA, deren gemeinsames Streben dennoch auf die Sicherung des US-Empires als "prägnant imperiale Macht" (S. 72) abzielt.

Gowan diagnostiziert anhand der Konfrontation zwischen US-imperialem Machtanspruch und aufstrebenden Nationalstaaten wie Rußland und China sowie der Totalität des kapitalistischen Charakters der Staatenwelt eine "institutionelle Malaise", die in einer Welt, die weitaus mehr Systemsteuerung erfordere als noch vor 100 Jahren, Kontrollverluste von vielleicht verhängnisvoller Konsequenz generiere.

Zu einer vergleichbaren Schlußfolgerung gelangt Christoph Lieber, wenn er anhand von 1979 gehaltenen Vorträgen Michel Foucaults zur Entwicklung der modernen Regierungskunst das Fehlen einer sozialistischen Gouvernementalität feststellt. In seinem Beitrag wird die Analyse des Neoliberalismus durch die Bedeutung der klassischen politischen Ökonomie der Physiokraten für die Ausbildung des Liberalismus und der damit einhergehenden Entstehung der modernen Marktdoktrin erweitert. Die Staatsferne des klassischen Liberalismus und die aus seinen sozialen Mängeln resultierende Stärkung staatsinterventionistischer Maßnahmen mündete schließlich neben dem amerikanischen Neoliberalismus der Chicagoer Schule in den Ordoliberalismus der Freiburger Schule, die als Konterpart zur Frankfurter Schule Max Horkheimers und Theodor W. Adornos wesentlichen Einfluß auf die Nachkriegsgesellschaft der BRD hatte: "Die Frankfurter begeben sich auf die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Rationalität, um die ökonomische Irrationalität aufzuheben, wohingegen die Freiburger für eine ökonomische Rationalität plädieren, um die gesellschaftliche Irrationalität zu regulieren und in den Griff zu bekommen" (S. 388).

Die besondere Situation der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, über "keine intakte territorialstaatliche Souveränität und verfassungsrechtliche Legitimität" (S. 391) zu verfügen, erwies sich laut Foucault als idealer Nährboden für ein auf der Prämisse der Ökonomie beruhendes Staatsverständnis, das sich in der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards ausdrückte. Lieber dokumentiert die Verbreitung einer Marktdoktrin in der frühen Bundesrepublik, die die spätere Vorherrschaft des Neoliberalismus und seine Adaption durch die Sozialdemokratie in der Hybridform einer staatlich organisierten Marktwirtschaft vorwegnahm, die dem nach dem Krieg bis in die Unionsparteien hinein erhobenen Anspruch auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch eine starke soziale Komponente vorbeugte.

Um der Entwicklung der Ideologie des neoliberalen Kapitalismus, ihrer Prozeßlogik und der Praxis ihrer Durchsetzung sowie ihrer Artikulation in Weltordnungskonzepten auf die Spur zu kommen, lohnt es sich auch für den akademisch nicht gebildeten Leser, den hohen Abstraktionsgrad der meisten Beiträge nicht zu scheuen und dem Buch die ganze Aufmerksamkeit zu widmen, derer es bedarf, um es mit den Zumutungen eines sich nicht nur aus der Sache heraus, sondern zum Zwecke der Ausgrenzung komplex und differenziert darstellenden Herrschaftsanspruchs aufzunehmen. Ein emanzipatorisches Bemühen, das nicht das ganze Spektrum der den Menschen zwingenden und nötigenden Bedingungen in Angriff nimmt, läuft Gefahr, frühzeitig aufgegeben zu werden und sich dann erst recht dem zu ergeben, was man aus gutem Grund abgelehnt hat.

15. November 2007


Giovanni Arrighi u.a.
Kapitalismus Reloaded
Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie
VSA-Verlag, Hamburg, 2007
400 Seiten, 22,80 Euro
ISBN 978-3-89965-181-2