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REZENSION/411: Prunier - Darfur - Der "uneindeutige" Genozid (SB)


Gérard Prunier


Darfur - Der "uneindeutige" Genozid



Im vergangenen Monat hat der UN-Sicherheitsrat beschlossen, eine Blauhelmtruppe in die Krisenregion Tschad/Zentralafrikanische Republik zu entsenden. Sie soll gemeinsam mit Soldaten der Europäischen Union für den Schutz der Flüchtlingslager sorgen und Hilfslieferungen an die Bedürftigen absichern. Diese Mission steht in einem engen Einsatzzusammenhang mit der ebenfalls vom Sicherheitsrat abgesegneten 26.000 Mann starken Friedenstruppe, die in der westsudanesischen Provinz Darfur weitere Vertreibungen und Übergriffe auf die Bevölkerung unterbinden soll. Mit der Entsendung zweier Missionen reagiert das Weltgremium darauf, daß jene Konflikte grenzüberschreitend ausgetragen werden. Ein Umstand, der allerdings nicht verwundert, denn die einst von den europäischen Kolonialherren am Reißbrett ausgehandelten territorialen Schnittmuster orientierten sich keineswegs an den gewachsenen Stammesstrukturen der teils seßhaften, teils nomadisierenden Gemeinschaften, denen die aufoktroyierten Grenzverläufe quer durch ihre Lebensbereiche ein Dorn im Auge waren.

Der Konflikt im Westen Sudans, genauer gesagt seine neuere Phase, setzte im Frühjahr 2003 ein, als sich abzeichnete, daß sich die Kontrahenten im zwei Jahrzehnte währenden sudanesischen Nord-Süd-Konflikt auf ein Friedensabkommen und die Aufteilung der lukrativen Einnahmen aus der Ölförderung einigen würden. Zwei darfurische Rebellenorganisationen schlossen sich zusammen und griffen Polizei- und Militäreinrichtungen an, um die Provinz aus ihrer marginalisierten Lage zu befreien. Die Zentralregierung in Khartum hat die Erhebung mit aller Schärfe beantwortet. Seitdem sind in Darfur nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 400.000 Einwohner entweder durch direkte Gewaltanwendung oder durch Krankheiten und Versorgungsmangel aufgrund des Konflikts ums Leben gekommen. Zwei bis drei Millionen Einwohner wurden vertrieben, ein erheblicher Teil lebt in Flüchtlingslagern außerhalb Darfurs.

Eine einfache, schnelle Erklärung, wer in Darfur eigentlich gegen wen kämpft, wird es nicht geben. Wie geschichtsträchtig, mannigfaltig und häufig von konkurrierenden Interessen geprägt sich die Provinz heute präsentiert, zeigt der Ostafrikaexperte Gérard Prunier in seinem Buch "Darfur - Der 'uneindeutige' Genozid" auf. Mit diesem Titel hat es eine besondere Bewandtnis, denn die Frage, ob in Darfur ein Genozid stattfindet oder nicht, steht im Mittelpunkt der kenntnisreichen Erörterungen. Prunier schreibt auf eine Weise, als wolle er einem unsichtbaren Tribunal, das über seine Ausführungen zu Gericht sitzt, eindringlich vermitteln, daß in Darfur zwar ein Genozid stattfindet, aber daß man es sich mit dieser Kategorie zu einfach mache. Denn der Genozid ist "uneindeutig", also nicht auf eine einzige Weise zu deuten.

Eine wichtige Schlußfolgerung, die aus Pruniers Buch gezogen werden kann, wäre, daß mit einem Schema von Gut und Böse im Kopf, wie es offenbar von einer breiten Anti-Sudanbewegung in den USA, an deren Spitze sich Hollywoodgrößen wie George Clooney und Mia Farrow gestellt haben, verbreitet wird, das Geschehen im Westen Sudans nicht einmal ansatzweise adäquat beschrieben und analysiert werden kann.

Der Autor tritt aber auch als Mahner auf und schreibt, daß der Regierung in Khartum und ihrer Vertreter in Darfur, die er unter Berücksichtigung der höchst unterschiedlichen Herkunft der Völker des flächengrößten Staates Afrikas als "Flussaraber" bezeichnet, nicht zu trauen sei. Die Vertreibungen von mehreren Millionen Bewohnern durch die Reitermilizen der Dschandschawid und Regierungssoldaten seien sehr wohl beabsichtigt, ist Prunier überzeugt, und er weiß seine Einschätzung mit rassistischen Aussagen von Regierungsmitgliedern in Khartum zu belegen.

Sehr vereinfacht gesagt und unter Mißachtung des eben noch gelobten Differenzierungsvermögens des Autors läßt sich konstatieren, daß in Darfur Schwarzafrikaner von Arabern vertrieben werden. Die von Arabern dominierte Regierung in Khartum hatte zur Bekämpfung des Aufstands die loyalen Reitermilizen Dschandschawid von der Leine gelassen. Die fielen brandschatzend und mordend über die Dörfer her, manchesmal im Anschluß an eine Bombardierung durch Regierungsflugzeuge, häufig mit Regierungssoldaten im Troß. Doch wer sind die Dschandschadwid? Prunier gibt darauf eine eindeutig uneindeutige Antwort:

"Soziologisch scheinen sich die Dschandschawid hauptsächlich aus sechs unterschiedlichen Gruppierungen zusammenzusetzen: ehemaligen Banditen und Straßenräubern, die seit den 1980er Jahren ,im Geschäft' waren; entlassenen Soldaten aus der regulären Armee; jungen Stammesangehörigen, die mit ihren ,afrikanischen' Nachbarn über Land und Boden stritten, offenbar meist Angehörige kleinerer arabischer Stämme; gewöhnlichen Kriminellen, die begnadigt und aus dem Gefängnis entlassen wurden, sofern sie sich den Milizen anschlossen; fanatischen Mitgliedern des Tadschammu al-Arabi sowie jungen arbeitslosen ,Arabern', ähnlich jenen, die sich auf ,afrikanischer' Seite den Rebellen anschlossen."
(S. 130)

Pruniers Einblick in die wechselhafte Geschichte der Region mit ihren stark divergierenden Interessenslinien erlaubt auch den Leserinnen und Lesern eine differenzierte Sicht auf die Verhältnisse, die in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder von Vertreibungen und "Säuberungen", kriegerischen Konflikten und Eroberungen, aber auch allmählichen Migrationen und Ansiedlungen geprägt wurden. Wer aber versucht, den Darfur-Konflikt allein aus der Geschichte heraus erklären zu wollen, säße einem Reduktionismus auf, bei dem aktuelle Entwicklungen und Ziele der Hauptbeteiligten des Konflikts ausgeblendet würden. Zum einen tritt die Regierung in Khartum mit ihren inneren Widersprüchen, die sich insbesondere aus der Einbindung der südsudanesischen SPLA/M sowie aus dem Machtkampf zwischen Präsident Omar al-Baschir und dem einflußreichen ehemaligen Parlamentspräsidenten Hassan al-Turabi ergeben haben, nicht als monolithischer Block auf. Zum anderen bekriegen sich die Milizengruppen innerhalb Darfurs ebenfalls und verfolgen sehr unterschiedliche Absichten.

Wer dagegen meint, China als wichtigster Handelspartner Khartums trage wesentliche Verantwortung für den Darfur-Konflikt, oder wer das eng verwobene Geflecht aus lokalen Stammesfehden, ethnischen Differenzen, nationalstaatlicher Vernachlässigung der Peripherie und gezielten Vertreibungen letztlich als Ergebnis westlicher Einflußnahme und allein Folge geostrategischen Kalküls, um das munter sprudelnde sudanesische Erdöl dem Zugriff Chinas zu entwinden, deutet, der ignoriert damit die urmenschliche Bereitschaft, Konflikte mit seinen Artgenossen gewaltsam auszutragen.

Da stellt Darfur im übrigen keinen Sonderfall an Grausamkeit dar, wie allzu leichtfertig von Außenstehenden unterstellt wird, die auf Demonstrationen in Washington und anderen Städten der Vereinigten Staaten einen Rückzug der Besatzungssoldaten aus dem Irak und statt dessen ihren Einmarsch in Darfur gefordert haben. Solchen Zeugnissen politischer Naivität gepaart mit einer nicht zu übersehenden eigenen Aggressivität, die der der bellizistischen Neocons innerhalb und am Rande der US-Regierung in nichts nachsteht, kann vermutlich nur mit Aufklärung, um die sich Gérard Prunier mit seinem Buch bemüht, entgegengetreten werden.

Das gilt auch für einen weiteren Aspekt: Als vor einigen Monaten das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) eine Studie veröffentlichte, derzufolge der Darfur-Konflikt durch natürliche Klimafaktoren wie das Ausbleiben der Niederschläge forciert worden sei, erntete es dafür unter anderem vom deutschen Politikmagazin "Der Spiegel" (2.7.2007, S. 110) einige zynische Bemerkungen, als hätte UNEP allein den Klimawandel für das Töten, Schänden und Brandschatzen in Darfur verantwortlich gemacht. Prunier, dem keineswegs nachgesagt werden kann, daß er das Ausmaß der Greueltaten in Darfur herunterspielen wolle, bestätigt mit seinen Ausführungen (S. 70), das der ausbleibende Regen den Konflikt verschärft hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Diskussion darüber, ob es sich in Darfur um einen Genozid handelt oder nicht, nimmt in dem vorliegenden Buch nicht nur einen breiten Raum ein, sondern sie begleitet ausgesprochen und unausgesprochen sämtliche sechs Kapitel. Selbst die einführenden historischen Betrachtungen sind vom Autor erklärtermaßen auf diese Frage zugeschnitten. Prunier zeigt auf, daß der Darfur-Konflikt weitaus mehr Aspekte umfaßt als in der allgemeinen Berichterstattung wiedergegeben. Mehrere hundert Fußnoten, die häufig mit wichtigen Erläuterungen zum Verständnis der Kernaussagen beitragen, zeugen von dem Differenzierungsvermögen des Autors einerseits und der Komplexität der Probleme in diesem Konfliktgebiet andererseits.

Die Lektüre dieses Buchs dürfte der Neigung, den dichotomischen Zuordnungen von Gut und Böse zu folgen, wie sie mancher westlicher Politiker von sich zu geben pflegt, den Boden entziehen. Man weiß es jetzt besser oder ahnt zumindest, daß mit den häufig propagierten simplen Weltbildern etwas anderes bezweckt werden soll als Aufklärung. Dabei vertritt Prunier noch nicht einmal einen herrschaftskritischen Standpunkt. In vielem decken sich seine Beschreibungen der Machenschaften und des mutmaßlichen Kalküls der sudanesischen Zentralregierung mit der plakativen Darstellung hiesiger Weltordnungspropagandisten, die ihr vermeintlich alleinseligmachendes Demokratieverständnis unterschiedslos sämtlichen Weltregionen aufdrücken wollen, als seien diese rückständig und bedürften der Belehrung, um von den "Errungenschaften" der westlichen Zivilisation profitieren zu dürfen.

Mit Prunier wäre eine robuste militärische Intervention in Darfur durchaus zu machen, das bringt er bereits in seinem Vorwort zum Ausdruck, wenn er schreibt, daß das sudanesische Regime "gerissen und weltgewandt" sei, der Westen aber "politische Beruhigungsmittel" liebe, "wenn es um Afrika oder andere Regionen der sogenannten Dritten Welt" gehe, und sich nicht um seinen "narkoseähnlichen Schlaf" bringen lassen wolle (S. 11). Gewissermaßen klagt der Autor den Westen an, daß ihm nicht ernsthaft an einer Konfliktlösung in Darfur gelegen sei und er sich von Khartum an der Nase herumführen lasse.

Diese Einschätzung zeugt von einer gewissen analytischen Unschärfe des Autors. Er glaubt anscheinend trotz der zahlreichen von ihm genannten Gegenbeispiele noch immer irgendwie daran, daß diejenigen, die das Wort Genozid im Munde führen, eigentlich um das Wohl der Darfurer besorgt sein müßten. Das scheint Wunschdenken zu sein. Erklärlich wird das vermeintliche Versagen und das Scheitern der Weltgemeinschaft in Darfur, wenn man die extreme Verschlechterung der Lebensverhältnisse in dieser und anderen Regionen Afrikas und darüber hinaus nicht als kollateralen, sondern systemisch bedingten Schaden bewertet, an dem eben nicht nur die Regierung in Khartum, sondern auch die Weltordnungspolitiker im Sicherheitsrat ein Interesse haben.

5. Oktober 2007


Gérard Prunier
Darfur - Der "uneindeutige" Genozid
Hamburger Edition
Hamburg, 1. Aufl. Januar 2007
275 Seiten
ISBN: 978-3-936096-66-8