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REZENSION/403: Germinal Civikov - Der Milosevic-Prozess (SB)


Germinal Civikov


Der Milosevic-Prozess

Bericht eines Beobachters



Mit dem Ende seines leiblichen Daseins sollte auch das historische Urteil über ihn besiegelt sein. Das war zumindest die Hoffnung all jener, die den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zum Hauptschuldigen für das lange und schmerzvolle Ende des gemeinsamen Staates der Südslawen erklärten. Seine Dämonisierung als großserbischer Nationalchauvinist und genozidaler Diktator entsprach der Realität seines politischen Wirkens so wenig, daß in deutschen Zeitungen verwendete Anprangerungen, bei denen Milosevics serbische Herkunft mit herabwürdigenden Begriffen wie "Schlächter" in Verbindung gebracht wurde, vor allem etwas über die rassistischen Obsessionen ihrer Urheber verrieten. Über die Probleme eines Politikers, der an der für tot erklärten Idee eines mit einigen verbliebenen sozialistischen Errungenschaften versehenen multiethnischen Jugoslawiens festhielt, erfuhren die Bürger der Staaten, deren Regierungen Jugoslawien zum Prüfstein ihrer imperialen Durchsetzungskraft machten, hingegen nichts.

Die Diskrepanz zwischen der demagogischen Überzeichnung seiner Person und seinem Versuch, sich mit den westlichen Regierungen zu arrangieren, deren Hegemonialstreben die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und anschließend die Bundesrepublik Jugoslawien im Wege stand, macht aus Milosevic eine tragische Figur, an der wie bei kaum einem anderen Politiker der realsozialistischen Staatenwelt Osteuropas der aggressive Charakter der Neuordnung des Kontinents nach dem Ende der Blockkonfrontation zutage tritt. Auf dem Rücken des zerschlagenen Jugoslawiens sollte der Sieger des Kalten Krieges zu neuer Handlungsstärke gelangen, so daß der westliche Balkan zu einem regelrechten Labor interventionistischer Ordnungsgewalt wurde. Auf militärischem Gebiet wurde die Ablösung der Vereinten Nationen als Organ defensiver Friedenssicherung durch die "robuste Friedenserzwingung" der NATO betrieben, die damit ihre nach dem Ende der Sowjetunion in Frage gestellte Existenzberechtigung erneuerte; auf administrativem Gebiet erprobte man neue Formen neokolonialistischer Verwaltung, mit denen unter Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Kräfte Protektoratslösungen zur weiteren Verwendung für künftige Eroberungen geschaffen wurden; auf rechtlichem Gebiet sollte mit der internationalen Strafverfolgung für Kriegsverbrechen verantwortlicher Politiker ein probates Mittel der historisierenden Legitimation durch ihre Ankläger begangener Regelverstöße geschaffen werden.

Der spektakulärste Versuch, jede Verantwortung westlicher Regierungen für den Ausbruch und Verlauf der jugoslawischen Sezessionskriege von sich zu weisen und statt dessen innerjugoslawische Konflikte zur alleinigen Ursache der begangenen Grausamkeiten zu erklären, wurde mit der Anklageerhebung gegen den jugoslawischen Präsidenten Milosevic und weitere Mitglieder seiner Regierung wegen angeblicher Kriegsverbrechen im Kosovo unternommen. Sie erfolgte während des völkerrechtswidrigen Überfalls der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien durch das schon von seiner Konstitution her rechtlich fragwürdige wie durch seine enge Zusammenarbeit mit und Abhängigkeit von den Kriegssiegern korrumpierte Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY).

Nachdem Milosevics Verhaftung und Auslieferung unter erheblichem Druck der Kriegssieger auf die von ihnen favorisierte Nachfolgeregierung und unter Mißachtung jugoslawischen Rechts erfolgt war, wurde ihm im niederländischen Den Haag vom Februar 2002 an der Prozeß gemacht. Dessen Verlauf bis hin zum Tode Milosevics, der am 11. März 2006 leblos in seiner Zelle im Gefängnis des ICTY in Scheveningen aufgefunden wurde, ist Gegenstand des vorliegenden Buches. Sein Autor Germinal Civikov war von Anfang an in Den Haag als journalistischer Beobachter zugegen und behielt diese Tätigkeit auch bei, nachdem das Interesse der internationalen Medien an dem als Jahrhundertprozeß in der Tradition der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse angekündigten Verfahren aufgrund der Wehrhaftigkeit des Angeklagten schlagartig und nachhaltig erloschen war.

Desto wertvoller ist das Zeugnis, das Civikov mit seinem Buch ablegt. Er dokumentiert einen Schauprozeß, dem das Publikum abhanden gekommen ist, weil die Absicht, die angebliche Schuld Milosevics an Kriegsverbrechen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo nachzuweisen und so die Hegemonialpolitik der EU und USA in Südosteuropa zu legitimieren, auf frappante Weise in ihr Gegenteil umschlug. Schon während der fast ein Jahr in Anspruch nehmenden Beweisaufnahme, bei der an 286 Sitzungstagen 296 Zeugen der Anklage befragt wurden, erwiesen sich die gegen Milosevic gerichteten Vorwürfe weitgehend als haltlos. Der sich selbst verteidigende Angeklagte stellte mehrere der aufgebotenen Zeugen, von denen einige durch das Gericht vor der Preisgabe ihrer Identität geschützt wurden, nicht nur anhand der Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen als Lügner bloß, er schaffte es auch, einige zu seiner Belastung angereiste Personen praktisch in Entlastungszeugen umzufunktionieren.

Dabei warf ihm das Gericht alle nur denkbaren Knüppel zwischen die Beine. So unterbrach der Vorsitzende Richter den Angeklagten häufig an Stellen, an denen die größere politische Lage, die zu der Konfrontation zwischen NATO und Jugoslawien führte, zugunsten Milosevics erhellt werden sollte, mit dem Argument, dies sei für die Wahrheitsfindung "irrelevant". Während die Ankläger mit abenteuerlichen Vorwürfen und Bezichtigungen durchkamen, wurden die Einwände des Angeklagten meist sehr schnell abgeschmettert. Vertrat Milosevic seine Sache mit einer der Schwere der gegen ihn vorgebrachten Bezichtigungen entsprechenden Streitbarkeit, griff der die Verhandlung führende Richter nicht selten zu dem Mittel der Zensur, indem er ihm das Mikrofon abschaltete, so daß das hinter einer Glasscheibe sitzende Publikum nicht mehr folgen konnte und die Aufzeichnung der Worte des Angeklagten unterbrochen wurde.

Das Gericht machte ausgiebig Gebrauch von dem unüblichen Vorrecht, selbst über seine prozessualen Verfahrensweisen befinden zu können, und versuchte vor allem, Milosevic auf Betreiben der Anklagebehörde das Recht zu entziehen, sich selbst zu verteidigen. Während die Ankläger mit dem Vorwurf, der Angeklagte sei Anstifter und Anführer einer kriminellen Vereinigung gewesen, die auf massenmörderische Weise nationalchauvinistische Ziele verfolgt habe, sich des Vorteils jedes Kollektivstrafrechts bedienten, einen Schuldspruch schon bei minderer Qualität der Beweisführung erlangen zu können, mußte Milosevic einen umfassenden Katalog von Anklagepunkten widerlegen, von denen jeder einzelne dazu ausgereicht hätte, ihn zu einer Haftstrafe zu verurteilen. Während die Anklagebehörde alle materiellen, prozessualen und politischen Vorteile auf ihrer Seite hatte, kämpfte Milosevic fast allein gegen eine Phalanx von Bezichtigungen an, die durch die jahrelange mediale und politische Stigmatisierung der Serben als Haupttäter in den jugoslawischen Sezessionskriegen von vornherein den Charakter einer nur noch aus formalen Gründen zu beweisenden Tatsache hatten.

Civikovs Schilderung des Prozeßverlaufs, dessen Höhepunkte er unter detaillierter Darstellung der verhandelten Sachverhalte und agierenden Personen zum Leben erweckt, ist so angefüllt von Widerlegungen der gegen den Angeklagten gerichteten Vorwürfe, daß das Werk nicht nur für die Dokumentation der Geschichte der internationalen Strafgerichtsbarkeit von Bedeutung ist, sondern auch einen Fundus für die zeitgeschichtliche Forschung darstellt. Zwar kann sich Civikov bei besonders kafkaesken Auftritten wie dem des britischen Politikers und ehemaligen Protektoratsverwalters für Bosnien-Herzegowina, Paddy Ashdown, manchen sarkastischen Kommentars nicht enthalten, seine Berichterstattung beeindruckt jedoch mit der Akribie und Stringenz eines gewissenhaften Beobachters, dem man keineswegs eine Parteilichkeit von der Art anlasten könnte, wie sie das Gericht in jeder Phase des Prozeßverlaufs zu erkennen gab.

Nachdem die Behauptung, der Angeklagte habe aus nationalchauvinistischen Gründen in den Serbien benachbarten Republiken wie in der serbischen Provinz Kosovo eine mörderische Strategie der ethnischen Säuberung verfolgt, durch die Zeugen der Verteidigung weiter erschüttert wurde und selbst der Ankläger von dem zentralen Vorwurf der großserbischen Ambitionen Milosevics abgerückt war, nachdem der Versuch des Gerichts, dem Angeklagten das Recht zu nehmen, in eigener Sache als Verteidiger aufzutreten, unter anderem am Widerstand der Zeugen gescheitert war und alle Versuche, den Kampfeswillen des Angeklagten mit haft- und prozeßtechnischen Schikanen zu brechen, ergebnislos verlaufen waren, verstarb Milosevic im Gefängnis Scheveningen. Die Umstände und Ungereimtheiten dieses bei bemühter Sorge um die Gesundheit des Angeklagten allem Anschein nach vermeidbaren Todes schildert Civikov unter der treffenden Kapitelüberschrift "Wie Milosevic gestorben wurde".

Dem nach dem vorzeitigen Ende des Prozesses noch einmal aufflammenden Interesse der Öffentlichkeit trugen viele Kommentatoren mit einer durch langjährige Wiederholung eingeschliffenen Häme Rechnung. Nicht einmal das Grab schützte Milosevic vor Anfeindungen, mit denen die Rolle der westlichen Medien als propagandistische Zuträger der EU und NATO unter den Teppich gekehrt werden sollte. So steht die Rehabilitierung Milosevics als eines in seiner politischen Praxis zweifellos von Verfehlungen machtpolitischer Ranküne behafteten Politikers, der jedoch trotz massiven internationalen Drucks und erpresserischer Kriegsdrohungen der Verpflichtung seines Amts nachkam, die Souveränität seines Landes zu schützen, und der bei der juristischen Abrechnung mit seiner Person nicht wie erwartet um Gnade bettelte, sondern menschliche wie politische Größe zeigte, weiterhin aus.

Dabei geht es nicht nur um die Korrektur des zeitgeschichtlichen Zerrbilds, das insbesondere im Falle der deutschen Politik und Publizistik, die die Geschichte der eigenen Südosteuropaexpansion an Milosevic reprojektiv abarbeitete und den jugoslawischen Opfern der NS-Vergangenheit auch noch anlastete, was man ihnen selbst angetan hatte, von infamer Durchtriebenheit war. Serbien wird weiterhin der Verweigerung des vermeintlich natürlichen, weil ethnisch determinierten Rechts der kosovoalbanischen Separatisten auf einen eigenen Staat und der slawischen Kumpanei mit Rußland bezichtigt.

Civikovs Berichterstattung über die den Kosovo betreffenden Zeugenauftritte trägt zur Widerlegung des Vorwurfs bei, die jugoslawische Regierung habe die Kosovo-Albaner vertreiben wollen, und läßt die historische Konstellation, auf die sich die Befürworter kosovoalbanischer Eigenstaatlichkeit stützen, in einem anderen Licht erstehen. Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag beruft sich auf das Vorbild des ICTY, so daß das Vorgehen im Milosevic-Prozeß trotz des andersgearteten Statuts dieses permanenten Gerichtshofs durchaus Anlaß dazu gibt, die Grenzen der Neutralität internationaler Strafverfolgung auszuloten.

Herrschte im publizistischen Geschäft ein aufklärerisches Interesse vor, dann wäre dem Buch von Germinal Civikov ein Platz auf der Bestsellerliste des politischen Sachbuchs sicher. Angesichts des imperialen Charakters der deutschen und EU-europäischen Außenpolitik, ihrer integralen Verankerung in den großen Medien und der breiten Akzeptanz, von der die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, am Krieg der NATO gegen Jugoslawien teilzunehmen, getragen wurde, bleibt dem Autor zumindest das Verdienst, den "Bericht eines Beobachters" mit großer Gewissenhaftigkeit und dem Elan eines für demokratische Werte eintretenden Journalisten verfaßt zu haben.

15. August 2007


Germinal Civikov
Der Milosevic-Prozess
Bericht eines Beobachters
Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft, Wien, 2006
216 Seiten, 13,90 Euro
ISBN 3-85371-264-9