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REZENSION/399: Dudenredaktion - Die deutsche Rechtschreibung (SB)


Dudenredaktion


DUDEN Band 1

Die deutsche Rechtschreibung

24. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage


Seit nunmehr einem Jahr, nämlich seit Anfang August 2006, gilt die neue deutsche Rechtschreibung verbindlich in Schulen und Behörden. Die Aufregung darüber ist inzwischen abgeklungen, zumal in den meisten Fällen kein Unterschied zu alten Schreibweisen zu bemerken ist bzw. auch gar nicht besteht, denn die so heftig umstrittene Rechtschreibreform bezieht sich eigentlich nur auf weniger als zehn Prozent der Schreibweisen, von denen das Doppel-S, manche Getrenntschreibungen und Weniges aus der Groß- und Kleinschreibung oder ungewohnte Ableitungen wie »aufwändig« (von »Aufwand«) überhaupt auffallen.

Kaum ein Schreiber hat sich bisher an alle neuen Regeln gehalten. Das braucht er auch nicht, denn der Rat für Rechtschreibung, der schließlich als Konsequenz aus der anhaltenden Kritik an der Reform als Entscheidungsgremium für Regelstreitigkeiten eingerichtet wurde, hat zahlreiche Neuerungen wieder zurückgenommen, Varianten zugelassen und am Ende die Reform zu einer Nachbesserung der gewohnten Schreibung verwandelt. Für die Korrekturen galt noch eine Übergangsfrist von einem Jahr, in dem die geänderten Schreibweisen nicht als Fehler gewertet werden durften.

Rechtschreibwörterbücher wie das "Deutsche Wörterbuch" von Wahrig oder der Rechtschreibduden sind schon seit August 2006 in ihren neuen Ausgaben dazu übergegangen, neben einer regelgerechten Schreibung auch Varianten zu nennen. Die 24. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage des Rechtschreibduden (Band 1) favorisiert sogar manche Schreibung, die nicht den Regeln entspricht, aber es hat sich in diesem Jahr gezeigt, daß eine Auswahl von Varianten der deutschen Rechtschreibung am nächsten kommt. Denn es sind unterschiedliche Lösungen denkbar, wenn mit Wortbildungsprozessen und dem Wortzusammenhang (Grammatik) argumentiert wird, um Regeln zu verändern. Zugewandte Stimmen haben dafür den Begriff der "neuen orthographischen Freiheit" geprägt. Andere behaupten, der Duden hebe die Arbeit des Rats für Rechtschreibung wieder auf, weil er mit seinen Empfehlungen nur zur Verwirrung beitrage. Die Systematik, mit welcher der Duden vorgeht, ist jedoch bis ins Detail begründet und läßt keinen Zweifel an seinem Standpunkt, was die persönliche Entscheidung des Nutzers erleichtern kann:

"Wer nicht wissen will, wie er schreiben kann, sondern wie er schreiben soll, dem hilft das amtliche Regelwerk allein nicht weiter. [...] Wer sich an diese Dudenempfehlungen hält, stellt eine einheitliche Rechtschreibung sicher, die auch anderen leicht zu vermitteln ist." (Matthias Wermke, Leiter der Dudenredaktion in der Pressemitteilung)

"Die Empfehlungen der Dudenredaktion sollen all denen eine richtige und einheitliche Rechtschreibung ermöglichen, die dies wünschen und keine eigenen Entscheidungen bei der Variantenauswahl treffen möchten. [...] Bei der Auswahl der Varianten hat sich die Dudenredaktion an folgenden drei Kritierien orientiert:

Erstens soll nach Möglichkeit der tatsächliche Schreibgebrauch, wie ihn die Dudenredaktion beobachtet, berücksichtigt werden.

Zweitens wollen wir den Bedürfnissen der Lesenden nach optimaler Erfassbarkeit der Texte möglichst umfassend gerecht werden.

Und drittens sollen auch die Bedürfnisse der Schreibenden nach einfacher Handhabbarkeit der Rechtschreibung weitgehend befriedigt werden.

Diese Gesichtspunkte, die nicht selten im Widerspruch zueinander stehen, waren sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Es gibt Bereiche, wo die Dudenredaktion den Schreibenden überzeugt die neuere Schreibvariante empfehlen kann, und andere, in denen sie eher zur konservativen Variante rät."
(S. 17f)

Nach der Reformdebatte sind wohl alle Schreibenden so weit sensibilisiert für die Probleme, daß sich jeder über die Angebote orthographischer Varianten informieren und sie kritisch hinterfragen wird, zudem auch der Wahrig als weiteres Nachschlagewerk zur Verfügung steht (der Wahrig und auch das amtliche österreichische Wörterbuch sind den Beschlüssen des Rechtschreibrates konsequent gefolgt). Viele alte Regeln würden sich zudem auf Dauer "von selbst abschleifen", meint Matthias Wermke, Leiter der Dudenredaktion. Keiner weiß das besser als die Redakteure des Rechtschreibdudens, der seine unzweifelbare Rechtschreibhoheit aus einer langen Tradition begründet. Der Duden ist über 125 Jahre alt. Er knüpft "an die Erfolgsgeschichte für die alltägliche Sprachpraxis" an und will ein Stück Zeit- bzw. Sprachgeschichte dokumentieren. Ohne Zweifel ist und bleibt er trotz aller Debatten wegen seiner unschlagbaren Praxiserfahrung das Standardwerk der deutschen Rechtschreibung. Mit jeder neuen Ausgabe nahm er selbständig eine Angleichung an sich durchsetzende Schreibweisen vor und ergänzte den Wortschatz.

Nicht zuletzt aufgrund seines sprachhistorischen Hintergrunds ist der Duden mit seinen Empfehlungen eine ernstzunehmende Entscheidungshilfe auch für die Schulen, denn in dem Variantenreichtum müssen sich Lehrer und Schüler Anhaltspunkte schaffen, was, vordergründig betrachtet, den Deutschunterricht nicht leichter macht. So sieht der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, auch "eine gewisse Resignation" in den Schulen, die irgendwann in Beliebigkeit münden werde. Man habe sich eingerichtet in diesen Unsicherheiten, und die Lehrer würden künftig »relativ liberal« an Korrekturen herangehen.

Vielleicht könnte man aber, statt zu resignieren, gerade diese leichte Verunsicherung als Chance nutzen, den Sprachbereich des Deutschunterrichts nicht zu einem sturen Einpauken und Auswendiglernen von Rechtschreibregeln und Grammatiksätzen verkommen zu lassen. Zwar hätte im letzten Fall jeder seine Ruhe, weil ein Ordnungssystem mit Schubfächern eine schnelle Orientierung ohne lange Herleitungen und Diskussionen verspricht. Das mit der Rechtschreibreform angestrebte Prinzip der "Vereinheitlichung" bedeutet aber gleichzeitig auch eine Reduktion. Die Beweglichkeit im Denken nimmt unbemerkt ab und fördert die - amtlich, d.h. staatlich verwaltete - Gleichmachung und Anpassung des Sprechenden und Schreibenden an favorisierte - und erlaubte - Denkweisen.

Für die Schüler allerdings eine Orientierung zum Schreiben und Sprechen zu schaffen, könnte auch damit verbunden sein, gerade die entstandene Regelunsicherheit aufrechtzuerhalten, um die deutsche Sprache zu entwickeln bzw. zu qualifizieren. Die Lehrer hätten damit auch die Möglichkeit, im Deutschunterricht auf ihre sprachwissenschaftlichen und -historischen Kenntnisse zurückgreifen zu können und das Sprachverständnis der Schüler zu vertiefen. Denn eigentlich sind die Probleme der Groß- oder Klein-, Getrennt- oder Zusammenschreibung erst durch ein semantisches Verständnis angemessen lösbar; das setzt allerdings Kenntnisse über Wortherkunft und Sprachentwicklung voraus, die zu vermitteln über den Rahmen des Rechtschreibunterrichtes gewöhnlich hinausgehen. Die sogenannte Sprachversiertheit aber, die als Vorbereitung auf den Beruf für die Schüler nahezu unumgänglich ist, kommt im Unterricht zugunsten einer zunehmenden Vereinheitlichung (Erlernen eines Regelwerks) meist zu kurz. Sie wird zu einem Privileg weniger "Gebildeter". Schreiben und Lesen sind jedoch Kulturtechniken, die ständig weiterentwickelt und verfeinert werden wollen, um Denkentwicklung und Kritikfähigkeit nicht zu beschneiden.

Die Diskussion über ein einheitliches Regelwerk scheint angesichts gravierenderer Probleme mit der Sprache im Deutschunterricht wie ein Ausweichen auf das geringere Problem, denn wissenschaftliche Untersuchungen belegen, daß die Rechtschreibsicherheit und die schriftliche Ausdrucksfähigkeit der Schüler in den letzten 15 Jahren dramatisch nachgelassen haben. Mit der Hand schreiben, Texte genau lesen, in realen Bibliotheken zu recherchieren sind Techniken, die eigentlich zu den Kernkompetenzen gehören und derzeit nur noch schwer zu vermitteln sind, nicht zuletzt, weil die Computerarbeit diese Lehr- und Lernaktivitäten verdrängt. Und solch alarmierende Tendenz hält keine Rechtschreibkommission auf. So ist die jüngste Entwicklung nahezu logisch, daß die Entscheidung für die "richtige" Schreibweise nicht mehr auf eigener Sachkompetenz beruht, sondern auf Rechtschreibprüfprogramme abgeschoben wird, die ein Sprachempfinden für Texte noch weiter einschränken, indem sie nur auf genormte Fehlerquellen aufmerksam machen.

Um so wichtiger scheint es, daß die wissenschaftliche Auseinandersetzung über das Thema Sprache nicht einschläft, die nicht zuletzt durch die Entscheidung der Dudenredaktion, nicht immer den neuen Regeln zu entsprechen und souverän auf ihrer systematischen Sprachbeobachtung und -analyse zu bestehen, in Gang gehalten wird. Nicht ein Einfrieren der Sprache oder eine Sprachverarmung durch eine formale Normierung sind von Nutzen für die Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft, sondern das Bemühen um eine fortgesetzte Sprachqualifizierung. Dazu trägt die Dudenredaktion ein Stück weit bei.

18. Juli 2007


Duden - Die deutsche Rechtschreibung
Herausgegeben von der Dudenredaktion
Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibregeln
24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage
130.000 Stichwörter
1.216 Seiten, gebunden, 20,- Euro
Dudenverlag Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2006
ISBN-10: 3-411-70924-3
ISBN-13: 978-3-04014-8