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REZENSION/368: AkdÄ (Hg.) - Arzneiverordnungen (Medizin) (SB)


Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)


Arzneiverodnungen

Empfehlungen zur rationalen Pharmakotherapie



Wie man es auch dreht und wendet, es paßt nicht mehr in die Kitteltasche, das 11 x 19 Zentimeter formatige, aber mit 1534 Seiten auf rund fünf Zentimeter Dicke angewachsene und 822 Gramm schwere Handbuch, das 2006 im Deutschen Ärzte-Verlag Köln erschienen ist. Sein neuerlich angestiegener Umfang (die 18. Auflage von 1997 ließ sich mit etwa der Hälfte an Gewicht und Seiten noch recht gut mitführen) ist aber auch ungefähr der einzige Kritikpunkt, der zur neuen 21. Auflage des seit 1925 allgemein unter praktischen Ärzten und Medizinern unhinterfragt akzeptierten Standardwerks der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) geäußert wurde. Schließlich erwarten die Heilkundigen von diesem Basiswerk nicht weniger als die gewohnte kritische medizinisch-klinische und wirkstoffbezogene Entscheidungshilfe beim Aufstellen eines individuellen Therapieplans, und, was die Bedürfnisse der betroffenen Patienten angeht, nicht mehr als eine von der gesamten Ärzteschaft akzeptierte Orientierungshilfe für die Einhaltung der Arzneimittel- Richtlinien.

Nach Jahren der Sparappelle, einschränkender Budgetdeckel und Honorarkorsetts durch die von der Großen Koalition überarbeiteten Gesundheitsreform, mit der das ehemals vorbildliche deutsche Gesundheitssystem fast völlig demontiert wurde, so daß es heute vor allem durch hohe Eigenleistungen, anhaltenden Leistungsabbau und durch die Verabschiedung von der Idee der sozialen Gerechtigkeit gekennzeichnet wird, hätte für die noch verbliebenen "Empfehlungen zur rationalen Pharmakotherapie" vielleicht auch eine weniger umfangreiche Auflage ausgereicht. Darüber hinaus wäre im Zuge der erst Ende 2005 abgeschlossenen Nachzulassungen, denen beispielsweise u.a. viele naturheilkundliche Arzneimittel und damit auch gleichzeitig viele traditionelle Heilbehandlungen dem Rotstift zum Opfer fielen, weil sie die für die Zulassung notwendige Wirksamkeit nicht mit entsprechenden wissenschaftlichen Testreihen nachweisen konnten, mit einer wesentlich schlankeren 21. Fassung zu rechnen gewesen, zumal im Vergleich zu der fast zeitgleich erschienenen Roten Liste 2006 nur ein Bruchteil der zugelassenen Wirkstoffe und Medikamente (nach eigener Angabe im Vorwort zur 21. Auflage 730) ausdrücklich oder als Mittel der zweiten Wahl empfohlen werden.

Der Zuwachs in der Seitenzahl kann also keinesfalls nur daran liegen, daß die von der Azneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft als vernünftig und rational empfundene Vorsortierung möglicher Arzneimitteltherapien umfangreicher geworden oder eine Anzahl neuer Themenbereiche dazugekommen wäre. Außer dem Stichwort "Anti-Aging" (kaum Empfehlenswertes) oder einer Liste der weniger geeigneten Mittel zur Altersmedizin sticht hier nämlich kaum etwas wirklich Neues ins Auge.

Es ist wohl vielmehr so, daß passend zum gegenwärtigen Trend der Gesundheitspolitik ein gewisser Anteil des Buches dafür verwendet wurde, die notwendig erachteten Therapieeinschränkungen mit für den behandelnden Arzt wie für den Patienten gleichermaßen plausiblen Rechtfertigungsmustern zu begründen.

So betonen beispielsweise Prof. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer und des deutschen Ärztetages, und Ulrich Weigeldt, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), im Geleitwort sowie der AkdÄ-Vorsitzende Prof. Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen im Vorwort zur 21. Auflage, daß in diesem Buch auf vielfachen Wunsch der Vertragsärzteschaft nicht mehr nur wissenschaftlich rationale, sondern in wesentlich stärkerem Maße auch wirtschaftliche Aspekte als Orientierungshilfe für die Wahl der angemessenen Therapie "bei den verschiedenen Indikationen [...] und zum Teil mit Angaben der Tagestherapiekosten (entsprechend dem Arzneiverordnungs-Report 2005) in die jeweiligen Empfehlungen und zusammenfassenden, vergleichenden Bewertungen der jeweils zur Verfügung stehenden Wirkstoffe integriert" werden. Daß solche verbindlichen Angaben die Entscheidungsfreiheit vor allem eines jungen Arztes (an den sich die Herausgeber im Geleit- und Vorwort ganz besonders wenden), der sich zu Beginn seiner berufliche Karriere zum Ausschluß von Fehlern noch sehr an solche Orientierungshilfen hält, einschränken muß, versteht sich von selbst. Auch daß mit der Kosten-Nutzen-Abwägung letztlich eine Zweiklassenmedizin gefördert wird, in der der Arzt dem zahlungskräftigen, zur Eigenleistung fähigen Patienten eine ganz andere und bessere Therapie anbieten kann als dem Normalpatienten, bleibt dahingestellt.

Daß dies durch entsprechende Interpretation der hier niedergelegten Ratschläge möglich ist, macht die zuvor erwähnte Ambivalenz und damit auch den eigentlichen Umfang des Buches aus. So steht hier beispielsweise wortwörtlich auf Seite 1083 in der zusammenfassenden Bewertung zur Pharmakotherapie des Diabetes mellitus Typ 2:

... Die Entscheidung, ob Insulin erforderlich ist, muss unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen getroffen werden.

Insulinanaloga bieten Vorteile hinsichtlich des Hypoglykämierisikos und der postprandialen Stoffwechseleinstellung. Nur bei Durchführung des Basis-Bolus- Konzeptes werden bei der Anwendung von Insulinanaloga geringfügig bessere HbA1c-Werte erreicht als mit Humaninsulinen.
(S. 1083)

Die hier vorsichtig umschriebenen Verbesserungen für den Patienten durch das schneller und kürzer wirksame Insulinanalogon, die allerdings einen großen Unterschied in der Lebensqualität des Betroffenen ausmachen, werden dann allerdings, und das trotz des zuvor angeführten Rates, "die Entscheidung unabhängig von wirtschaftlichen Überlegungen zu treffen" durch die Hinweise zur wirtschaftlichen Verordnung nach dem "Eurozeichen" auf eine Weise relativiert, daß sie nur noch für den "Selbstzahler" in Frage kommen:

Die Tagestherapiekosten mit den Analoga sind aber um etwa ein Drittel höher als mit Humaninsulinen. Sie sollen deshalb Problemfällen vorbehalten bleiben, die mit herkömmlichen Insulinen nicht zu lösen sind oder bei denen andere Behandlungen zu risikoreich sind.
(S. 1084)

Bei Diabetes Typ 1 werden die Insulinanaloga in der zusammenfassenden Bewertung nur mit dem schwachen Hinweis, in der kurzen Zeit der Zulassung würden noch keine Langzeitstudien mit harten Endpunkten (das sind beispielsweise Tod, Erblindung oder Amputation) vorliegen, so daß die "Kriterien der evidenzbasierten Medizin für den Nachweis des Therapienutzens nicht erfüllt" wären, von der Therapie gestrichen, obwohl gleichzeitig zugegeben wird, daß sie aus "Sicht der Patienten gegenüber der Behandlung mit herkömmlichen Insulinen Vorteile" besitzen. Auch hier wird geraten, Insulinanaloga Problemfällen vorzubehalten, bei denen mit herkömmlichen Mitteln die Therapieziele, z.B. die Vermeidung von nächtlichen Hypoglykämien und Gewichtszunahme nicht erreicht werden könne, wobei gerade die letztgenannten Punkte eine äußerst unangenehme Begleiterscheinung der herkömmlichen Insulintherapie sind, die jeder Diabetiker sicher gerne vermeiden würde, die ein nicht persönlich betroffener junger Arzt aber wohl nur schwer körperlich nachvollziehen kann.

Dieser glaubt dann unter dem Mäntelchen der Nächstenliebe - bzw. weil er das Beste für den Patienten will und sich gleichzeitig bei den Kassen nicht unbeliebt machen will - auf Insulinanaloga gut verzichten zu können, denn die eingangs erwähnten Langzeitstudien stehen ja noch aus. Daß die fehlenden Endpunkte (Erblindung, Amputation, Tod) möglicherweise schon als Therapieerfolg zu werten wären, immerhin handelt es sich um getestete und zugelassene Medikamente, dafür fehlt dem noch unerfahrenen Arzt angesichts der Fülle der Krankheitsbilder und Therapiemöglichkeiten mit Sicherheit der nötige souveräne Überblick. Und diesen kann auch ein Buch, das auf eine möglichst uniforme und auf die von der aktuellen Gesundheitspolitik für 2007 angestrebten 500 Millionen-Einsparung angepaßte Entscheidungsfindung der Ärzteschaft abzielt, sicherlich nicht bieten.

Dafür trägt es zur Aufrechterhaltung bestehender Verhältnisse und damit letztlich auch zur sozialen Ungerechtigkeit bei. Schon heute sind Investitionen in Alter und Gesundheit unbezahlbarer Luxus geworden, obwohl auch gesundes Essen oder bessere Lebensbedingungen durchaus zu bestehenden Therapieplänen gehören. Wer das nicht erfüllen kann, weil ihm das nötige Einkommen fehlt, hat nach solcher Lesart schlicht Schuld an der eigenen Erkrankung. Und so mag es einen angesichts solcher Richtlinien nicht wundern, daß Personen mit geringerem Einkommen, also besonders Sozialhilfeempfänger und Geringverdiener schon heute in Deutschland durchschnittlich neun Jahre früher sterben, als andere Menschen [siehe hierzu auch unter MEDIZIN\MEINUNGEN: BALL/1188: Berlins brutale Sozialpolitik macht krank].

18. Januar 2007


Herausgeber Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)
Arzneiverordnungen 21. Auflage
Empfehlungen zur rationalen Pharmakotherapie
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln 2006,
1534 Seiten, 49,95 Euro
ISBN 3-7691-1201-6