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REZENSION/349: Fragner, Kappeler (Hg.) - Zentralasien (Geschichte) (SB)


Bert Fragner, Andreas Kappeler (Hg.)


Zentralasien

13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft



Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kommt der Großregion Zentralasien im politischen Diskurs eine herausragende Bedeutung zu. Die Sowjetunion war zerfallen, und es tauchten plötzlich eigenständige Staaten auf der Weltbühne auf, die noch keine klare Ausrichtung besaßen. Kasachstan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan, Usbekistan - wohin würden sich diese neuen Staaten entwickeln? Nach der Loslösung von Moskau schlossen sie sich zunächst wieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) an, was den Wunsch nach Kontinuität erkennen ließ. Auf der anderen Seite bemühten sich die USA und europäische Staaten, teils in Konkurrenz zueinander, um Zugewinn eigenen Einflusses. Selbst China trat plötzlich als "global player" auf und baute seine Handelsbeziehungen zu den zentralasiatischen Staaten aus. Allen "Mitspielern" war klar, daß in dieser Phase des Umbruchs die Weichen für die Zukunft gestellt wurden.

Mit dem von den USA angeführten globalen Antiterrorkrieg nach den Anschlägen vom 11.09.2001 schienen sich die Amerikaner eine Zeitlang eine herausragende Vorteilsposition gesichert zu haben, und es gelang ihnen, in den zentralasiatischen Staaten eigene Militärstützpunkte aufzubauen. Die dienten zwar scheinbar "nur" dem Zweck, Krieg gegen Afghanistan und Irak zu führen, aber sie konnten sehr wohl als Brückenkopf betrachtet werden, der langfristig gegen Moskau und Peking gerichtet war.

Der Vorstoß der USA in den unmittelbaren Einflußbereich des Atomwaffenstaats Rußland und in die Peripherie der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China wurde erst in jüngerer Zeit etwas zurückgedrängt: Aus Usbekistan mußte die US-Luftwaffe wieder abziehen; die kirgisische Regierung verlangte für die Nutzung der Manas-Basis höhere Pachtgebühren; und die Ausweisung zweier Amerikaner aus Kirgistan vertiefte die diplomatische Verstimmung zwischen den beiden Staaten. Die Regierung des ressourcenreichen Staats Kasachstan kooperiert zwar eng mit den USA, hat aber ebenso deutlich Kontergewichte zum anfangs massiv wachsenden Einfluß Washingtons aufgebaut.

Mit der Schanghai Corporation Organisation (SCO) wurde ein Handels- und Militärbündnis zwischen Rußland, China, den zentralasiatischen Staaten und weiteren Akteuren gebildet, welches erklärtermaßen die Aufgabe besitzt, die amerikanischen und EU-europäischen Einflußversuche in der gesamten Region auszubremsen. Auch wenn gegenwärtig der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht und Zentralasien in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gerückt ist, wäre es ein Trugschluß anzunehmen, daß diese Großregion nicht weiterhin umkämpft wird. So haben Rußland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan als Mitglieder der Collective Security Treaty Organisation (CSTO) vom 24. bis 29. August 2006 nahe der kasachischen Hafenstadt Aktau das gemeinsame Militärmanöver Rubezh-2006 durchgeführt; CSTO-Neumitglied Usbekistan nahm als Beobachter teil. Der kanadische Wirtschaftsprofessor Michael Chossudovsky schrieb in einem Beitrag auf der Website GlobalResearch (24.8.2006), daß dieses Manöver als direkte Antwort auf US- amerikanische militärische Bedrohungen in der Region, einschließlich der geplanten Angriffe gegen Iran, gedacht war. Zeitgleich mit Rubezh- 2006 hätten China und Kasachstan unter Schirmherrschaft der SCO ebenfalls Militärmanöver in dem zentralasiatischen Land abgehalten.

Die Europäer präsentieren sich zwar in vielerlei Hinsicht als Verbündete der USA, aber es gibt auch sehr starke Interessen, die eine deutlich eigenständigere Hegemonialpolitik anstreben und betreiben. So hat die Europäische Union mit ihrer Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2000 ihren Weltmachtanspruch als Gegenpart zu den USA formuliert, und im Strategiedokument der EU zu Zentralasien vom Oktober 2002 werden die Lissaboner Vorgaben auf diese Weltregion zugespitzt. Am "Großen Spiel", wie es bereits im 19. Jahrhundert zwischen Rußland und Großbritannien um Einfluß im zentralasiatischen Raum ausgetragen wurde, sind heute weitere Mitstreiter beteiligt.

Vor diesem Hintergrund ist es für jeden politisch Interessierten unverzichtbar, über die tagesaktuelle Berichterstattung hinaus mehr über den geopolitischen Brennpunkt Zentralasien zu erfahren. Der ProMedia Verlag aus Wien hat dazu einen geeigneten Einstieg geliefert. Es geht in der Aufsatzsammlung "Zentralasien. 13. bis 20. Jahrhundert" um die Darstellung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung, wohingegen neuere Aspekte nur im letzten Kapitel "Zentralasien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion" von Uwe Halbach angesprochen werden.

In zehn Kapiteln, einem Vorwort und mit einer Zeittafel widmen sich acht anerkannte Expertinnen und Experten aus dem Wissenschaftsbetrieb Österreichs und Deutschlands den höchst unterschiedlichen Einflüssen auf Zentralasien, das im Laufe seiner Geschichte von iranisch-islamischen, türkisch-islamischen, mongolischen, chinesischen und russischen Kulturen überprägt wurde. Entsprechend dieser Vielfalt läßt sich Zentralasien heute keinem Kulturraum allein zuordnen, zudem bestehen deutliche kulturelle Unterschiede sowohl zwischen den zentralasiatischen Staaten als auch innerhalb derselben. Es ist nicht übertrieben, von einem jahrhundertealten Schmelztiegel der Völker, Sprachen und Religionen zu sprechen.

Da wundert es nicht, daß der bis heute nicht abgeschlossene Übergang vom Staatskapitalismus sowjetischer Couleur zu marktwirtschaftlichen Systemen teils mit gewaltsamen Konflikten ausgetragen wurde. Ein halbes Jahr nach der Auflösung der Sowjetunion, zwischen Mai und September 1992, brach in Tadschikistan ein Bürgerkrieg aus. Dessen letzte Phase endete 1996. Zudem wurde der kirgisische Präsident Askar Akajew im März 2005, nach vierzehn Jahren im Amt, gestürzt. Zwei Monate darauf schlugen Sicherheitskräfte in Usbekistan einen Aufstandsversuch blutig nieder.

Kasachstan hingegen war politisch stabil geblieben, obgleich in den neunziger Jahren eine massive Abwanderbewegung, nicht zuletzt unter der deutschstämmigen Bevölkerung, einsetzte. Präsident Nursultan Nasarbajew rief seine im Ausland lebenden Landsleute dazu auf, zurückzukehren und am nationalen Aufbau teilzuhaben. Die Verlegung der Hauptstadt nach Astana, wo dem wirtschaftlichen Aufschwung durch Umgestaltung der Innenstadt und zahlreiche Neubauten äußerer Ausdruck verliehen wurde, betonte den Wunsch nach Modernität. Kasachstan ist das wirtschaftliche Zugpferd unter den zentralasiatischen Staaten und sieht sich als regionale Führungsmacht.

Bei der Lektüre des ein oder anderen fachspezifisch trockenen Kapitels mag schon die Frage aufkommen, weshalb man sich dafür interessieren sollte. Dazu beispielhaft ein Zitat aus dem Kapitel "Die Sprachen Zentralasiens in Vergangenheit und Gegenwart" von Pavel B. Lurje:

Das phonetische System in Brahui ist ähnlich dem seiner indoarischen und iranischen Nachbarn (allerdings ohne alle alveoralen und manche retroflexe Phoneme, die typisch für die dravidischen Sprachen sind), wohingegen seine Morphologie agglutinierend ist: das Anhängen von Postfixen ist weitaus gebräuchlicher als die Verwendung von Präfixen oder Infixen.
(S. 35)

Sicherlich, das muß niemand wissen, der lediglich einen Einstieg in geschichtliche und gesellschaftliche Fragen zu Zentralasien erlangen will. Dennoch: Auf die Sprachentwicklung und andere, ähnlich spezifische kulturwissenschaftliche Erörterungen zu verzichten, bedeutete, eine Chance zur Erweiterung des eigenen Horizonts aus der Hand zu geben. Selbstverständlich wird niemand nach der Lektüre dieses Kapitels zum Sprachexperten für Zentralasien, es bleibt jedoch der tiefe Eindruck von der Geschichtsträchtigkeit dieser Region zurück. Somit erfüllt das vorliegende Buch genau den Zweck, den es verspricht: "Breite Informationen über den historischen Raum Zentralasien zu vermitteln" (S. 7).

Der Vorteil einer Aufsatzsammlung, wie sie der ProMedia Verlag mit seinem Buch "Zentralasien" vorgelegt hat, besteht in der Mannigfaltigkeit, wie hier an solch ein komplexes Thema herangegangen wird. Gleichzeitig birgt diese im Verlagsgeschäft nicht unübliche Form der Präsentation die Gefahr der Beliebigkeit. Ein Leser, der sich womöglich überhaupt noch nicht mit Zentralasien befaßt hat, wünscht sich einen roten Faden, der die Aufsätze miteinander verbindet und sie für ihn einordnet. Gut vorstellbar wäre beispielsweise, wenn die Herausgeber vor jedem Kapitel eine bewertende Einleitung geschrieben und den jeweiligen Stand der Forschung kommentiert hätten. Denkbar wäre auch ein jeweils vorweggeschickter Absatz, in dem eine Brücke von der historischen Abhandlung bis in die heutige Zeit geschlagen wird.

Im vorliegenden Fall entsteht hin und wieder der Eindruck, es bliebe beim Referieren um des Referierens willen. Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses wäre das überhaupt kein Problem, weil dort die Experten unter ihresgleichen sind, doch einer breiteren Leserschaft - und dazu muß selbst die Zielgruppe der Studierenden der Politik- oder Geschichtswissenschaft gerechnet werden - käme es sicherlich entgegen, ein wenig an die Hand genommen und sicherer durch die fachspezifischen Untiefen gelotst zu werden. Und auch wenn es womöglich dem verlegerischen Konzept widerspricht: ein Personenregister wäre eine dankenswerte Ergänzung gewesen.

Daß auf diese Form verzichtet wurde, tut dem Buch inhaltlich keinen Abbruch. "Zentralasien" ist schon deshalb zu empfehlen, weil es bisher kaum Lektüre über diese konfliktgeladene, von Großmachtinteressen belagerte Region gibt. Der ProMedia Verlag betritt mit seinem Band 13 der Edition Weltregionen gewissermaßen Neuland und setzt Maßstäbe, an denen sich andere werden messen lassen müssen. Mit dem neuen "selbstbewußten" Auftreten der Bundesrepublik Deutschland auf zahlreichen Kriegsschauplätzen der Welt und in vermeintlich schicksalhafter transatlantischer Treue wird es sicherlich nicht das letzte Buch im deutschprachigen Raum sein, das sich mit Zentralasien auseinandersetzt.


Bert Fragner, Andreas Kappeler (Hg.)
Zentralasien
13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft
Edition Weltregionen, Bd. 13
ProMedia Verlag, Wien 2006
ISBN-10: 3-85371-255-X
ISBN-13: 978-3-85371-255-9


Datum: 4.9.2006