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REZENSION/338: Anne O'Connor - The Blessed and the Damned (Folklore) (SB)


Anne O'Connor


The Blessed and the Damned

Sinful Women an Unbaptised Children in Irish Folklore



Kaum ein Land hat mehr dafür getan, seine Mythen und Volkslegenden zu bewahren und zu pflegen, als Irland. Hierfür gibt es zwei wichtige Gründe: die lange Zeit fehlende Industrialisierung - die Leinenfabriken und Werften Ulsters natürlich ausgenommen - und die "Keltische Renaissance" am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Bewegung, die selbst eine Reaktion auf die verheerende Kartoffelpest Mitte des 19. Jahrhunderts und die Dezimierung der gälischsprechenden Bevölkerung im Westen und Süden der Insel war, lieferte einen Teil der ideologischen Grundlage für den Osteraufstand 1916 in Dublin und den 1922 entstandenen Irischen Freistaat, der 1948 offiziell Republik wurde.

Waren es früher die Mönche und die Barden gewesen, welche die wichtigsten Überlieferungen auf der Insel wie die heldenhaften Epen über die Taten von Cúchulainn oder den Fianna entweder durch Niederschriften oder wiederholte Erzählungen am Leben gehalten hatten, so traten Mitte des 19. Jahrhunderts an deren Stelle moderne Literaten wie Sperenza - Oscar Wildes Mutter - und Lady Gregory, die, indem sie die einfachen Menschen aufsuchten, die wichtigsten Mythen und Sagen des irischen Volkes zusammentrugen und diese über Zeitschriftenaufsätze und Bücher einem Millionenpublikum zugänglich machten. Es kommt nicht von ungefähr, daß der überragende Gälischgelehrte Douglas Hyde, Mitbegründer sowohl der Gaelic League als auch des weltberühmten Abbey Theatre, erstes Staatsoberhaupt des unabhängigen Irlands wurde.

In die Fußstapfen Hydes, zu dessen wichtigsten Werken "Love Songs of Connaught", "The Story of Early Irish Literature", "Literary History of Ireland" und "Legends of Saints and Sinners" gehören, tritt nun Anne O'Connor mit ihrem Buch "The Blessed and the Damned: Sinful Women and Unbaptised Children in Irish Folklore". Die promovierte Volkskundlerin, die heute beim staatlichen Rundfunk Raidio Telefís Eireann (RTß) arbeitet, befaßt sich seit mehr als zwanzig Jahren eingehend mit den Themen böse Frauen, Kindermord, ungetaufte Kinder und Abtreibung in der irischen Folklore. Das vorliegende Buch ist folglich sozusagen das Destillat der Erkenntnisse, die O'Connor in dieser Zeit gewonnen hat. Obwohl eher an ein akademisches Fachpublikum gerichtet, ist "The Blessed and the Damned" nicht nur seines Themas wegen ungemein spannend. O'Connor versteht es, Verknüpfungen zur modernen Populärunterhaltung herzustellen, wie beispielsweise der Querverweis auf die ebenso beliebte wie von den Kritikern gefeierte Fernsehserie "Buffy, die Vampirjägerin" zeigt. Hinzu kommt, daß das Thema Sexualmoral auch in den letzten Jahren in Irland seine große gesellschaftliche und politische Relevanz behalten hat. Dazu schreibt O'Connor:

Through the telling of certain stories, and through the remembering of certain events and happenings, people, consciously or unconsciously, create or construct meaning in their lives, and folklore, in its exploration of oral communications between people, seeks to understand und intepret that meaning.

Echoes of this legacy survive into the present day, where in the 1980s the Ann Lovett case and the Kerry Babies case raised the spectres of abortion and child murder for Irish society, as indeed the six thousand women seeking abortion every year in Britain has highlighted that other anomaly of Catholic Ireland, that sexual sin is still being hidden and that shame perpetuates in this regard. Ann Lovett, aged fifteen, died, along with her newborn son, on 30th January, 1984, after she gave birth at the Our Lady of Lourdes Grotto in the grounds of St Mary's Church in Granard, Co. Longford. The Kerry Babies case concerned Joanne Hayes, a woman who was brought to trial for allegedly killing her baby or babies; the folk belief evidently still prevailed that multiple births reflect multiple fathers. Much has been written about the case which constituted a latter-day witchhunt.
(S. 14f.)

[Durch die Erzählung bestimmter Geschichten und durch das Erinnern an bestimmte Ereignisse und Vorfälle geben und verleihen die Menschen, ob bewußt oder unbewußt, ihrem Leben Bedeutung, und die Volkskunde versucht durch die Erforschung mündlicher, zwischenmenschlicher Kommunikation diese Bedeutung zu verstehen und zu interpretieren.

Anklänge an dieses Erbe bestehen bis in den heutigen Tag, als in den achtziger Jahren der Fall Anne Lovett und der Fall der Kerry Babies der irischen Gesellschaft das Gespenst der Abtreibung und des Kindsmordes vorführten, wie auch die Tatsache, daß jährlich sechstausend Frauen zwecks Abtreibung nach Großbritannien fahren, auf eine andere Anomalie des katholischen Irlands, daß nämlich sexuelle Sünde weiterhin verborgen gehalten wird und daß in diesem Zusammenhang die Schande weiterhin fortlebt, ein Schlaglicht wirft. Die fünfzehnjährige Ann Lovett starb zusammen mit ihrem neugeborenen Sohn am 30. Januar 1984, nachdem sie in der Our Lady of Lourdes Grotto auf dem Gelände der St.-Maria-Kirche in Granard in der Grafschaft Longford entbunden hatte. Im Mittelpunkt des Falles der Kerry Babies stand Joanna Hayes, eine Frau, der man wegen der Ermordung ihres Säuglings beziehungsweise ihrer Säuglinge den Prozeß gemacht hat; offenbar hielt sich der Volksglaube, daß mehrfache Geburten auf mehrere Väter zurückzuführen seien. Über diesen Fall, der eine moderne Hexenjagd darstellte, ist viel geschrieben worden.]
(Übersetzung des MA-Verlages)

O'Connor geht der Frage nach, welches die Ursprünge der verschiedenen Überlieferungen in Irland über Kindsmörderinnen oder zügellose Frauen, die später als Quälgeister ihr Unwesen treiben, sind. Entgegen landläufiger Meinung, daß diese Geschichten aus vorchristlicher Zeit stammen, zeigt die Autorin unter anderem durch Vergleiche mit ähnlichen Legendenkomplexen in Skandinavien, Großbritannien und Frankreich, daß die irischen Geschichten von Petty-Coat Loose, Moll Shaughnessy, Spríd na Bearnßn, und wie sie alle heißen, eng mit der katholischen Tradition verbunden sind und deutliche gegenreformistische Merkmale aufweisen. Nicht umsonst spielt in den meisten dieser Geschichten der Priester, der die Seele der Frau, je nachdem, ob sie ihre Sünde bereut oder nicht, in den Himmel oder in die Hölle schickt, die Schlüsselrolle.

Von großer Bedeutung war den Katholiken lange Zeit die Frage, wo die Seelen ungetaufter Kinder - ob nun Frühgeburten oder ermordete Säuglinge, sei dahingestellt - hinkamen. Zur Lösung dieses schwierigen theologischen Rätsels hat die Kirche in Rom den Limbus, jenes Zwischenreich, das man auf gälisch auch "dorchadas gan phian", "Dunkelheit ohne Schmerz", nennt, erfunden. Die irischen Vorstellungen von den umherwandernden Seelen ungetaufter Kinder finden ihre Entsprechung im katholischen Rheinland mit den sogenannten Irrlichtern. O'Connor weist ebenfalls nach, wie die strenge Sittenmoral, die nach dem Massensterben im Zuge der Kartoffelpest in Irland Einzug hielt und bis vor wenigen Jahren überlebt hat, ihren Eingang in die Folklore nicht nur der Insel, sondern auch der irischen Einwanderer in der Neuen Welt wie zum Beispiel in Neufundland fand.

Nichtsdestotrotz finden sich im Buch immer wieder Hinweise auf vorchristliche Vorstellungen, die man eher mit den irischen Geschichten von den Feenhügeln, Banshees, Leprechauns u.s.w. verbindet. Ein gutes Beispiel ist der Begriff "An Saol Eile", die gälische Bezeichnung für das Jenseits. Dieser Begriff wird mit "Otherworld" ins Englische übersetzt, was aber die Sache nicht ganz zu treffen scheint, denn "An Saol Eile" heißt wörtlich "das andere Leben". So gesehen erwartete die Menschen auf der grünen Insel vor langer Zeit - fadó, fadó - nicht unbedingt der "Tod", wie wir ihn uns vorstellen mögen, sondern eine andere Form von Leben. Das erklärt den Hang der Iren zur Idee, daß die Verstorbenen immer noch unter uns weilen und nicht sehr fern sind. Folglich wundert es nicht, daß wir einem Iren, Bram Stoker, den berühmtesten Untoten von allen, die Figur des Grafen Dracula, zu verdanken haben.


Anne O'Connor
The Blessed and the Damned
Sinful Women an Unbaptised Children in Irish Folklore
Peter Lang Verlag, Bern, 2006
260 Seiten
ISBN: 3-03910-541-8


12.07.2006