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REZENSION/326: Riverbend - Bagdad Burning (Irakisches Tagebuch) (SB)


Riverbend

Bagdad Burning

Ein Tagebuch



Seit dem Überfall des Iraks auf Kuwait im August 1990 ist das Zweistromland leider zu einer festen Größe in der westlichen Berichterstattung geworden. Der erste Golfkrieg, das jahrelange Sanktionsregime einschließlich der sogenannten Flugverbotszonen, der Einmarsch angloamerikanischer Truppen im März 2003 und der seitdem anhaltende Aufstand gegen die Besatzungsmächte und ihre Handlanger in Bagdad, über all das hat man in den letzten Jahren unzählige Zeitungsartikel gelesen sowie Fersehnachrichten und -dokumentationen gesehen. Doch so schrecklich, wie die Meldungen über Bombenanschläge, Attentate und Entführungen sich anhören oder im Fernsehen wirken, wir kommen niemals aus der Position des distanzierten Betrachters heraus. Die Toten und Verletzten auf der Straße, im Kranken- und Leichenschauhaus sowie die völlig verstörten Freunde und Verwandten bleiben für uns anonym, werden von uns zu den unzähligen Opfern instabiler Verhältnisse in der Dritten Welt gezählt und innerlich abgehakt.

Dank verschiedener Iraker, die im Internet Weblogs schreiben und regelmäßig aktualisieren, gibt es inzwischen jedoch die Möglichkeit für die Menschen in der übrigen Welt, sich über die Verhältnisse in dem kriegsgeschüttelten Land aus Sicht der Betroffenen zu informieren. Nach Meinung nicht nur der Schattenblick-Redaktion gehört Baghdad Burning, das seine Verfasserin ein "Girl-Blog aus dem Irak" [1] nennt, zu den hervorstechenden Exemplaren dieses neuen Genres. Seit August 2003 unterhält die junge Bewohnerin der irakischen Hauptstadt unter dem Pseudonym Riverbend ihr auf englisch verfaßtes Weblog. Mit ihren alle paar Tage erscheinenden Eintragungen über das Leben der einfachen Menschen im irakischen Nachkriegschaos hat die heute 26jährige Computerspezialistin rund um die Welt viele Fans gewonnen. In einem Artikel, der am 16. Januar 2005 unter der Überschrift "Fallujah: City Without a Future?" in der linken US-Zeitschrift Mother Jones erschien, stellte beispielsweise Michael Schwartz, Soziologieprofessor an der State University of New York, fest, daß Baghdad Burning "für alle, die sich für den Irak interessieren, zur Pflichtlektüre geworden" sei.

Anfang 2005 ist eine erste Sammlung der Baghdad-Burning-Eintragungen in Buchform in den USA von der New Yorker Feminist Press und in Großbritannien vom Verlag Marion Boyars veröffentlicht worden. Im März desselben Jahres lief Baghdad Burning auch als Theaterstück einige Zeit am New Yorker Broadway. Ende 2005 wurde Riverbend für ihr Weblog mit dem Ulysse-Preis für Reportage der paneuropäischen Kulturzeitschrift Lettre ausgezeichnet. Im vergangenen März wurde Baghdad Burning in Großbritannien für den mit 30.000 Pfund dotierten Samuel Johnson Prize für Gegenwartssachbücher nominiert. Am 14. Juni soll der Gewinner dieses renommierten Preises bekanntgegeben werden. Seit kurzem liegt "Bagdad Burning", die vom österreichischen Residenz Verlag herausgegebene, sehr gelungene deutsche Übersetzung von Eva Bonné, vor. Auf dem rückseitigen Buchdeckel findet man mehrere Empfehlungen, darunter folgende der Hollywood-Schauspielerin und engagierten Friedensaktivistin Susan Sarandon: "Jeder, den der Irak Krieg beschäftigt, muss dieses Buch lesen." Ohne sich zu sehr von dieser etwas unglücklichen Formulierung stören zu lassen - schließlich sollte niemand irgend etwas tun "müssen" -, läßt sich die Einschätzung Sarandons hinsichtlich der Wichtigkeit dieses Buchs nicht im geringsten bestreiten. Es gibt wahrscheinlich keine andere Veröffentlichung, die einem Außenstehenden das, was die Iraker über die drastischen Veränderungen der letzten Jahre in ihrem Land empfinden, derart nahe bringt.

Bei all den Hiobsbotschaften aus dem Irak, die uns tagtäglich erreichen, könnte man annehmen, Bagdad Burning wäre eine einzige Litanei, eine deprimierende Wiederholung der Schreckensnachrichten, deren Details man verständlicherweise lieber nicht erfahren möchte. Nichts wäre verkehrter als diese Annahme. Natürlich macht Riverbend von ihrer Empörung und ihrer Enttäuschung über die deprimierende Rückentwicklung, die ihr einst modernes Land mit seiner zuletzt weltlich ausgerichteten Gesellschaft erfaßt hat, keinen Hehl. Doch der überragende Eindruck, den sie vermittelt, ist der des Mitgefühls und des schwarzen Humors, ohne den das Leben für die meisten Iraker vermutlich längst unerträglich geworden wäre. Hier ein Beispiel, wie in der Eintragung vom 9. September 2003 Riverbend eine Rede von US- Präsident George W. Bush persifliert:

Mitbürger, Freunde, Amerikaner, hört mich an ... gebt mir eure Söhne und Töchter, und eure Steuergelder ... damit wir im Namen der amerikanischen nationalen Sicherheit in den Krieg ziehen können (auf der ganzen Welt sind die Menschen bereit, dafür zu sterben) ... damit ich vertuschen kann, bei eurem Schutz versagt zu haben ... damit ich das Vermögen der Familien Bush und Cheney auf eure Kosten und auf die des irakischen Volkes mehren kann. Ich weiß nicht, was ich tue, aber wenn ihr nur genug Geld dafür bezahlt, werdet ihr glauben wollen, ich wüßte es ...
(S. 76)

In Bagdad Burning beschreibt Riverbend ihr Leben zusammen mit den Eltern und dem Bruder E. in einer Wohnung in einem bürgerlichen Viertel der irakischen Hauptstadt. Sie führen genauso das Leben einer städtischen Durchschnittsfamilie, wie man es hierzulande kennt, nur unter weitaus schwierigeren Bedingungen - Stromausfälle, Benzinknappheit, Wassermangel, schleppender Wiederaufbau, chaotische politische Verhältnisse, religiöser Fundamentalismus, Bürgerkrieg. Es sind jedenfalls keine Beduinen im Zelt mitten in der Wüste. Sie schauen genauso wie wir im Fernsehen die grausigen Nachrichten vom jüngsten Ereignis im Irak an, nur daß dieses im eigenen Land, in der eigenen Stadt, gar in der eigenen Nachbarschaft geschieht:

Die Kriegsberichterstattung der verschiedenen Sender zu sehen, ist nichts im Vergleich zum Leben mittendrin. In den Sieben-Uhr- Nachrichten von einer 'Autobombe in Bagdad' zu hören ist nichts im Vergleich dazu, auf der Straße zu stehen, die passierenden Fahrzeuge argwöhnisch zu beobachten und sich zu fragen, ob eines davon im nächsten Moment in Flammen aufgehen und wie Granatsplitter in die Luft fliegen wird. Die Kontrollpunkte auf Al-Dschasira, CNN und BBC zu sehen, ist nichts dagegen, vorsichtig auf sie zuzufahren, langsam abzubremsen und darum zu beten, daß der Soldat da vorn einen nicht für ausgesprochen verdächtig hält und ... oder sein Gewehr versehentlich losgeht.
(S. 125)

Riverbend liest viele englischsprachige Zeitungen und Kommentatoren, von denen es ihr der linksliberale Londoner Guardian, Juan Cole, Geschichtsprofessor an der Universität von Michigan mit seinem angesehenen Weblog "Informed Comment", und Danny Schechter von der US- Internetzeitschrift MediaChannel besonders angetan zu haben scheinen. Insgesamt ist sie aufgrund ihrer Bildung und der Unterstützung ihrer Eltern in der westlichen Kultur sehr bewandert, hat viele Bücher gelesen und zitiert an einer Stelle sogar ein Lied von Morrissey, dem ehemaligen Sänger und Textschreiber der britischen Indie-Rockgruppe The Smiths, dessen künstlerischer Stern derzeit wieder hell leuchtet.

Mit Bestürzung registriert und kommentiert Riverbend den Vormarsch der religiösen Heilsprediger, die sie hämisch die "Möchtegern-Mullahs" nennt und die mit Hilfe der USA dafür gesorgt haben, daß anstelle des einst für die arabische Welt im progressiven Sinne vorbildlichen irakischen Zivilrechts die Scharia gesetzt worden ist. Dem rückständigen Frauenbild dieser Leute ist es zu verdanken, daß Riverbend wenige Wochen nach dem Sturz Saddam Husseins ihre Stelle als Computerfachfrau verlor. Angesichts dieser schmerzhaften Erfahrung erteilt die säkulare Muslimin denjenigen Scharfmachern, welche einen "Kampf der Kulturen" zwischen McWorld und Kalifat beschwören, eine deutliche Absage:

Eine Regierung, die sich ausschließlich auf die Lehren des Islam beruft, würde den Frauen einige unverhandelbare Ansprüche sichern, darunter das Recht zu erben, das Recht auf Bildung, das Recht zu arbeiten und Geld zu verdienen, das Recht, sich einen Ehemann selbst zu wählen und das Recht auf Scheidung. Natürlich gäbe es Kleidungsvorschriften und andere Einschränkungen.
Eine islamische Regierung funktioniert deswegen nicht, weil die Verantwortlichen in der Regel bestimmte Gesetze und Regeln einführen, die weniger mit dem Islam als vielmehr mit gewissen chauvinistischen Vorstellungen zu tun haben, die im Namen des Islam vorgetragen werden - wie im Iran und in Saudi-Arabien.
(S. 83f.)

Auch George W. Bushs, Dick Cheneys und Donald Rumsfelds "globalen Antiterrorkrieg" hält Riverbend für einen plumpen Betrug:

Im Irak gibt es Terroristen. Das stimmt. Seit der Besatzung tauchen sie zu Hunderten, zu Tausenden hier auf. Sie sickern aus den Nachbarländern ein, über Grenzen, die die 'Koalition der Willigen' nicht sichern wollte und die die irakische Armee nicht sichern durfte. Einige dieser Terroristen sitzen jetzt sogar im Regierungsrat. Die Daawa-Partei ist für einige der schlimmsten Bombenanschläge im Irak und anderswo in der Region verantwortlich.
Ja. Ich gebe Amerika die Schuld. Früher hatten wir hier keine Al- Kaida, nicht einmal Verbindungen dazu. Ansar Al-Islam steht Al- Kaida angeblich nahe, aber die haben im nördlichen Territorium operiert, mit dem Wissen und dem Segen der beiden Kurdenführer.
(S. 73f.)
Die führenden Köpfe des weltweiten Terrorismus scheinen also nun Osama Bin Laden, Aimen Al-Dhawahiri und Abu Musab Al-Zarkawi zu sein. Hier ist was zum Nachdenken - Osama stammt aus Saudi-Arabien, Al-Dhawahiri ist Ägypter und Al-Zarkawi Jordanier. Wie heißen die treuesten Alliierten der Amerikaner in der Region? Mal sehen ... Habt ihr auf Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten getippt?! Sehr gut! Ihr habt eine Reise nach ... Falludscha gewonnen!!
(S. 324f.)

Am bissigsten ist Riverbend, wenn sie sich über die Eigenheiten der opportunistischen irakischen Politiker und Kleriker, die sich mit der Besatzungs- und Hegemonialmacht USA arrangiert haben und die deshalb über das Geschick des Landes mitreden dürfen, lustig macht. Achmad Chalabi, der die Neokonservativen im Pentagon und Weißen Haus mit gefälschten Informationen über die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins versorgt hat, bezeichnet sie als einen "Kriminellen" und einen "Söldner". Den früheren Premierminister Ayad Allawi hält sie wegen seiner nachweislichen Kontakte zur CIA und zum MI6 für ein "Anhängsel Amerikas und Großbritanniens". Vor dem unberechenbaren Schiitenführer Muqtada Al-Sadr und dessen aus arbeitslosen Freiwilligen bestehender "Mehdi-Armee" hat sie große Angst. Auch der im Westen als gemäßigt geltende, allseits bewunderte, geistliche Anführer der Schiiten im Irak, Ali Al-Sistani, entkommt nicht den kritischen Blicken Riverbends, die das Untertauchen des ursprünglich im Iran geborenen, alternden Großajatollahs während der Angriffe der US-Streitkräfte auf die heiligen Pilgerstädte Südiraks im August 2004 mit folgender zynischer Bemerkung belohnt:

Praktischerweise wurde Al-Sistani nach London ausgeflogen. Der Zeitpunkt seiner 'Erkrankung' hätte günstiger nicht liegen können, wenn Powell et al. ihn persönlich ausgesucht hätten. Während alle darauf gewartet haben, dass er die Bombardierung und das Töten von Schiiten in Nadschaf und anderso verurteilt, fängt er sich irgendetwas ein und wird zu Untersuchungen nach London gekarrt. So muß er sich zur Lage nicht äußern. Schiiten überall sind über sein Schweigen enttäuscht. Sie warten auf eine Fatwa oder Verurteilung - die wird aber kaum kommen, solange Al-Sistani von englischen Krankenschwestern aufgepäppelt wird.
(S. 343)

Bei allen, was die Iraker in den letzten Jahren durchmachen mußten, wäre das letzte, was sie gebrauchen könnten, wenn wir uns im Westen von dem von uns mitverursachten Schlamassel im Zweistromland abwendeten und die Menschen dort ihrem Schicksal überließen. Vor diesem Hintergrund gibt es praktisch keine bessere - sowohl was die Eindringlichkeit wie auch den Witz betrifft - Lektüre als Riverbends Bagdad Burning. Da das vorliegende Buch nur die Zeit von August 2003 bis Mitte September 2004 abdeckt, kann man hoffen, daß der Residenz Verlag die bisher nur im Internet veröffentlichten Weblog-Eintragungen bald in gedruckter Form auf deutsch herausbringt.

Fußnote: [1] Baghdad Burning ist unter http://riverbendblog.blogspot.com zu lesen.


Riverbend
Bagdad Burning
Ein Tagebuch
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Residenz Verlag, St. Pölten & Salzburg, 2006
373 Seiten
ISBN: 3-7017-3013-X


17.05.2006