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REZENSION/276: Worldwatch Institute, Hg. - Zur Lage der Welt 2005 (SB)


Worldwatch Institute, Herausgeber


Zur Lage der Welt 2005

Globale Sicherheit neu denken



Nach der Zerschlagung der Sowjetunion und dem Auseinanderbrechen des Warschauer Pakts hatte die Chance zur Verkleinerung oder gar Auflösung der NATO bestanden, da deren vorgeblicher Sinn und Zweck in der Verteidigung der westlichen Staatengemeinschaft bestand. Nun war der jahrzehntelang zum Hauptgegner hochstilisierte Ostblock fundamental geschwächt. Was aus der Sicht des Normalbürgers eine freudige Entwicklung war, stellte sich in den Augen der Militärs als bedrohlicher Mangel dar, der dringend behoben werden mußte, wurde doch mit dem Ende des Kalten Kriegs die eigene Existenzberechtigung in Frage gestellt. Die Lösung dieses Legitimationsproblems ließ nicht lange auf sich warten, der frühere US-Präsident George Bush rief kurzerhand den Weltordnungskrieg aus.

Die NATO und die nationalen westlichen Militärapparate hatten sich ein neues Feindbild geschaffen, das mit Begriffen wie "Schurkenstaat", "gescheiterter Staat" oder "internationaler Terrorismus", später "Achse des Bösen" und "Vorposten der Tyrannei", belegt wurde. Heute spricht niemand mehr von Abrüstung. Im Gegenteil, die Anschläge des 11. September 2001 haben eine neue Ära des Weltordnungskriegs eingeläutet und diese Polarisierung, die von weiteren historischen Momenten wie den Anschlägen in Madrid im März 2004 und unlängst im Juli 2005 in London genährt wurden, weiter vorangetrieben, als es je für möglich gehalten worden war.

Ob Schurkenstaat oder Terrorismus, bedroht wird immer die Sicherheit. Die Sicherheit des Einzelnen, einer Gesellschaft oder allgemein der "westlichen Lebensweise". In der evangelikalen Dichotomie eines George W. Bush entspricht Sicherheit dem Guten und Terrorismus dem Bösen - und doch schließen sie einander nicht aus, sondern sind wie die zwei aufeinanderzulaufenden Schneiden eines Schwerts. Dieses hängt nun über den gesenkten Häuptern der Weltbevölkerung und verlangt ihr totale Unterordnung ab.

Das vorliegende Buch "Zur Lage der Welt 2005. Globale Sicherheit neu denken" ist - entgegen der erklärten Intention der Herausgeber - wie ein Schleifstein, der in der lenkenden Hand der Herrschenden dazu beiträgt, daß der blanke Stahl nie abstumpft. Wenn in mit Politikberatung befaßten Institutionen wie dem Worldwatch Institute, der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch der Sicherheitsbegriff dem eigenen Anspruch nach "neu gedacht" wird, bedeutet das, daß er auf Bereiche ausgedehnt werden soll, auf die er bislang nicht angewendet wurde. Im logischen Umkehrschluß wird damit auch das Pendant, der Terrorismusbegriff, neu gedacht und erweitert. Aber was Terrorismus ist, hängt nicht zuletzt von demjenigen ab, der die Definitionshoheit innehat oder, um mit den Worten des bekannten US-amerikanischen Gesellschaftskritikers Noam Chomsky zu sprechen: "Wie die anderen Formen der Gewalt ist auch Terrorismus in erster Linie eine Waffe der Starken" (Junge Welt, 3.1.2002, S. 11).

In diesem Buch geht es um Sicherheit im umfassendsten Sinne. Die Abbildung auf dem Einband trifft diesen Anspruch sehr genau: Eine Erdkugel, aus dem All betrachtet, eingefaßt von einem quaderförmigen Gitternetz, das dem Betrachter sogleich vermittelt: Kein Ort der Erde, der sich dem Blick der Sicherheitsanalytiker entzöge, kein Entrinnen von den zivilgesellschaftlichen Spähtrupps der Weltinnenpolitik. Bezeichnend und von großer symbolischer Aussagekraft, daß auf der besagten Erdkugel der afrikanische Kontinent sowie die arabische Halbinsel zu sehen sind, Europa hinter Wolken Deckung findet, aber daß von der mit Abstand größten Militärmacht der Welt, den USA, die in der Vergangenheit bewiesen hat, daß sie den Einsatz ultimativer Waffen nicht scheut und in den letzten zehn Jahren unter eklatanter Verletzung der Genfer Konventionen drei Angriffskriege geführt hat, daß von eben dieser "Supermacht" kein Zipfelchen zu sehen ist - als ob damit a priori ausgeschlossen werden sollte, daß diejenigen, die unter dem Banner des Antiterrorkampfs angetreten sind, nicht wesentlich für Terror in der Welt verantwortlich sein können.

Ob Zufall oder nicht, der mit Hilfe jenes Gitternetzes zum Ausdruck gebrachte globale Verfügungsanspruch spiegelt treffend die grundsätzlich herrschaftskonforme Sichtweise der Autorinnen und Autoren dieses Buchs wider. Ungeachtet der unterschiedlichen Tiefenschärfe und Weitsicht, mit der sie das Thema Sicherheit behandeln, wird in den meisten Einzelbeiträgen die globale Sicherheit nicht etwa dadurch gefährdet gesehen, daß eine Handvoll Staaten ein gewaltiges Arsenal an Massenvernichtungswaffen aufgehäuft hat, sondern darin, daß die Vormachtstellung weniger Staaten von anderen in Frage gestellt werden könnte.

In ihrem Vorwort zur deutschen Ausgabe von "Zur Lage der Welt 2005" bemühen sich Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, und Klaus Milke, stellvertretender Vorsitzender von Germanwatch, unter der Überschrift "Sicherheit in der einen Welt" um einen differenzierten Sicherheitsbegriff. Sie führen aus, daß die Frage, was unter Sicherheit zu verstehen sei, der amerikanische Verteidigungsminister anders beantworte als der indische Reisbauer, die afrikanische Marktfrau oder der muslimische Jugendliche in Europa, und sie ziehen daraus den Schluß, daß "wir nicht den Fehler machen" dürfen, "Sicherheit exklusiv als Sicherheit der reichen Welt zu definieren" (S. 10). Zudem sprechen sie sich gegen eine rein militärische Definition des Begriffs aus, da dies den vielfältigen Ursachen, die zu gewaltsamen Konflikten führten, nicht gerecht werde.

Mit ihrer Einschätzung, die durchaus einen wichtigen Aspekt des Sicherheitsbegriffs anspricht, übersehen die Autoren allerdings, daß der Sicherheitsbegriff an sich eine Abstraktion darstellt und Ausdruck einer distanzierten Sichtweise ist, die den potentiellen Zugriff auf das Objekt oder Subjekt der Betrachtung bereits enthält und rechtfertigen soll. Um beim obigen Vergleich zu bleiben: Der amerikanische Verteidigungsminister und die Nomenklatura des Weißen Hauses verwenden den Begriff "Sicherheit" geradezu exzessiv, weil er für sie nützlich ist und sie damit ihr Hegemoniestreben abstützen wollen. Der indische Reisbauer hingegen sorgt sich keineswegs an erster Stelle um Sicherheit, sondern vielmehr um seine Ernte, das Wetter oder den Preis, den er mit seiner Ware erzielen kann. Erst durch die Abstraktion wird seinen konkreten Überlebensfragen der Sicherheitsbegriff übergeworfen - und damit knüpfen die Analytiker nahtlos an den Sicherheitsbegriff administrativer Funktionsträger an, zu denen selbstverständlich auch der US-Verteidigungsminister zu rechnen ist. Sich der gleichen Sichtweise zu bedienen wie er bedeutet somit, den Herrschaftsanspruch weiterzutragen und nicht etwa, ihn in Frage zu stellen. Hier schließt sich der Kreis erneut zum Einband mit der aus dem Weltall aufgenommenen Erdkugel, in der es keinen Freiraum geben darf, Freiraum verstanden als ein Platz, der frei von jeglicher überregionalen administrativen Regulation wäre.

Damit sollte deutlich geworden sein, daß der in dem vorliegenden Buch propagierte Ansatz, der zweifelsohne sehr bemüht und faktenreich belegt den Sicherheitsbegriff zu Aspekten wie Außenpolitik, Umwelt, Nahrungsmittel, Infektionskrankheiten, Kernenergie, Wasser, Erdöl und andere Ressourcen ausdeutet, stets in seinem Ausgangspunkt münden muß, der Qualifizierung der Verfügungsgewalt.

Es ist gewiß nicht ungewöhnlich, wenn der Verfasser eines Vorworts als stilistisches Mittel von "wir" spricht. Doch wenn in diesem Fall der ehemalige Präsident der UdSSR und heutige Vorsitzende des Internationalen Grünen Kreuzes, Michael S. Gorbatschow, sich durch das "Wir" mit den Lesern auf eine Ebene stellt und Interessengleichheit behauptet, dann wirkt das jovial, vereinnehmend und weckt Widerspruch. Dabei ist Gorbatschows "Wir" keine Formalität, sondern Inhalt, wie die folgende elitäre Erklärung aus seinem Vorwort verdeutlicht:

In vielen Regionen untergräbt die Armut weiterhin den Fortschritt. (S. 7)

Armut wird hier zur Ursache für gebremsten Fortschritt verkehrt, was Armut als Folge von Fortschritt ausschließt. Nun ist Fortschritt ein recht vager und vielseitig interpretierbarer Begriff, aber da er in einen Sinnzusammenhang mit Armut gestellt wird, liegt der Leser sicherlich nicht falsch, wenn er davon ausgeht, daß Gorbatschow im wesentlichen "wirtschaftlichen Fortschritt" meint. Die Perversion der obigen Aussage offenbart sich, wenn statt wirtschaftlicher Fortschritt von Reichtum gesprochen wird. Dann wäre der Satz wie folgt zu lesen: "In vielen Regionen untergräbt die Armut weiterhin den Reichtum." Als ehemaliger Vorsitzender der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sollten Gorbatschow die Stützen der Reichtumsentwicklung - Abschöpfen des vom Proletariat erarbeiteten Mehrwerts, Akkumulation des Kapitals - vertraut sein. Kurzum: Der Reichtum weniger gründet sich auf die Armut vieler. Oder noch zugespitzter: Vor dem Mangel kommt der Verfügungsanspruch, das Eigentum - nicht umgekehrt.

Deshalb wirkt es anmaßend, wenn Gorbatschow, der sicherlich den arrivierten Eliten seines Landes zuzurechnen ist, arm und reich mittels des "Wir" zu übertünchen versucht - ein gesellschaftlicher Widerspruch, der an anderer Stelle des Buchs sehr wohl aufgegriffen wird. So stellt Michael Renner, Mitarbeiter des Worldwatch Institutes, fest:

Das gegenwärtige weltweite System des Handels und Investments dient vornehmlich den Interessen der ungefähr 20 % der Menschheit, die 80 % der Ressourcen der Erde für sich beanspruchen. Es marginalisiert zwangsläufig die Armen, verschärft soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten und schwächt die Fähigkeit des Staates, die dringendsten Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen und mit den Herausforderungen fertig zu werden. (S. 62)

Hiermit stellt Renner Gorbatschows Aussage wieder vom Kopf auf die Füße. Darüber hinaus warnt er in seinem Aufsatz "Für eine Neudefinition von Sicherheit" vor dem Militärischen als Lösung für das Problem der "failed States", und er schreibt über sie: "Lange, bevor solche Erscheinungen überhaupt auf den Radarschirmen der nördlichen Welt auftauchten, haben diese Staaten schon vor ihrem eigenen Volk versagt." (S. 62) Darüber hinaus hegt er Zweifel an militärischer Intervention als Antwort auf Unsicherheiten und begründet seine Ansicht am Beispiel der Proliferation, zu der er schreibt: Denn "vermutlich wären die intervenierenden Staaten diejenigen, die bereits Atomwaffen besitzen und deshalb ein enges Interesse daran haben, allen anderen Regierungen einen solchen Besitz zu verweigern" (S. 74). Renner resümiert zutreffend, daß "auf einer grundsätzlicheren Ebene" die Frage bleibt, "ob militärische Intervention jemals ein Heilmittel gegen Gewalt und die ihr zugrundeliegenden Bedingungen sein kann" (S. 74/75).

Neben politischen Themen wie "die Außen- und Sicherheitspolitik der EU" (Anja Köhne), die "Entmilitarisierung von Nachkriegsgesellschaften" (Michael Renner) und "Wie man die Grundlagen für den Frieden schafft" (Hilary French, Gary Gardner & Erik Assadourian) sowie zehn "Sicherheitslink" genannten Kurzkapiteln zu Themen wie "Umweltflüchtlinge", "Nukleare Weiterverbreitung" oder "Chemische Waffen" werden auch Probleme der Nahrungsmittelsicherheit, Wasserversorgung und Ausbreitung von Infektionskrankheiten behandelt.

Letztgenanntem ist mit 25 Seiten eines der längeren Kapitel gewidmet. Darin macht Dennis Pirages, Professor für internationale Umweltpolitik an der Universität von Maryland, darauf aufmerksam, daß wir in einer "epidemologisch getrennten Welt" (S. 125) leben. In Afrika sei "die Hälfte aller Todesfälle auf Infektions- und parasitäre Krankheiten zurückzuführen, in Europa nur 2 %" (S. 126). Viele Menschen litten an Infektionskrankheiten, die stark mit Unter- oder Mangelernährung verbunden seien. Dabei zögen die Krankheiten, die vor allem arme Menschen befielen, nur wenige Forschungsgelder an, da für Pharmafirmen die Entwicklung von Medikamenten gegen Krankheiten, die vor allem in armen Ländern vorherrschten, kein Geschäft sei.

Solche Gegenüberstellungen sind zwar nicht neu, aber sie in dieser konzentrierten Form lesen zu können, ist sicherlich einer der stärkeren Aspekte des Buchs. Gerade deshalb fällt es um so mehr auf, daß der sich um eine detaillierte Darstellung des Themenkomplexes Gesundheit und Sicherheit bemühte Pirages einen wichtigen Aspekt in diesem Zusammenhang nahezu vollständig unterschlägt, den "Brain- drain", die Abwanderung medizinischer Fachkräfte aus armen Ländern. Lediglich in einem Nebensatz erwähnt der Autor, daß in den Entwicklungsländern viele der Gesundheitsarbeiter selbst an AIDS sterben "oder emigrieren" (S. 140).

Mit dieser kurzen Anmerkung wird er den verheerenden Auswirkungen des Brain-drains auf die Gesundheitssysteme nicht gerecht. Ärzte und Pflegepersonal in großer Zahl vor allem aus dem anglophonen Afrika suchen sich Arbeit in den USA, Kanada, Australien und nicht zuletzt Britannien; teils werden die Fachkräfte regelrecht abgeworben. Die britische Regierung vernachlässigt bis heute die eigene Ausbildung von Krankenschwestern, da sie sich darauf verlassen kann, daß genügend ausgebildete Fachkräfte aus den Entwicklungsländern einwandern und die breiten Lücken im Gesundheitssystem schließen.

Auf der anderen Seite, den Entwicklungsländern, die als die eigentlichen Geberländer angesehen werden müssen, führt dies zu einem empfindlichen Verlust an medizinischen Fachkräften. Länder wie Ghana, Nigeria, Malawi, Sambia und Südafrika, um nur einige zu nennen, bilden permanent Ärzte und Krankenschwestern aus, die nach Abschluß ihrer Ausbildung attraktivere Weidegründe aufsuchen. Das ist sowohl ein volkswirtschaftlicher Schaden als auch einer für die vom Brain- drain betroffenen Krankenhäuser, die permanent unter der Abwanderung ihres Personals leiden, ohne sofort Ersatz bereitstellen zu können. Die verbliebenen Ärzte und Krankenschwestern sind dann natürlich völlig überarbeitet, entsprechend steigt die Gefahr von Behandlungsfehlern, und die notwendige Pflege muß vernachlässigt werden. Es wäre bei der Erörterung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten nur angemessen gewesen, hätte Pirages diese nicht unbedeutende Form der Ausbeutung der Entwicklungsländer als Sicherheitsrisiko erwähnt.

Verkürzt war leider auch seine Darstellung der WHO-Kampagne zur globalen Ausrottung der Kinderlähmung, zu der er schreibt:

Allerdings hat manchmal die Politik - insbesondere in Nigeria - eine besonders schmutzige Rolle im Kampf gegen Kinderlähmung gespielt. Der vorwiegend islamische Bundesstaat Kano in Nordnigeria hat 2003 die Impfaktionen abgebrochen aus Angst, der Impfstoff sei bewußt von 'westlichen Ländern' kontaminiert worden, um Unfruchtbarkeit und HIV unter der Bevölkerung zu verbreiten. Als Folge wurden Hunderte von Polio-Fällen in Nigeria bestätigt, viele davon in Kano, und das Virus hat sich schnell in zehn andere afrikanische Länder ausgebreitet. (S. 139)

Was hier als unverantwortliches Verhalten und "schmutzige" Politik beschrieben und auch noch mit dem islamischen Glauben verbunden wird, besaß aus der Sicht der Muslime einen rationalen Hintergrund. In eben jenem nigerianischen Bundesstaat hatte 1996 der US-Pharmakonzern Pfizer eine schwere Meningitis-Epidemie, an der mehr als 15.000 Menschen starben, ausgenutzt, um illegale Medikamentenversuche an Kindern durchzuführen. Dabei war den gutgläubigen Eltern vorgegaukelt worden, man wolle ihren Sprößlingen helfen. Der gegen CSM (Cerebro- Spinal Meningitis) eingesetzte Impfstoff Trovafloxacin, kurz Trovan genannt, besaß jedoch keine Zulassung. Die Folge des Versuchs: Rund ein Dutzend Kinder starb, viele Teilnehmer erlitten Lähmungen der Gliedmaßen, erblindeten oder verloren die Fähigkeit zu hören und zu sprechen. Bereits unmittelbar nach der Impfung litten die Kinder unter unkontrollierter Motorik und Krämpfen, bald darauf fielen sie in Schlaf. Darauf angesprochen beruhigten die Ärzte die besorgten Eltern, es sei alles in Ordnung ...

Später hat Pfizer die medizinischen Unterlagen über die Medikamentenversuche an Kindern um ein Jahr zurückdatieren lassen, da er den Eindruck erwecken wollte, daß er von den nigerianischen Gesundheitsbehörden rechtzeitig die Genehmigung für den Trovan- Einsatz erhalten hätte. Zudem sind aus dem Hospital für Infektionskrankheiten in Kano 350 Patientenakten spurlos verschwunden, und zwar ausgerechnet die brisanten CSM-Patientenakten aus dem Zeitraum von April bis Juni 1996 - nicht mal eine Woche nach Bekanntgabe der unsäglichen Pfizer-Experimente hatte das Krankenhaus ein "Groß-Reinemachen" in der Registratur veranstaltet. An Zufall mag man da nicht glauben.

Wenn nun muslimische Führer aus Kano wenige Jahre nach diesem Vorfall, in einer Zeit, in der die USA mittlerweile den Kampf der Kulturen ausgerufen und völkerrechtswidrig zwei vorwiegend islamische Länder militärisch angegriffen hatten, Mißtrauen gegenüber der eng mit den USA assoziierten WHO hegen und womöglich nicht mal ihren eigenen Behörden trauen, die beim Pfizer-Skandal mitgespielt hatten, dann sollte es zumindest nachvollziehbar sein, daß sie die Polio- Impfaktion erst nach längeren Verhandlungen zuließen.

Dieses Beispiel zeigt, wie glatt der Sicherheitsbegriff gegen Minderheiten, Unterprivilegierte und alle übrigen Ausgegrenzten instrumentalisiert werden kann. Nicht nur Pirages hat die Sorge nordnigerianischer Muslime, vom Kreuzzug der westlichen Welt überfahren zu werden, unterschlagen, in der gesamten Mainstream- Berichterstattung über jene gescheiterte Polio-Impfaktion blieben die Experimente Pfizers unerwähnt, obwohl doch die "Washington Post" fünf Jahre zuvor ausführlich darüber berichtet hatte. Vor diesem Hintergrund verkommt die Leitidee des Buchs, daß alle Menschen "in einer Welt" leben, zum bloßen Anspruch gegenüber allen anderen. Die müssen sich anscheinend der gleichen Sichtweise anschließen, wenn sie nicht wie die Muslime aus Kano diffamiert werden wollen.

Nach der Lektüre dieses Buchs hat sich der Rezensent gefragt, worin es sich beispielsweise von einschlägigen Sicherheitsstudien für die US-Regierung oder die EU-Administration unterscheidet, und die Antwort lautet: Nur in Nuancen der Formulierung - vor allem natürlich bei der Beschreibung des Unilateralismus der Bush-Regierung - inhaltlich dagegen in fast nichts. Tatsächlich wird die Europäische Union als vorbildlicher Gesellschaftsentwurf gepriesen. So schreibt Anja Köhne, Mitglied im Vorstand von Germanwatch, in einer Anmerkung:

Dieser Beitrag dient dazu, eine der vielleicht erfolgversprechendsten politischen und institutionellen Arenen für die Weiterentwicklung und Umsetzung eines im Sinne dieses Buches erweiterten Sicherheitsbegriffs [...] zu umreißen: Die europäische (und die deutsche) Außen- und Sicherheitspolitik. (S. 41)

Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß die in dem vorliegenden Buch entworfenen Lösungsvorschläge für alle als sicherheitsrelevant angenommenen Gesellschaftsbereiche reformistisch sind. Eine grundlegend kritische Auseinandersetzung mit globalhegemonialen Interessen, die auch Deutschland und die EU verfolgen, ist nicht das Anliegen dieses Buchs. Vielmehr wird der Aufbau einer "internationalen Zusammenarbeit" (S. 51) staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen propagiert, um die Aufmerksamkeit für die angebliche Gefahr wachsender Unsicherheit zu wecken. In diesem Sinne leistet das Buch einen gelungenen Überblick über das Thema Sicherheit und vermittelt einen erhellenden Eindruck davon, daß zivilgesellschaftliche Kräfte am gleichen Strang ziehen wie die politischen Führer, die sich um so mehr als rettende Engel gerieren, je unsicherer die Welt erscheint - und je mehr Analytiker "globale Sicherheit neu denken".

11. August 2005


Herausgeber: Worldwatch Institute
Zur Lage der Welt 2005
Globale Sicherheit neu denken
Worldwatch Institute in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung
und Germanwatch
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2005
350 Seiten
ISBN 3-89691-614-9