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REZENSION/275: Stiftung Warentest - Handbuch Medikamente (Ratgeber) (SB)


STIFTUNG WARENTEST


Handbuch Medikamente

Vom Arzt verordnet für Sie bewertet



Die streitbare kritische Einstellung, mit der in den ersten Auflagen des schon bald als Klassiker zu bezeichnenden Handbuchs der Leser zum Widerstand gegen das gewöhnlich von Ärzten eingeforderte unkritische "Blinde Vertrauen" aufgestachelt wurde, läßt die 6. überarbeitete Ausgabe des "Handbuchs Medikamente" völlig vermissen. Sie ist einer strengen und fundierten Sachlichkeit gewichen, die die Moral des Gesetzgebers hinter sich weiß.

Seit dieser nämlich im Zuge der Gesundheitsreform gemeinsam mit Gesundheitssystem und Krankenkassen auf den "mündigen Patienten" setzt und ihn mit zusätzlichen Kosten, Aufwendungen und sogenannten Selbstkostenbeteilungen in vielen Fällen gewissermaßen finanziell dazu motiviert, über seine Gesundheit lieber selbst zu entscheiden, sehen die Herausgeber des Handbuchs Medikamente ihre Aufgabe darin, den Leser mit dem nötigen Hintergrundwissen genau dafür in die Lage zu versetzen.

Allen Anfeindungen zum Trotz, denen frühere Auflagen ausgesetzt waren, hat sich das Buch mit dem Anspruch, allen Informations- anforderungen zu entsprechen, denen sich laut Vorwort "kein Patient verschließen kann, wenn er seiner Eigenverantwortung gerecht werden will", vom Medizinkritiker zum Gesundheitsreformkonformisten gewandelt, da es sich den neuen gesetzlichen Verfügungen gegenüber aufgeschlossen erklärt.

Das im Vorwort zitierte partnerschaftliche Prinzip, dessen größere Ausweitung hier ebenfalls ver- und angesprochen wird, bietet sich den Herausgebern des Handbuchs, also STIFTUNG WARENTEST, nun als Möglichkeit an, weiteren Konflikten, sprich gerichtlichen Auseinandersetzungen, schon im Vorfelde die Spitze zu nehmen.

Ein Buch, das aus Sicht der Verbraucher die derzeit am häufigsten verordneten Arzneimittel auf ihren sinnvollen Einsatz überprüft sowie für Ärzte wie Laien gleichermaßen strukturiert und nachvollziehbar transparent macht, für das ein Gutachterteam aus renommierten Medizinern im Auftrag der STIFTUNG WARENTEST diese Arzneimittel einer weiteren, eingehenden Prüfung unterzog, Berge von Literatur und klinischen Studienergebnissen analysierte, die Einwände und Unterlagen aus der pharmazeutischen Industrie durcharbeitete und in umstrittenen Fällen zusätzlich unabhängige Expertenmeinungen einholte, wird von der pharmazeutischen Industrie schon als Angriff verstanden.

Noch vor der Herausgabe der vierten Auflage mußte die Stiftung Warentest 67 Abmahnungen von Anbietern und sechs Gerichtsverfahren bewältigen. Die meisten Einsprüche konnten zurückgewiesen werden, nur in wenigen Fällen wurden Textpassagen aufgrund der zusätzlichen Informationen geändert.

Und so scheint die neue 6. Auflage mit dem Schlußsatz des Vorworts

Das Buch kann nicht den professionellen Rat von Fachleuten ersetzen es soll Sie aber darin stärken, über ihre Behandlung eigenverantwortlich mit zu entscheiden. (S. 7)

mit allen fachlich zuständigen Organisationen und dem Gesetzgeber Frieden zu schließen.

Entsprechend beschäftigt sich die weitere Einleitung zum Buch auch nur in gewohnt sachlicher, kompetenter und verständlicher Manier mit der Strukturierung und Gliederung des Werkes, um die Orientierung zu erleichtern und den Leser über Neuerungen in dieser Auflage zu informieren und Quellen, Vorgehensweise und Bewertungskriterien transparent zu machen. Damit wurde auch ein weiterer früherer Kritikpunkt des Bundesfachverbands der Arzneimittel-Hersteller, die Bewertungskriterien seien vielfach nicht nachvollziehbar, aus der Welt geschafft.

Eine solche Neuerung in dieser sechsten, vollständig überarbeiteten Auflage ist beispielsweise die Klassifizierung der Nebenwirkungen (bisher von "sehr häufig", "häufig", "gelegentlich" usw. bis zu "Einzelfälle" katalogisiert), die mit konkreten Handlungsanweisungen versehen wurde:

- Keine Maßnahmen erforderlich
- Muß beobachtet werden
- Sofort zum Arzt

Damit bietet das Handbuch dem Leser in diesem kritischen Bereich wie auch bei der Beurteilung des in Frage kommenden Medikaments eine Orientierungshilfe, die allerdings in allen Punkten die medizinische Lehrmeinung widerspiegelt. Auch hier wird zum Schutz des Herausgebers vor möglichen weiteren gerichtlichen Konflikten darauf hingewiesen, daß unangebrachte Therapieabbrüche ohne Rücksprache mit einem Arzt Risiken bergen, die es zu vermeiden gelte. Und genau damit wurde auch einer früheren Sorge des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie, das Buch führe zur Verunsicherung von Patienten und verstärke Vorbehalte gegenüber Arzneimitteln, Rechnung getragen.

Für den kritischen Leser allerdings, der es gewohnt ist, Informationen zu nutzen, um eigene Entscheidungen zu treffen, bietet dieses Handbuch so keine wirkliche Alternative mehr, denn das Recht auf eigenverantwortliches Handeln wird ihm an dieser Stelle durch zusätzliche Wertungen und Verharmlosung der Information ebenso abgesprochen wie vom Arzt, der z.B. seltene Nebenwirkungen verschweigt oder Symptome für nicht relevant erklärt, um den Patienten nicht zu ängstigen.

Diese Tendenz war schon in früheren Ausgaben zu erkennen: Wie in der Besprechung zur 4. Auflage erwähnt, ist das Werk keine Gefahr für Medizin und pharmazeutische Industrie:

"..., selbst wenn es 20 Prozent davon als "wenig geeignet" aussortiert. Obwohl die Statistiken durchaus dafür sprechen, pharmazeutische Mittel noch viel grundsätzlicher in Frage zu stellen, u.a. beispielsweise die stets unhinterfragte Akzeptanz von Nebenwirkungen bei jedem stark wirksamen Medikament, so sorgt doch gerade dieses Buch beispielhaft dafür, verunsicherte und verwirrte Schafe wieder in den Kreis folgsamer Patienten zurückzuholen." (Schattenblick, REZENSION/106:
Handbuch Medikamente 2001 der Stiftung Warentest)

Darüber hinaus sprechen sich die Herausgeber der neuen Auflage beispielsweise eindeutig gegen den Medikamentenbezug aus dem Internet aus, weil dort Arzneimittel ohne fachliche Überwachung, abgegeben werden,

...es gibt keine qualifizierte Beratung und geliefert wird vielfach auch ohne Rezept, obwohl die Mittel aus gutem Grund in Deutschland rezeptpflichtig sind. Ein Anspruch auf Haftung für durch Medikamente verursachte Gesundheitsschäden kann zumeist nicht durchgesetzt werden, weil die Lieferanten nicht identifizierbar sind. Hersteller und Vertreiber bleiben weitgehend anonym und können morgen wieder aus dem Internet verschwunden sein. (S. 23)

und bekennen sich damit zu der fachlichen Betreuung durch Apotheken, die ja inzwischen ebenfalls im Internet vertreten sein können.

Die 300.000 Personen, die aufgrund schlechter Information und wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen immer noch jährlich ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen, wobei etwa 25.000 davon diese "schädlichen und unbeabsichtigten Reaktionen" nicht überleben, werden in diesem Handbuch nicht mehr erwähnt.

Was bleibt, ist eine sachliche Medikamentenbeurteilung nach Stiftung Warentest-Maßstäben, d.h. eine verbrauchergerechte, wirtschaftliche Überprüfung von Anspruch und Effektivität, die dem Leser und Nutzer des Handbuchs hilft, Geld zu sparen, was letztlich auch der von Vertretern der Gesundheitsreform angestrebten Sparsamkeit beim Einsatz pharmazeutischer Mittel entgegenkommt. Daß ein so "unwesentlicher" Aspekt wie Gesundheit dabei außen vor bleibt, versteht sich von selbst.

Trotzdem wurde der alte Ratgeber inzwischen zu einem nicht nur von Laien, sondern auch von Medizinern und Pharmazeuten geschätztem Nachschlagewerk. Denn gerade ein Experte kann mit seinem Fachjargon die kurzen Erläuterungen der Krankheitsbilder und der Behandlung mit Medikamenten, mit genauer Beschreibung der einzelnen Wirkstoffe und detaillierten Hinweisen zur Einnahme, an denen sich mancher Beipackzettel ein Beispiel nehmen könnte, gut für die Verständigung mit dem Patienten gebrauchen, da diese sich einer einfachen Sprache bedienen und auf das Wesentliche konzentrieren.

Was kein Nachschlagewerk zu Medikamenten, selbst das Arzneibuch oder die rote Liste, erfüllen kann, ist die Berücksichtigung aktueller Änderungen. Hierfür bietet Stiftung Warentest mit der neuen Auflage ein Kennenlern-Angebot der entsprechenden Medikamente-Datenbank im Internet an. Abgesehen von der höheren Aktualität bietet dieses Portal zusätzlich zu den ärztlich verordneten Arzneimitteln aus dem "Handbuch Medikamente" alle wichtigen Informationen zu rund 1.500 Mitteln für die Selbstbehandlung stets aktuell.

Vielleicht könnte zumindest das neue Portal den inhaltlichen Schwerpunkt wieder auf den alten kritischen Ansatz setzen, der mit der Entscheidung zur selbstverantwortlichen Medikation eher einhergehen sollte als der marktwirtschaftliche gesundheitsreform- konforme Aspekt.

10. August 2005


STIFTUNG WARENTEST in Zusammenarbeit mit dem Verein für
Konsumenteninformation, Österreich
Handbuch Medikamente - Vom Arzt verordnet für Sie bewertet
Herausgeber Annette Bopp, Vera Herbst
6. überarbeitete Ausgabe
Stiftung Warentest, Berlin 2004
ISBN 3-931908-94-1