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REZENSION/237: Giorgio Agamben - Das Offene · Der Mensch und das Tier (SB)


Giorgio Agamben


Das Offene

Der Mensch und das Tier



Der Versuch des Menschen, Aufschluß über seine Stellung im Kosmos zu erhalten, wirft ihn immer wieder auf die Postulate seiner Erkenntnisfähigkeit zurück und bleibt daher im Selbstreflexiven verhaftet. Nicht einmal der eigene Körper läßt sich auf diesem Wege erreichen, er bleibt ihm so fremd wie das Tier, in dem er das Geheimnis seiner Leiblichkeit zu ergründen sucht und gleichzeitig ignoriert. Was ihm als Basis aller geistigen Tätigkeit dient, steht ihm vor allem im Wege. Die menschliche Vervollkommnung, mit der er die Bindewirkung der Physis zu überwinden trachtet, scheitert gerade daran, daß er sie mittels der Ausgrenzung des Tieres anstrebt und sich damit in einen Antagonismus von verhängnisvoller Wirkung begibt. Aus der Zerrissenheit seines das Wesen der Dinge im fortgesetzten Teilen und Trennen suchenden Erkenntnisstrebens resultiert ein Umgang mit der stofflichen Welt, in dem sich Partikularisierung und Atomisierung als die Leiblichkeit deformierende und sich gegenseitig verzehrende Prozesse reproduzieren.

Das ist eine Schlußfolgerung, die man aus der im italienischen Original 2002 erstmals veröffentlichten Schrift "Das Offene. Der Mensch und das Tier" des Philosophen Giorgio Agamben ziehen kann. Das "nackte Leben", das er in seinen vorherigen Büchern als Resultat politischer Aus- und Einschließungsprozesse bestimmt hat, wird hier mit den grundlegenden Erkenntnisachsen des Humanen und Animalischen gekreuzt. Dabei zeigt sich, daß die vermeintliche Treffsicherheit und Trennschärfe der Kategorien Mensch und Tier keineswegs dazu taugen, ontologische Gewißheit zu schaffen.

Im Rahmen von 20 höchst kunstvoll in Szene gesetzten Erörterungen zentraler Fragen, Begriffe und Akteure der Anthropologie entwickelt Agamben das Problem, daß die Vervollkommnung des Menschen zu einer Einheit von Körper und Geist, von Natur und Logos das Gegenteil, die Fragmentierung seines Bildes von sich selbst, bewirke. Die Untersuchung des Begriffs "Leben" legt den Schluß nahe, daß gerade diese zentrale Kategorie der Naturwissenschaft "dasjenige ist, was nicht definiert werden kann, aber gerade deswegen unablässig gegliedert und zerteilt werden muß" (S. 23). Schon die etymologische Herkunft des Begriffs aus "der unter Leim dargestellten vielfach erweiterten idg. Wz. [s]lei- 'feucht, schleimig, klebrig sein, kleben [bleiben]'" (Duden, Etymologie) verweist auf den Versuch, das in alle Richtungen expandierende und sich entropisch verlierende, vom Feuer der Sonne zu intensiver Stoffwechselaktivität getriebene und in seinem Streben nach Dauer durch diesen Wandel widerlegte Agens des Lebens zusammenzuhalten.

Gliedern und Teilen als zentrale Operatoren einer gerade dadurch vom Hundertsten ins Tausendste getriebenen Erkenntnisfähigkeit sind von strategischer Bedeutung für eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich diesem Lebensbegriff äquivalent organisieren. Das zeigt zum Beispiel die einschneidende Neudefinition des Todes, deren Zweck in einer besseren Organernte für die Transplantationsmedizin besteht, so daß Überleben im wörtlichen Sinne über den Leib des anderen ermöglicht wird. Der biopolitische Subtext tritt in der negativen Anthropologie Agambens von Anfang an in Erscheinung und macht seine Schrift auch für philosophisch nicht vorgebildete Leser zu einer lohnenden Lektüre.

Beginnend mit der Untersuchung des Lebensbegriffs durch Aristoteles, der bereits "- gemäß einer Art von divide et impera - die Einheit des Lebens als hierarchische Gliederung einer Reihe von oppositionellen Fähigkeiten und Funktionen zu konstruieren" (S. 24) wußte, gelangt Agamben anhand der "Untersuchungen über das Leben und den Tod" von Xavier Bichat zur Unterscheidung des "'animalischen Lebens', das sich durch die Beziehung mit der Außenwelt definiert, von einem organischen Leben, (...) das nichts weiter als eine 'dauernde Aufeinanderfolge von Assimilation und Exkretion' darstellt" (S. 24).

Diese "beiden Tiere", die Bichat zufolge jedem höheren Organismus innewohnen, entsprechen der physiologischen Differenzierung zwischen einem vor allem durch das Rückenmark und niedere Hirnteile innervierten Vegetativum, das die Stoffwechselorgane quasi autonom reguliert, und einem vom Zentralnervensystem gesteuerten Wahrnehmungs- und Bewegungsapparat, der auf willkürliche Weise mit der Umwelt interagiert. Die "strategische Bedeutung (...) dieser Scheidung zwischen Funktionen des vegetativen Lebens und relationalen Funktionen in der Geschichte der Medizin" führt Agamben über die biopolitische "Verallgemeinerung und Neubestimmung des Begriffs des vegetativen Lebens" zu einer Präzisierung seines Kernbegriff vom "nackten Leben - eines Lebens, das von jeder Hirntätigkeit abgekoppelt und sozusagen ohne Subjekt ist" (S. 25). Diese Auftrennung des menschlichen Lebens in ein dem Tier- und Pflanzenreich zugeordnetes Konglomerat vitaler Stoffwechselfunktionen und ein als human identifiziertes Potential willentlicher Entscheidung und kognitiver Reflexion ist die ethische Grundlage der medizinischen Vorverlagerung des Todeszeitpunkts.

Das im menschlichen Körper selbst abgesonderte Tier (S. 47), das von der "göttlichen oikonomía der Rettung" nicht zu paradiesischer Existenz auserkoren wurde und daher "in der Physiologie der Seligen einen unerlösbaren Rest" (S. 30) bildet, gibt allen Anlaß, die von Agamben aufgeworfene Frage, "auf welche Weise der Mensch - im Menschen - vom Nichtmenschen und das Animalische vom Humanen abgetrennt worden ist" (S. 26), weiterzuverfolgen. Sie impliziert die Frage nach dem Wesen des Tieres, deren Problematik Agamben am Beispiel des Naturforschers Carl von Linné transparent macht.

Der Begründer der modernen wissenschaftlichen Klassifikation wollte partout nicht einsehen, daß dem Unterschied zwischen anthropomorphen, also menschenähnlichen Tieren und Menschen auf biologischer Ebene die gleiche Bedeutung zukam, die ihm die vermeintliche Krone der Schöpfung auf moralischer und religiöser Ebene zuwies. "Wenn der Mensch nicht sein eigener Klassifikateur gewesen wäre, hätte er niemals daran gedacht, eine besondere Rangklasse für seinesgleichen aufzustellen" - diese andernorts gefundene Äußerung Linnés erklärt, warum der Mensch für ihn unter den Primaten rangiert. Lediglich seine Fähigkeit zur Selbsterkenntnis verleiht ihm den Titel homo sapiens, den, wie Agamben betont, Linné als Imperativ des nosce te ipsum - Erkenne dich selbst! - verstanden wissen wollte. Diese Selbsterkenntnis erlangt "dasjenige Tier, das sich selbst als menschlich erkennen muß, um es zu sein" (S. 36), laut Linné eben gerade dann nicht, wenn es sich weigert, seine animalische Existenz zu akzeptieren. Seine zahlreichen Kritikern, denen die Distanz zum Affen nicht weit genug gefaßt war, stellte er unter das Primat seiner Ordnung und zählte sie zu den Affen, weil sie sich in diesen nicht als Menschen erkennen konnten. Dem anthropomorphen Tier homo sapiens ist damit laut Agamben auferlegt: "Der Mensch muß sich, um menschlich zu sein, als Nicht-Mensch erkennen" (S. 38).

Dieses fällt dem zum Glauben an seine auserwählte Bestimmung erzogenen Christenmenschen naturgemäß äußerst schwer. Agambens Tour de force durch die Unwuchten der "anthropologischen Maschine des Humanismus" schickt ihn in den Limbus diabolischer Verwirrung, der den Menschen in "Abwesenheit einer Eigennatur (...) unentschieden zwischen himmlischer und irdischer Natur, zwischen Animalischem und Humanem in der Schwebe hält, so daß er immer weniger und mehr als er selbst sein muß" (S. 39). Unter Verweis auf den Renaissance-Humanisten Giovanni Pico della Mirandola präzisiert Agamben diese Unbestimmtheit anhand der Kriterien, daß der Mensch "weder einen Archetypen noch einen sicheren Ort noch einen spezifischen Rang", ja "nicht einmal eigentlich ein Gesicht" (S. 39) haben kann, so daß die "humanistische Entdeckung des Menschen (...) die Entdeckung seines eigenen Ausbleibens" (S. 40) sei.

Man könnte verkürzt vom Menschen, den es nicht gibt, sprechen, und damit eine durchaus zukunftszugewandte Position einnehmen. Die von Agamben aufgezeigte Haltlosigkeit eines positivistischen Begriffs vom Menschen läßt sich auch anhand der Vergeblichkeit jedes Versuchs, das postulierte Sein in seiner Gänze zu reflektieren, belegen: Die dabei unterstellte Gleichwertigkeit des Identischen bricht an der Unmöglichkeit, aus dem permanenten Wandel der zu reflektierenden Substanz heraus jene Unveränderbarkeit der Bedingungen zu schaffen, derer es bedürfte, um einen vollständigen Abgleich seiner selbst vorzunehmen. Die Crux des Zirkelschlusses, stets auf das zu treffen, was man zuvor postuliert hat, also nicht in der Lage zu sein, dem Anspruch auf Erkenntnis zu genügen, die Grenzen kognitiver Bedingtheit zu transzendieren, legt den Schritt nahe, die sich in Unendlichkeit verlaufenden Reflexionen zu negieren.

Die Verneinung des aus Abgrenzung zum Tier geborenen Humanums in seiner von Agamben unterschiedenen antiken wie modernen Variante richtet sich auch gegen die politische Funktion der "anthropologischen Maschine". Sie schafft "eine Zone der Ununterschiedenheit (...), in der sich - wie in missing link, das immer fehlt, weil es virtuell schon da ist - die Verbindung zwischen dem Humanen und Animalischen, zwischen Mensch und Nicht- Mensch, Sprechendem und Lebendem ereignen muß. In Wahrheit ist diese Zone wie jeder Ausnahmeraum völlig leer, und das wahrhaft Humane, das sich hier ereignen sollte, ist lediglich der Ort einer ständig erneuerten Entscheidung, in der die Zäsuren und ihre Zusammenfügung stets von neuem verortet und verschoben werden. Was auf diese Weise erreicht werden sollte, ist jedenfalls weder ein tierisches noch ein menschliches Leben, sondern bloß ein von sich selbst abgetrenntes und ausgeschlossenes Leben - bloß ein nacktes Leben" (S. 47 f.).

Auch wenn sich Agamben weit in die prekären Grenzbereiche der nur scheinbar festverfugten Ordnung der Dinge vorwagt, kommt er nicht ohne Reflexionsbögen auf das "Selbst" und das "Leben", auf den "Raum" und die "Leere" aus. Der produktive Ansatz, die Hybris eines Anthropozentrismus, der gerade dazu geschaffen wurde, die destruktiven Folgen der Gebundenheit des Menschen in kreatürlicher Not zu leugnen, mit der Haltlosigkeit seiner konstitutiven Grundlagen zu kreuzen, kehrt sich mit dem Aufzeigen neuer ontologischer Perspektiven gegen sich selbst.

Um dem Determinismus der anthropologischen Maschine dennoch zu entkommen, versucht Agamben in Fortschreibung einiger Texte von Walter Benjamin, menschliche Eschatologie und animalische Vitalität voneinander zu entkoppeln in einem der gnostischen Dichotomie gerade in der moralischen Verurteilung der Natur vermeintlich aufscheinender Erlösung allerdings entgegengesetzten Sinne. Gegen eine solch kontraproduktive Affinität setzt er das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als Ideal der Freiheit, daß "weder der Mensch die Natur noch die Natur den Menschen beherrschen" (S. 91) solle.

Die Annäherung an diese Utopie vollzieht Agamben anhand Benjamins "Modell einer 'Dialektik im Stillstand'", die auf die Synthese verzichtet und "das Intervall und das Spiel zwischen den zwei Begriffen" an ihre Stelle setzt. Dieses Innehalten der anthropologischen Maschine, die "gegenseitige Aufhebung der beiden Begriffe" führe schließlich dazu, daß sich "zwischen Natur und Humanität, im beherrschten Verhältnis", etwas einniste, "für das wir keinen Namen haben und das weder Mensch noch Tier ist" (S. 91).

Diese für Agamben typische Operation, zwischen den vermeintlichen Gewißheiten einer positivistischen Sicht auf die Welt Antworten anzusiedeln, die nicht gegeben wurden und daher besser als ihrer weiteren Behandlung harrende Fragen zu bezeichnen wären, macht den Reiz seiner Philosophie aus. Daß es sich nicht um intellektuelle Spielereien handelt, sondern Agamben ein politisches Anliegen verfolgt, zeigt er in einer Auflistung von Thesen, die er als "provisorische Ergebnisse unserer Lektüre der anthropologischen Maschine in der westlichen Philosophie" (S. 87) verstanden wissen will. Darin verortet er die Menschwerdung im beschriebenen Sinn in "der Zäsur und der Gliederung zwischen Humanem und Animalischen", bewertet die Ontologie als "keine unschädliche akademische Disziplin, sondern die in jedem Sinne grundlegende Operation, in welcher die Anthropogenese, das Menschwerden des Lebewesens erfolgt" und beschreibt diesen Vorgang in seiner ganzen Paradoxität, "das Sein, die Welt, das Offene" durch das "Ergreifen des animalischen Nicht-Offenen" zu okkupieren: "Der Mensch hebt seine Animalität auf und eröffnet auf diese Weise eine 'freie und leere' Zone, in welcher das Leben gefangen, verlassen und verbannt ist" (S. 87).

Diesen so widersprüchlichen Vorgang, sich im Griff nach dem verheißenen Mehr eines Ideals von Humanität seiner Herkunft in der Animalität zu berauben, bewertet Agamben als den "entscheidenden politischen Konflikt in unserer Kultur", der "die Politik der westlichen Staaten (...) gleichursprünglich mit Biopolitik" (S. 88) mache. Die Zukunft einer durch Humangenetik, Bionik, Transplantations- und Reproduktionsmedizin physisch funktionalisierten und demografisch gesteuerten Gesellschaft, in der diese Anthropotechniken mit einem immer perfekteren Regime der Sozialkontrolle und einer an der Verwertungstauglichkeit bemessenen Ausgrenzungspraxis zum Ensemble nie gekannter Fremdverfügung des vereinzelten Menschen komplettiert werden, wäre diesem Konflikt durchaus gemäß.

Agambens Aufruf, die Funktionsweise der anthropologischen Maschine "zu begreifen, um sie gegebenfalls zum Stillstand zu bringen" (S. 48), ist durch ihren "Leerlauf" am "Ende der Philosophie und der Vollendung der epochalen Bestimmungen des Seins" (S. 88) jedenfalls nicht obsolet geworden. Seine provokante Aussage, daß der Mensch "nunmehr sein geschichtliches télos erreicht" habe und "für eine wieder Tier gewordene Menschheit (...) nichts anderes als die Entpolitisierung der menschlichen Gesellschaften durch eine unbedingte Entfaltung der oikonomía oder die Erhebung des biologischen Lebens zur höchsten politischen (oder eher unpolitischen) Aufgabe übrig" (S. 85) bliebe, soll als Warnung verstanden werden. Schließlich wird mit dem Philosophieren über das Ende "jeglicher historischer Wirksamkeit" der "traditionellen geschichtlichen Mächte - Dichtung, Religion, Philosophie" (S. 86) der Beweis des Gegenteils angetreten. Agambens düstere Vision, daß "als einzige einigermaßen seriöse Aufgabe die Sorge und 'integrale Verwaltung' des biologischen Lebens, d.h. der Animalität des Menschen selbst", übrig bleibe und "Genom, globale Ökonomie und humanitäre Ideologie (...) die drei solidarischen Gesichter dieses Prozesses" seien, "in welchem die Menschheit ihre eigene Physiologie als letztes und unpolitisches Mandat nach dem Ende der Geschichte zu übernehmen scheint" (S. 86), kann nur als Aufruf zu ihrer Widerlegung verstanden werden.


Giorgio Agamben
Das Offene
Der Mensch und das Tier
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
108 Seiten, kostet 7,- Euro
ISBN 3-518-12441-2