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REZENSION/215: Philipp Sarasin - 'Anthrax' · Bioterror als Phantasma (SB)


Philipp Sarasin


'Anthrax' - Bioterror als Phantasma



Man muß nicht die von der Regierung George W. Bushs in den USA und von der Tony Blairs in Großbritannien zur Begründung der letztjährigen, angloamerikanischen Irakinvasion veranstaltete, gigantische Desinformationskampagne bis in die letzten Winkelzüge mitverfolgt haben, um zu wissen, daß kein Thema so undurchsichtig ist und zugleich dermaßen hochgespielt wird wie das der biologischen Kampfstoffe. Ob nun AIDS, Ebola, Sars oder West-Nil-Virus, der ungeheuerliche Verdacht, daß bei Entstehung und Verbreitung tödlicher Virenerkrankungen der Postmoderne der militärisch-industrielle Komplex seine Finger im Spiel haben könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Bestätigung für diese Vermutung liefern die Anthrax-Anschläge vom Herbst 2001 in den USA.

Jenen tödlichen Briefen an führende Vertreter der oppositionellen Demokraten im US-Kongreß und eine Reihe von amerikanischen Nachrichten- und Zeitungsredaktionen in Florida und New York fielen fünf Menschen zum Opfer. Siebzehn weitere Personen, die ebenfalls die in den Briefen enthaltenen "waffenfähigen" Milzbrandsporen einatmeten, erkrankten schwer und entkamen nur knapp dem Tod. Auf dem Höhepunkt der perfiden Briefaktion, die sich wenige Wochen nach den schrecklichen Flugzeuganschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon ereignete und die vor allem in der US-Hauptstadt Washington eine regelrechte Belagerungsatmosphäre erzeugte, wurde im Eilverfahren das bis heute hochumstrittene, drakonische Anti-Terror- Gesetz mit dem euphemistischen Namen USA-PATRIOT-Act verabschiedet.

Bezeichnenderweise treten die Bemühungen des FBI, des Täters beziehungsweise der Täter habhaft zu werden, offenbar auf der Stelle, seit man Ende 2001, Anfang 2002 festgestellt hat, daß die in den Anthrax-Briefen enthaltenen Milzbrandsporen nicht, wie anfangs von den allermeisten Politikern, "Sicherheitsexperten" und Medienkommentatoren vermutet, aus dem Irak Saddam Husseins oder den Ausbildungslagern des Al-Kaida-"Netzwerks" Osama Bin Ladens in Afghanistan, sondern aus den Biowaffenlaboren des US-Militärs stammten. Angesichts dessen, wie weit sich bereits dank diverser Katastrophenfilme und Notfallübungen die angebliche Bedrohung der westlichen Industriegesellschaft durch den "Bioterror" zur medialen Dauerpräsenz entwickelt hat, wundert es nicht wenig, wie sehr die Anthrax-Anschläge vom Herbst 2001 in der öffentlichen Wahrnehmung in Vergessenheit geraten beziehungsweise zu einer Fußnote des Komplexes "11. September" verkommen sind. Dieses sonderbare Phänomen wird unter anderem daran deutlich, daß in den letzten zweieinhalb Jahren jede Menge Bücher über den "Tag, der die Welt verändert" haben soll, erschienen sind, es jedoch praktisch keine über den ersten und bislang einzigen "biologischen Terrorangriff" der Geschichte gegeben hat.

In diese publizistische Lücke ist nun Philipp Sarasin mit seinem Buch "'Anthrax' - Bioterror als Phantasma" gestoßen. Prof. Sarasin lehrt Neuere Geschichte an der Universität Zürich. Von ihm sind beim Suhrkamp Verlag bereits die Studien "Physiologie und industrielle Gesellschaft - Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert", "Reizbare Maschinen - Eine Geschichte des Körpers 1765-1914" sowie "Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse" erschienen. Anstatt, wie er selbst sagt, sich "nur auf dem Sofa sitzend über CNN zu ärgern", hat Sarasin das vorliegende, 195seitige Essay geschrieben, das er als "Versuch, politische Vorgänge einem kulturwissenschaftlichen - und damit auch historischen - Blick auszusetzen", bezeichnet. "Kulturwissenschaftlich meint dabei die für manche möglicherweise anstößige Vermutung, daß Bilder und Fiktionen, Phantasmen und Träume nachweislich Wirklichkeit formen, so daß sich Realität und Fiktion unauflösbar verschränken. 'Bioterror' ist der Name jenes Traums, den postmoderne Gesellschaften im selbstgewählten Kriegszustand träumen, und 'Anthrax' seine Wunscherfüllung." (S. 9)

Nach Sarasins Bewertung der Vorgänge müssen die Anthrax-Attentäter vorab von den Flugzeuganschlägen gewußt oder Hinweise auf dieselben gehabt haben, anders ist die zeitliche Übereinstimmung nicht zu erklären. Wie vor ihm die konservative US-Anwaltsvereinigung Judicial Watch macht es Sarasin stutzig, daß am 11. September 2001 im Weißen Haus Tabletten des einzigen in den USA zugelassenen Anthrax- Gegenmittels Cyprofloxacin verteilt wurden. Er findet es auch bemerkenswert, daß man unmittelbar nach den Flugzeuganschlägen auf die Zwillingstürme die Luft im südlichen Manhattan auf Spuren von Biowaffen testen ließ, jedoch die Abfangjäger der US-Luftwaffe, welche den Anschlag auf das Pentagon hätten vielleicht verhindern können, am Boden behielt. Ohne allzusehr auf die Widersprüche in der offiziellen Version der Flugzeuganschläge einzugehen, tut Sarasin die Behauptung, der US-Sicherheitsapparat sei von den Vorgängen des 11. September 2001 "überrascht" worden, als "unplausibel" ab. Zum Beleg dieser Feststellung verweist er unter anderem auf eine entsprechende Übung des Pentagons im November 2000 und präsentiert auf Seite 121 ein offizielles Foto von einem Modell des fünfeckigen US- Verteidigungsministeriums, in dessen Innenhof eindeutig Wrackteile eines zerstörten Modells eines Passagierflugzeugs zu erkennen sind.

Mit überzeugenden Argumenten unterstellt Sarasin dem Justizministerium John Ashcrofts und dem FBI Robert Muellers, kein Interesse an der Ermittlung der Absender der Anthrax-Briefe gehabt zu haben, weil dies den von Washington und London verbreiteten Lügen hinsichtlich der angeblich vom Irak Saddam Husseins ausgehenden "akuten Bedrohung" sowie der von Präsident Bush im Herbst 2002 verkündeten, neuen Strategischen Doktrin der USA, einschließlich des darin enthaltenen Anspruchs auf präventive, militärische Maßnahmen gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, abträglich gewesen wäre. Mit der Formulierung "Ohne Anthrax keine Achse des Bösen" (S. 61) bringt Sarasin die enorme Bedeutung des Konstrukts "Bioterror" für das plumpe Mobilisierungsmanöver "Antiterrorkrieg" der Falken in Washington auf den Punkt. Aller nachträglichen Diskreditierung der Begründung für den Irakeinmarsch zum Trotz spricht für den Erfolg dieses Manövers die Tatsache, daß vor kurzem der US-Kongreß auf Drängen des Weißen Hauses die astronomische Summe von 5,6 Milliarden Dollar für das Projekt "Bioshield", die Forschung an biologischen Materialien angeblich zu reinen Verteidigungszwecken, bewilligt hat.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Rolle, welche seit Jahren Judith Miller spielt. Die New-York-Times-Vorzeigereporterin hatte nicht nur rechtzeitig zu den Anthrax-Anschlägen das Buch "Germs" über die Proliferationsgefahr im Bereich der biologischen Kampfstoffe auf den Markt gebracht, sondern diente 2002 und 2003 der Bush-Regierung mit zahlreichen spektakulären Titelgeschichten bei der Grey Lady vor und nach dem Einmarsch in den Irak als vielleicht wichtigste Verbreiterin der Gruselgeschichten über Saddams ABC-Waffenarsenal. Die Tatsache, daß die New York Times die Hauptverantwortliche Miller nicht namentlich erwähnte, als sie sich in diesem Frühjahr für die hysterische Berichterstattung zu diesem Thema öffentlich entschuldigte, spricht für die engen Kontakte, welche "General Judy" zu den tonangebenden Kreisen in den konservativen Denkfabriken Washingtons sowie im Pentagon pflegt. Miller wird bezeichnenderweise von der New Yorker PR-Firma Benador Associates, bei der notorische Antiterrorkrieger wie Richard "Fürst der Finsternis" Perle und Ex-CIA- Chef R. James Woolsey unter Vertrag stehen, geführt.

Höchst aufschlußreich sind Sarasins kulturgeschichtliche Ausführungen, wie überhaupt in Europa das "Wahrnehmungsmuster der Seuchengefahr" entstanden ist. Ob es die Pestwelle des 14. Jahrhunderts oder die Cholera-Epidemien des 19. waren, immer wieder wurde die Entstehung der Seuche irgendwelchen Fremden - Juden, Arabern, Asiaten, Orientalen usw. - angelastet. Auf die westliche Epidemiologie des 19. Jahrhunderts, die bereits vorhandene Begriffe und Vorstellungen zu einer "Invasions- und Feindmetaphorik" vermengt hatte, sind Hitlers "Volkskörper", Stalins kapitalistische "Parasiten" oder die "Terror-Zelle" unserer Tage zurückzuführen. Unter anderem anhand der Erkenntnisse von Philosophen wie Michel Foucault zeigt Sarasin, wie sich der "Terrorismus" zur "Ikone des unsichtbaren Feindes" entwickelt hat. Vor dem Hintergrund der mit jedem Tag zunehmenden Migrationswelle aus den ausgeplünderten Ländern der Dritten Welt attestiert Sarasin den USA wie auch der EU, das Thema "Infection" als neues "Dispositiv der Macht" entdeckt zu haben. Ähnlich wie im Falle der mythischen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins steht nach Ansicht Sarasins die an die Wand gemalte Gefahr neuer Seuchen in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung, sondern dient lediglich dem Ausbau des totalitären Überwachungsstaats.

Wenn es etwas an diesem sehr anspruchsvollen, kurzweiligen und witzigen Buch zu kritisieren gibt, dann nur zwei Kleinigkeiten. Erstens geht Sarasin nicht auf das Thema Golfkriegssyndrom ein, unter dem Hunderttausende amerikanischer und britischer Veteranen der Operation Wüstensturm vom Frühjahr 1991 leiden und das viele auf den ihnen damals verabreichten Anthrax-Impfstoff zurückführen. Zweitens verweist Sarasin in Verbindung mit den Anthrax-Ermittlungen auf den von US-Justizminister Ashcroft als "Person von Interesse" bezeichneten, inoffiziellen, mutmaßlichen Täter Dr. Stephen Hatfill, und bezeichnet diesen - womöglich zu Unrecht - als "ominös", erwähnt aber mit keinem Wort den mysteriösen Fall des Ayaad Assaad.

In einem am 21. September 2001 aufgegebenen Brief an das FBI haben nicht namentlich genannte Personen - vermutlich die Verantwortlichen für die Anthrax-Anschläge - behauptet, Assaad plane einen Biowaffenanschlag auf Ziele in den USA. Zu diesem Zeitpunkt, nämlich bereits am 18. September 2001, waren die ersten tödlichen Anthrax- Briefe in New Jersey aufgegeben worden, was natürlich niemand außer den Tätern wußte. Für die fragliche Zeit hat Assaad, ein aus Ägypten stammender Mikrobiologe, der wie Hatfill früher am U. S. Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID) in Fort Detrick im Bundesstaat Maryland gearbeitet hat, ein unangreifbares Alibi. Bekanntlich ist Assaad Anfang der neunziger Jahre im Labor der US- Armee von einer Gruppe Kollegen rassistisch drangsaliert worden. Nachdem Assaad sich formell wegen des Mobbings beschwert hatte, mußte der Anführer dieser Gruppe, Oberstleutnant Philip Zack, seinen Stuhl bei USAMRIID räumen, aber hatte dort in den Jahren danach weiterhin Zugang und gilt in den Augen einiger Kenner der Materie als der eigentliche Hauptverdächtige. Wie die im US-Bundesstaat Massachusetts erscheinende Regionalzeitung Hartford Courant am 15. Mai diese Jahres berichtete, hat Assaad nach eigenen Angaben dem FBI bereits viermal angeboten, ihnen alles zu sagen, was er über die ehemaligen USAMRIID- Kollegen aus Fort Detrick, die er für die Täter hält, weiß, doch ist sein Angebot jedesmal abgelehnt worden.

11. August 2004


Philipp Sarasin
'Anthrax'- Bioterror als Phantasma
Suhrkamp Verlag - Frankfurt am Main 2004
195 Seiten, 9,- Euro
ISBN 3-518-12368-8