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REZENSION/193: Pieper, Hg. - Die EU, 'Kerneuropa' und Osterweiterung (SB)


Frank Pieper (Hg.), Holger Kuhr, Christiane Schneider


Die EU, 'Kerneuropa' und Osterweiterung

Geschichte, Entwicklung und Perspektive eines imperialistischen Blocks unter deutsch-französischer Hegemonie



Die Militarisierung der Europäischen Union und die Maßnahmen zum Ausbau der inneren Sicherheit haben inzwischen eine so rasante Dynamik entfaltet, daß viele Analysten mit ihren Prognosen über die Zukunft der EU abgeschlagen auf der Strecke bleiben. Das jedoch kann Frank Pieper, Holger Kuhr und Christiane Schneider, die mit je einem Aufsatz zu der Broschüre "Die EU, 'Kerneuropa' und Osterweiterung" beigetragen haben, nicht nachgesagt werden. Ihre Analysen über die Expansion des EU-Raums nach Osten setzen grundsätzlich an, ihre historisch gestützte Herleitung der Interessen und Motive der federführenden Profiteure ist stringent.

Herausgeber Frank Pieper weist in seinem Beitrag "100 Jahre Weltmachtstreben - Deutsche Mitteleuropakonzepte vom Kaiserreich bis Joschka Fischer" durch viele Zitate belegt die historische Kontinuität deutschen Hegemonialstrebens in Europa nach. Die Initiatoren der Europäischen Union, zu denen neben Deutschland auch Frankreich gehört, verfolgten von Anfang an die Idee eines Kerneuropas. Es wäre jedoch ein Mißverständnis anzunehmen, daß Pieper in der Achse Paris-Berlin eine größere imperialistische Bedrohung der Menschen sieht als in der Washingtons und seiner Vasallen. Aber der Autor hält es für eine von der Linken bislang noch immer unterschätzte Gefahr, "dass die EU um eine mit den USA gleichrangige Führungsposition in der Welt ringt". Deshalb stellt der Herausgeber schon in seinem Vorwort klar, daß "insbesondere der Anteil, den die BRD daran hat, die EU für diese Aufgaben zuzurüsten (...) in dieser Broschüre beleuchtet werden" soll (S. 4).

Als der deutsche Außenminister Joseph Fischer vor vier Jahren an der Humboldt-Universität in Berlin "eine historische Rede" zu seiner Vision eines Europas hielt, in dem Deutschland das "Gravitationszentrum" bildet, löste er in der Öffentlichkeit einen kräftigen Wellenschlag aus. Der historische Anspruch seines Konzepts ergibt sich jedoch vielmehr daraus, daß Fischer sich damit in eine Tradition deutscher Außenpolitik gestellt hat, die an die Hegemonialansprüche früherer Regierungen anknüpft. So zitiert Pieper das Mitteleuropakonzept Reichskanzler Bethmann Hollwegs, das dieser bereits unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkriegs vorgestellt hatte:

Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilisieren. (S. 10)

Nur geringfügig auf heutige politische Konstellationen zugeschnitten, könnte Bethmann Hollwegs Forderung genausogut dem Strategiepapier unseres lodengrünen Außenministers oder des bräunlichschwarzen Gespanns Schäuble und Lamers entlehnt sein. Letztgenannte CDU- Politiker hatten 1994 einen Entwurf vorgelegt, in dem erstmals nach Ende der Nazidiktatur in Deutschland wieder unverhohlen die Kerneuropaidee unter deutscher Vorherrschaft ausformuliert worden war.

Bemerkenswert ist im obigen Zitat der Verweis auf die "äußerliche" Gleichberechtigung der Staaten. Das erinnert frappant an die (noch) ungelöste Debatte innerhalb der Europäischen Union um die Forderung Berlins an den Verfassungskonvent nach einer faktischen Verdopplung seiner Stimmanteile bei zentralen Entscheidungsprozessen. Das liefe faktisch darauf hinaus, daß die Achse Paris-Berlin wichtige Entscheidungen innerhalb der EU blockieren oder gegenüber den weniger bevölkerungsreichen Staaten leichter durchsetzen könnte. Als weiteres Mittel des deutschen Vormachtstrebens nennt Pieper die von Bonn, bzw. Berlin seit Jahren unermüdlich forcierte Abkehr vom Konsensprinzip hin zu Mehrheitsentscheidungen, durch die kleinere EU-Staaten überstimmt und sogar gegen ihren Willen in bewaffnete Konflikte hineingezogen werden können.

Pieper fordert "eine verschärfte Kritik an der EU" als Ganzes, "als politisches Projekt", da durch die bloße Kritik an Einzelaspekten wie dem Wirtschaftsliberalismus oder der Abschottung gegenüber Flüchtlingen kein inhaltlich klarer Widerstand entstehen könne, der sich deutlich von "reaktionärer, nationalistischer Kritik" abgrenzte. Und in strikter Ablehnung zu der von einigen Linken vorgeschlagenen Idee, den US-Imperialismus mit einem konkurrierenden EU-Imperialismus Zähne und Klauen ziehen zu können, resümiert der Autor:

Eine EU, die nur danach trachtet, die Kapitalverwertungsbedingungen zu verbessern und dafür die Lebensbedingungen der überwiegenden Mehrheit der Menschen in ihren Mitgliedsstaaten verschlechtert, eine EU, die bei der Ausbeutung der Welt nicht nur mitmischt, sondern zunehmend die Führung übernimmt und auch militärisch eine Weltmachtrolle anstrebt, eine EU, die weltweit für Hunger und Kriege verantwortlich ist, die aber die daraus entstehenden Migrationbewegungen an ihren Grenzen mit Polizei- und Militärgewalt aufzuhalten gedenkt, kann niemals eine Alternative zum 'Weltpolizisten' USA sein. Die EU muss bekämpft werden. (S. 35/36)

Im zweiten Beitrag der Broschüre steht Christiane Schneider mit ihrem Beitrag "EU auf dem Weg zur 'Supermacht' - 'Kerneuropa' und Militarisierung" der entschlossenen Ablehnung der Europäischen Union durch ihren Vorgänger in nichts nach. Auch sie führt zahlreiche historische Bezüge für ihre Thesen an, wenngleich sie sich auf die jüngere Geschichte beschränkt.

Einen Meilenstein auf dem Weg zur militarisierten EU bildete sicherlich die Anerkennung des jugoslawischen Teilstaates Kroatien durch die Kohl-Regierung Anfang der neunziger Jahre. Bald darauf waren in Jugoslawien Bruderkriege entbrannt, und die deutsche Anerkennungspolitik diente der NATO als Steilvorlage, ihre Bomber von der Kette zu lassen. Ein Interventionsvorwand gab den nächsten, und heute sind die meisten Balkanstaaten unmittelbar "Schutzbefohlene" der NATO oder wirtschaftlich nahezu vollständig auf EU-Brüssel orientiert. Das von den Sezessionskriegen noch vergleichsweise geringfügig betroffene Slowenien, einst Teil des blockfreien Vorbildstaates Jugoslawien, wird sogar im kommenden Monat der Europäischen Union angegliedert.

Die prognostische Qualität von Schneiders Aussagen läßt sich an einigen Beispielen belegen, von denen hier nur zwei erwähnt werden sollen. So schreibt die Autorin, daß die Situation in den neuen Protektoraten auf dem Balkan unsicher bleibe, was "wiederum die andauernde Präsenz der NATO, bzw. der EU-Interventionstruppe" verlange (S. 53). Wie sehr dies zutrifft, zeigt die jüngste Gewalteskalation in Kosovo, wo sich offensichtlich seit dem Bombenkrieg 1999 nicht das geringste hinsichtlich einer Konfliktbewältigung unter NATO-Protektion getan hat.

Das zweite Beispiel betrifft die vom EU-Außenrepräsentanten und Ex- NATO-Generalsekretär Javier Solana entworfene Nachbarschaftsstrategie, die seit dem EU-Ministerratstreffen Mitte März 2004 ebenfalls verwirklicht ist und sich heute "Solidaritätsklausel" nennt. Damit verpflichten sich die EU-Mitglieder zum militärischen Beistand, der nicht nur bei einem Angriff durch einen anderen Staat eingefordert werden kann, sondern aufgrund der Willkür des Terrorismusbegriffs auch bei mutmaßlichen Bedrohungen durch Volksgruppen, Organisationen oder Personen. Schneider kommt zu dem Schluß, daß sich die EU auf eine "letztlich endlose Kette von europäischen Grenzkriegen bzw. Bürgerkriegen an der Peripherie, außerhalb oder auch innerhalb der EU- Grenzen" (S. 53) vorbereite, wobei die Union ein "System von Staaten erster, zweiter und dritter Ordnung" errichte, die an ihren unterschiedlichen Einflußmöglichkeiten auf die Entscheidungen Brüssels zu erkennen seien.

Solche Analysen wirken fast prophetisch angesichts des Hungeraufstands in der Slowakei unter der verarmten Bevölkerung der Roma und der knüppelharten Antwort der neoliberalen Musterschüler in Bratislava, die den Aufruhr durch massiven Einsatz der Sicherheitskräfte unterdrückten. Wieso es damals keine Kritik seitens der EU-Mitgliedstaaten an dieser unverhohlenen Ausübung staatlicher Gewalt hagelte, ist nur demjenigen schleierhaft, der noch immer an das Ideal der EU als Bündnis gleicher Staaten glaubt. Wäre nicht zu fragen, warum vor einigen Jahren das EU-Mitglied Österreich nur deshalb präventiv sanktioniert wurde, weil eine rechtslastige FPÖ als kleiner Koalitionspartner der Konservativen an die Regierung kam, während demgegenüber jetzt das rassistisch-repressive Vorgehen des Beitrittskandidaten Slowakei nicht einmal eine müde Debatte in der EU auslöste, geschweige denn, daß die Regierung Dzurindas wegen ihrer eklatanten Verletzung der Menschenrechte noch viel eher hätte abgestraft werden müssen? Unruhen in der Peripherie der EU sind systemimmanent und fordern scheinbar zwingend militärische Interventionen, wie von Schneider angekündigt. Der Aufstand in der Slowakei dürfte sogar nur ein kleines Vorgeplänkel zum kommenden Gezerre zwischen dem "Gravitationszentrum" und allen anderen sein, die der Vereinnahmung durch den "Ereignishorizont" nicht mehr entkommen können.

Die Autorin schreitet in ihrem Aufsatz zitatenreich die verschiedenen Stufen der Militarisierung der EU ab, angefangen vom Jugoslawien-Krieg über das SACEUR-Abkommen zum Einsatz des Eurokorps und die Verträge von Maastricht und Nizza bis hin zum "Pralinengipfel" Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs vor gut einem Jahr. Sie verweist auf die Bestrebungen der EU, die Trennung von Polizei und Militär aufzuheben, und demaskiert die ablehnende Haltung Deutschlands und Frankreichs gegenüber dem Irakkrieg als "infamen" Versuch, die eigene Militarisierung und das eigene Hegemonialstreben im Schatten der USA voranzutreiben. Aus der Fülle an Belegen, die von der Autorin vorgebracht werden, entsteht das deutliche Bild, daß immer dann, wenn deutsche oder französische Politiker von einer "gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sozialpolitik" sprechen, in Wirklichkeit "Kerneuropa" gemeint ist. Und zwar ein Kerneuropa, das nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch mit den USA gleichziehen will.

Holger Kuhr setzt sich unter der Überschrift "Peripherisierung und avantgardistische Finalität - Die Berliner Europa-Politik und die EU- Osterweiterung" mit den Mitteln und Mechanismen der wirtschaftlichen und ideologischen Anbindung der mittelosteuropäischen Länder an den Kernraum der Europäischen Union, respektive Deutschlands auseinander. Die EU-Kandidatenländer hätten ihren Außenhandel vollkommen neu ausgerichtet und seien zu "verlängerten Werkbänken" der deutschen Industrie verkommen, schreibt Kuhr und verdeutlicht anhand ausgesuchter Beispiele, daß die Osterweiterung längst stattgefunden hat. So wurden in den ostmitteleuropäischen Staaten bereits in den neunziger Jahren die Währungen abgewertet, die Staatshaushalte in die Schuldenfalle getrieben und Industrie- und Agrarproduktionen gezielt zerstört. Kuhr spricht in diesem Zusammenhang zurecht von "quasi- kolonialen Strukturen" (S. 85), und er stellt klar:

Bei der Aufnahme osteuropäischer Staaten in die EU geht es der deutschen Politik nicht in erster Linie um die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung dieser Länder. Es geht nicht nur um zukünftige neue Absatzmärkte, sondern auch darum, sich in ganz Europa politisch als Ordnungsmacht durchzusetzen. (S. 58)

Der Autor versucht in seinem Beitrag ein spezifisch völkisches Interesse Deutschlands zu belegen, was jedoch an einigen Stellen allzu gezwungen wirkt. Wenn er schreibt, daß das Projekt EU-Osterweiterung dazu diene, einen deutsch dominierten europäischen Großwirtschaftsraum zu schaffen, dann belegt er das wohl durch zahlreiche Zitate. Wenn er jedoch konstatiert, daß für die deutsche Außenpolitik "das völkische Prinzip ein antreibendes Moment und zugleich ein Spezifikum (ist), das in der britischen, französischen oder US-amerikanischen Politik in dieser Form nicht auftaucht" (S. 67), dann wäre es angeraten gewesen, dies genauso detailliert zu belegen wie bei seinen anderen Thesen.

Selbstverständlich gibt es eine Konkurrenz zwischen Deutschland, Frankreich, Britannien, USA, etc. - schließlich ist Imperialismus Inbegriff der Konkurrenz -, aber es stellt sich doch die Frage, wem mit einer Überbetonung der spezifischen nationalen Ausprägungen des Imperialismus gedient ist, wenn sich dessen Konsequenzen gleichen. Könnte nicht das vermeintlich "völkisch" motivierte Hegemonialstreben Deutschlands genauso wie der Globalismus des angloamerikanischen Kulturraums auf eine Gesellschaft hinauslaufen, deren wichtigstes Merkmal in der Unangreifbarkeit der vorherrschenden Ordnung besteht, in welcher wiederum das Prinzip der Herrschaft des Menschen über den Menschen in bislang unerreichter Totalität verwirklicht wurde? Bei einer solchen Zukunft braucht ein möglicherweise völkischer Charakter deutschen Hegemonialstrebens nicht besonders betont zu werden. Zumal sich in Europa und weiten Teilen der Welt gegenwärtig nicht der deutsche, sondern der angloamerikanische Nationalchauvinismus durchsetzt, sei es in Form sprachlicher, kultureller, ökonomischer, währungstechnischer oder administrativer Vorherrschaft.

Vieles von dem, was Pieper, Schneider und Kuhr in "Die EU, 'Kerneuropa' und Osterweiterung" behandelt haben, konnte an dieser Stelle keine Erwähnung finden. Und sicherlich gäbe es über die Broschüre hinausgehend noch sehr viel mehr an der Europäischen Union zu kritisieren - beispielsweise die Folgen der EU-Osterweiterung für die hiesigen Arbeitnehmer, die ohnehin aufgrund des Abbaus staatlich gewährter Versorgungsansprüche bei gleichzeitiger Einschränkung ihrer bürgerlichen Freiheiten unter zunehmenden Druck geraten, bis zur völligen Austauschbarkeit in Paßform gezwungen und dem Produktionsgetriebe zur finalen Verwertung zugeführt werden -, aber die Broschüre erhebt auch nicht den Anspruch, die Europäische Union in all ihren Facetten kritisieren zu wollen.

Die administrativen Strukturen und gesetzgeberischen Prozeduren der EU sowie ihre suprastaatlichen Ziele werden von der Allgemeinheit noch weniger durchschaut als schon auf nationaler Ebene, was sicherlich mit dazu beigetragen hat, daß die Linke sehr spät und nur zögerlich auf das EU-Thema eingestiegen ist. Nach der Lektüre der vorliegenden Broschüre besitzt der interessierte Leser eine brauchbare Basis, um selbst noch Entwicklungen, die nach ihrem Erscheinen eingetreten sind - wie Joseph Fischers vermeintliche Abkehr vom Kerneuropakonzept oder die Einsetzung eines EU-Terrorismusbeauftragten - argumentationssicher bewerten zu können. Die vorliegende Broschüre ist im besten Sinne meinungsbildend, von der Schärfe einer Streitschrift, und die Autoren machen keinen Hehl aus ihrer Ablehnung des Leviathans, der unter dem Titel Europäische Union firmiert, aber mit einer Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten so wenig zu tun hat wie einst die Überseekolonien mit den europäischen Kolonialmächten.


Frank Pieper (Hg.), Holger Kuhr, Christiane Schneider
Die EU, 'Kerneuropa' und Osterweiterung
Geschichte, Entwicklung und Perspektive eines imperialistischen Blocks
unter deutsch-französischer Hegemonie
GNN Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung,
Verlagsgesellschaft in Schleswig-Holstein/Hamburg m.b.H.,
1. Auflage, Oktober 2003
112 Seiten, 5,- Euro