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REZENSION/158: Jürgen Elsässer - Der deutsche Sonderweg (Politik) (SB)


Jürgen Elsässer


Der deutsche Sonderweg

Historische Last und politische Herausforderung



Wäre der "deutsche Sonderweg", der Bundeskanzler Schröder von der Unionsopposition vorgehalten wurde, nachdem er ein deutsches Nein zum Irakkrieg zur zentralen Plattform seines Wahlkampfes erklärt hatte, tatsächlich im Sinne seiner historischen Negation eingelöst worden, dann sähe die Welt heute anders aus. Hätte sich die Bundesrepublik mit allen ihr zur Gebote stehenden rechtlichen und diplomatischen Mitteln gegen einen Angriff auf den Irak gestellt, dann bestände tatsächlich jenes tiefe Zerwürfnis mit den USA, das der Regierungskoalition von ihren Gegnern in Politik und Medien vorgehalten wurde. Statt dessen jedoch setzt sich die vertraute, allerdings an die deutlich gesteigerte Aggressivität der Großmacht USA angepaßte Gefolgschaft fort, die die Bundesrepublik seit ihrer Gründung bestimmt. Alle divergierenden bis konkurrierenden Interessen ökonomischer und hegemonialer Art ordnen sich der deutschen Teilhaberschaft am faktischen Weltgewaltmonopol der Vereinigten Staaten nach, und das nicht nur, weil die deutsche Wirtschaft auf existentielle Weise mit der amerikanischen verwoben ist.

Die USA sollen durchaus globaler Gewaltdienstleister für den deutschen und europäischen Imperialismus bleiben, der im Gegenzug nicht nur logistische Hilfe für den Kampfeinsatz beisteuert, Besatzungsaufgaben erfüllt, den Wiederaufbau der Institutionen organisiert und humanitäre Nachsorge leistet, sondern auch einen Part bei der Inszenierung des transatlantischen Zwistes übernimmt, der bei weitem nicht hält, was er dem Rest der Welt verspricht. Den ökonomisch räuberischen wie militärisch aggressiven Vormachtanspruch der USA durch eine angeblich friedliche europäische Zivilgesellschaft zu konterkarieren ist eine Diversionsstrategie von beträchtlicher Täuschungskraft, die allen Ländern und Gruppen, die sich vom rücksichtslosen Übergriff Washingtons überfahren fühlen, vorgaukelt, es gäbe im Kartell der Staaten des Westens eine für Dritte auszubeutende Spaltung. Im Endeffekt jedoch bleibt der innerimperialistische Streit stets unterhalb der Schwelle eines Zerwürfnisses, das das Projekt der Nordamerika und Westeuropa begünstigenden kapitalistischen Globalisierung ernsthaft gefährden könnte.

Jürgen Elsässer will das innere Zusammenspiel der USA und EU bei der Sicherung dieser Verwertungsordnung gerne zugunsten einer grundlegenden Umorientierung der deutschen Außenpolitik aufgehoben wissen, ist sich jedoch der Schwierigkeit bewußt, auf die im institutionellen Gefüge der Staaten und supranationalen Organisationen tief verankerten sowie ökonomisch und machtpolitisch immer wieder bestätigte Zwangslagen mit anderen Mitteln als eben gewalttätigen Einfluß zu nehmen. So wirkt der optimistische Ausklang seines Buches "Der deutsche Sonderweg. Historische Last und politische Herausforderung" angesichts der von ihm aufgezeigten Unwägbarkeiten und Gefahren eines Versuchs, die strikte Westbindung der Bundesrepublik durch ein Bündnis mit Frankreich und Rußland zu ersetzen, wenig überzeugend. Schließlich legt der Autor selbst dar, daß sich die aggressive Politik Deutschlands seit der sogenannten Wiedervereinigung "in der Regel mit Unterstützung oder im Windschatten der USA durchgesetzt" habe. Nimmt man nur die diplomatischen Winkelzüge und militärischen Störmanöver, mit denen die USA den Einfluß der EU auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens unter dem Deckmantel des gemeinsamen Krisenmanagements begrenzt haben, dann erhält man einen Begriff davon, was ein ernstgemeinter Bruch mit Washington für Erschütterungen und Verwerfungen provozierte.

Zu der von Elsässer entworfenen "dritten Position" zwischen Kooperation und Konfrontation mit den USA muß leider festgestellt werden, daß die Chancen auf Verwirklichung einer "Hellenisierung des Kontinents", in dem die "Liaison Paris-Berlin-Moskau nicht als Kern einer Militärachse, sondern als Knoten in einem eurasischen Friedensnetz" in Erscheinung träte, mehr als gering sind. "Eine Zone des Friedens von Brest bis Wladiwostok. Ein Bund souveräner Republiken, so wie das antike Griechenland ein Bund freier Städte war - das alte Europa in seiner schönsten Gestalt" - so sympathisch diese Vision sein mag, so sehr liegt sie mit den Interessen des europäischen Kapitals, das sich in der Wahl seiner Methoden, nicht jedoch seiner räuberischen Intention vom nordamerikanischen unterscheiden mag, über Kreuz.

Die sich im Rahmen des verfassungsgebenden Prozesses in Brüssel abzeichnende Zentralisation der EU, in der die von Elsässer abgehandelte Mitteleuropa- respektive Kerneuropadoktrin Urständ feiert, der autoritäre und undemokratische Charakter des sich formierenden supranationalen Regimes, das den chauvinistischen und rassistischen Qualitäten des Sicherheitsstaats im Zeichen des Antiterrorkampfes zu neuer, alle Bürgerrechte in Frage stellenden Blüte verhilft, und der von der Zwanghaftigkeit kapitalistischer Expansion gespeiste Drang der EU, nicht nur die Gesellschaften des Kontinents, sondern auch die Länder des Südens mit neoliberaler Kahlschlaglogik zu veröden, sind Triebkräfte wie Auswirkungen einer Krisendynamik, die jedes einer ebenfalls nicht gerade menschenfreundlichen europäischen Vergangenheit entlehnte Ideal bestenfalls als Camouflage seiner Widerlegung instrumentalisierte.

Elsässer selbst konstatiert, daß die Erfüllung dieser Vision wohl nur gegen die "herrschende Wirtschaftsordnung" möglich wäre, da Deutschland "für seine grenzenlose Exportorientierung ... der militärischen Absicherung" bedürfe. Völlig zutreffend stellt er fest, daß "der deutsche Sonderweg, seit der Wiedervereinigung im Bündnis mit den USA fortgeführt," ein "Weg in die Katastrophe" und der "Bruch mit Amerika" daher "das Gebot der Stunde" sei. Tatsächlich besteht für die EU nicht die unmittelbare Gefahr, durch eine Aufkündigung des subordinanten Verhältnisses zu den USA, das natürlich mit einer Auflösung der NATO einhergehen müßte, ins Visier amerikanischer Bombenschützen genommen zu werden. Im Unterschied zu anderen Weltregionen, die unter dem Diktat des big stick stehen, den schon US-Präsident Theodore Roosevelt als wirksamstes Mittel der amerikanischen Außenpolitik propagierte, kann es sich die EU leisten, den Absolutismus des Freund-Feind-Denkens, das keine neutralen Staaten mehr kennt, in Frage zu stellen.

Woher die Entscheidungsträger in den Konzernzentralen und Regierungen der Bundesrepublik und Europäischen Union allerdings die Motivation zu einer solchen Politik beziehen sollen, geht aus dem Buch Elsässers nicht hervor. Viel mehr ist die von ihm geleistete Abhandlung des "deutschen Sonderwegs" gerade nicht dazu geeignet, die hiesigen Eliten anderer Beweggründe als der der rücksichtslosen egomanischen Interessendurchsetzung zu verdächtigen. Gerade die bizarre Logik, die den führenden SPD- Außenpolitiker Klose unisono mit der nationalkonservativen Front um Stoiber, Schäuble und Ex-General Naumann sowie der Springer- Presse angesichts der von Bundeskanzler Schröder ausgegebenen Parole eines "deutschen Weges" am Irakkrieg vorbei fordern läßt, "nie wieder deutsche Sonderwege" zu beschreiten, ist bezeichnend für die seit 1990 immer unverhohlener befolgte Goebbels-Formel von der "Umwertung aller Werte".

Elsässers Buch läßt bei der Aufklärung über die Grundlagen eines deutschen Militarismus, der sich gerade an den eigenen Untaten zu neuer Aggressivität emporschwingt, nichts zu wünschen übrig. Die Aufmunitionierung deutscher Geschichtslast durch die Verwandlung der historischen Schuld an zwei Weltkriegen und dem Massenmord an den europäischen Juden in ein Guthaben an kinetischer Energie, mit der sich noch manche Bombe und Rakete in ihr fernes Ziel lenken lassen wird, das dokumentiert die universale Nutzbarkeit des deutschen Sonderwegs als "rhetorischen Totschläger".

Wo der Begriff außerhalb der legitimatorischen Rochaden und psychologistischen Kausalkonstrukte dieser demagogischen Verwendung Bestand hat, erklärt der Autor, der auch für die Tageszeitung "junge Welt" schreibt, in konziser Form. Sein Abriß der deutschen Geschichte unter dem Vorzeichen der Frage, seit wann und wieso überhaupt die Kategorie des Sonderwegs auf die tatsächlich recht kurze Existenz Deutschlands anzuwenden sei, kann aufgrund der guten Lesbarkeit und der Präsentation aller wesentlichen Stationen der Debatte insbesondere Einsteigern in die Thematik empfohlen werden. Elsässer legt dabei den Schwerpunkt auf die Ungleichzeitigkeit einer Entwicklung, in der ein vormoderner völkischer Nationalismus durch die Dynamik kapitalistischer Industrialisierung Widerspruchslagen erzeugte, die sich insbesonderen am antisemitischen Ressentiment entluden und damit konstitiv für die Judenvernichtung unter dem Nationalsozialismus waren.

Dankenswerterweise spart der Autor nicht mit Verweisen auf die dabei führende Rolle der deutschen Wirtschaft, die er durch ein bemerkenswertes Zitat des von Rechtsradikalen ermordeten Außenpolitikers Walter Rathenau dokumentiert, und auf das antibolschewistische Feindbild, in dem Großkapital, Nationalsozialismus und Nationalbourgeoisie zueinander fanden. Der ideologisch hochgradig aufgeladene Angriff auf die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs hat den Betroffenen einen Blutzoll abverlangt, der nach wie vor nicht annähernd die gleiche Würdigung erfährt wie der jüdische Holocaust und der bei Anlässen wie den Gedenkfeierlichkeiten zum 17. Juni 1953 geradezu revanchistisch umgedeutet wird. Auch das ungebrochen positive Verhältnis zur deutschen Ostkolonisation, die in der Erweiterung der EU ihre Fortsetzung findet, verweist auf die Kontinuität eines Sonderwegs, der sich gerade nicht durch die Ablehnung militärischer Gewalt auszeichnet.

Besonders interessant zu lesen sind Elsässers Ausführungen zu den Differenzen unter den Weltkriegssiegern im Vorfeld des Anschlusses der DDR an das Gebiet der BRD sowie zur deutschen Rolle bei der Zerschlagung Jugoslawiens, deren Vervollkommnung durch den Überfall der NATO auf das Land zu Beginn der ersten Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung alle Behauptungen Lügen straft, Schröder und Fischer unterschieden sich durch eine größere Abneigung gegen den Einsatz militärischer Gewalt von anderen deutschen Politikern. Nicht ganz ins Bild einer alles und jeden opportunistisch verwertenden Politik paßt allerdings Elsässers positive Bewertung des "Aufstands der Anständigen", hat die rot-grüne Bundesregierung doch mit der Besetzung antifaschistischer Themen nicht nur die Verschärfung der inneren Repression vorangetrieben, sondern sich auch einen Legitimationsfundus geschaffen, den sie dann in der vom Verfasser zu Recht scharf kritisierten Instrumentalisierung des Holocaust zur Durchsetzung des neuen deutschen Militarismus ausspielte.

Unbedingt zuzustimmen ist Elsässer, wenn er in Abgrenzung zur bürgerlichen Geschichtswissenschaft erklärt:

Von 1525 über 1848 bis 1918 gilt: Deutschland ist nicht auf Abwege geraten, weil es zu wenig Kaufleute, Unternehmer und Bankiers gab, sondern zu wenig Revolutionäre; nicht durch zu lange versäumten Kapitalismus, sondern durch dessen gescheiterte Überwindung.

Das diesem Mangel geschuldete und seit der Reichsgründung von 1871 bis heute ungebrochene Hegemonialstreben Deutschlands nicht zu unterschätzen ist der relevante Ertrag, den der außenpolitisch interessierte Leser aus der Lektüre des Buches "Der deutsche Sonderweg" ziehen kann.

Daß dieser Begriff gerade nicht auf eine Bundesrepublik anzuwenden wäre, die im Falle des Irakkrieges auf der Seite der Mehrheit aller Staaten und Bevölkerungen der Welt stand, die den faktischen Sonderweg der USA und Britanniens im UN-Sicherheitsrat in Frage stellte und die die Erbfeindschaft zu Frankreich wie den gegen Rußland gerichteten Slawenhaß aufkündigt, trifft zu, ist aber angesichts der fortschreitenden Militarisierung der deutschen Außenpolitik ein schwacher Trost. Die von Bundeskanzler Schröder propagierte "Enttabuisierung des Militärischen" schreitet mit Riesenschritten voran, wie die jüngsten Entwicklungen im Gefolge des Irakkriegs zeigen, der sich geradezu als Ausgangspunkt einer Konsolidierung agressiver westlicher Kriegspolitik erweist. Die NATO erfreut sich als globale Interventionsstreitmacht und Klammer transatlantischer Kooperation neuer Beliebtheit, die EU adaptiert die Präventivkriegsdoktrin Washingtons und stürzt sich in neokolonialistische Abenteuer. In direktem Zusammenspiel mit der militärischen Expansion nach außen wird die innere Sicherheit immer mehr zum Aktionsfeld der Geheimdienste und Streitkräfte, während Hilfesuchende aus den Ländern des Südens weit vor Europas Küsten auch mit militärischen Mitteln abgewehrt und in Lager eingewiesen werden sollen.

Die Bundesrepublik will bei der Aufteilung der globalen Einflußsphären auf keinen Fall den Anschluß verlieren und gehört in allen diesen Fällen, wenn nicht an vorderster Front des Schlachtengetümmels, dann zumindest auf dem diplomatischen Parkett zu den wesentlichen Protagonisten der Barbarisierung der Weltpolitik. Das von Elsässer für Jugoslawien und Afghanistan geltend gemachte "Modell der antagonistischen Kooperation", das die deutsche Wirtschaft zum Nutznießer des US-Bellizismus macht, hat Zukunft und zielt nicht nur auf pekuniären, sondern auch hegemonialen Zugewinn. Der nationale Sonderweg wird zur weltumspannenden Rollbahn, auf der die Krise in den Zentren kapitalistischer Modernisierung in den letzten Winkel der Erde exportiert wird, so daß sich ein Gegenentwurf kaum mehr in den vertrauten Kategorien der Blockbildung und Staatenkonkurrenz ansiedeln ließe.


Jürgen Elsässer
Der deutsche Sonderweg
Historische Last und politische Herausforderung
Diederichs im Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München, 2003
264 Seiten, 19,95 Euro.
ISBN 3-7205-2440-X