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REZENSION/104: Rolf Wirhed - Sportanatomie und Bewegungslehre (SB)


Rolf Wirhed


Sportanatomie und Bewegungslehre



Ich habe einige Jahre lang an der Turn- und Sporthochschule in Stockholm in einem Fach unterrichtet, das sich Bewegungslehre nannte. Das Fach behandelte die mechanischen Gesetze, die den technischen Ablauf sportlicher Übungen erklären. (...) Das Buch befaßt sich mit dem Körper unter dem Aspekt der Biomechanik. Es ist ein Anatomiebuch, das sich direkt an den Sportinteressierten wendet. Der Mangel an geeigneter Literatur hat dazu geführt, daß viele Übungsleiter und Trainer nicht über ausreichende anatomische und mechanische Kenntnisse verfügen. In den entsprechenden Kreisen war man sich dieses Mangels sehr wohl bewußt, und bei Kontakten mit verschiedenen Spezialverbänden zeigte sich dann auch ein großes Interesse auf diese Art der Literatur." (Vorwort)

Erst mit der Durchsetzung industrieller Fertigungsverfahren im 19., vor allem aber 20. Jahrhundert wurden Menschen dazu gebracht, über lange Fristen sich wiederholende, sehr eingeschränkte Bewegungen auszuführen, um sich, derart in den Produktionsprozeß eingespannt, ihr Überleben durch Arbeit zu sichern.

Aus der häufig spezifischen Belastung des Körpers entstanden für die Betroffenen gänzlich neue Probleme mit gesundheitlichen Schäden, die es in früheren, auf Subsistenzwirtschaft, Lehnsbauerntum und Handwerk gegründeten Gesellschaften noch nicht gegeben hatte. Das bedeutete nicht, daß die Menschen nicht auch zu der Zeit unter den körpermechanischen Belastungen litten, die mit den Tätigkeiten beispielsweise im Bewirtschaften von Land einhergingen, aber die körperlichen Verschleißerscheinungen im Zusammenhang mit den in industriellen Produktionsstätten abverlangten monotonen und auf immer höhere Leistungsausbeute getriebenen Bewegungsabläufen sahen anders aus.

Sehnen, Bänder, Gelenke, Muskeln, Nerven und Knochen waren in der Anatomie längst definiert, nun aber schienen die Kenntnisse aus dieser alten Wissenschaft auf einmal ungeahnte Bedeutung zu erlangen. Denn was nutzte es einem Besitzer industrieller Produktionsmittel, wenn seine angelernten und in ihren Bewegungen bereits vergleichsweise effizienten Arbeiter aufgrund bestimmter Verschleißfolgen beispielsweise der Handgelenkssehnen, der Lendenwirbelsäule oder des Nackens, um nur einige typische verschleißträchtige Körperbereiche zu nennen, zeitweilig oder sogar dauerhaft ausfielen?

Es lag also nahe, daß in den Industriegesellschaften auch Wissenschaftsdisziplinen entstanden und selbstverständlich ihre Berechtigung erhielten, die sich mit der Beschreibung, Prävention und Therapie von typischen gesundheitlichen Schäden im Zusammenhang mit Arbeitsplatzanforderungen befaßten. Eine der Forschungsrichtungen ist die Ergonomik, die "Wissenschaft von den Leistungsmöglichkeiten und -grenzen des arbeitenden Menschen sowie der besten wechselseitigen Anpassung zwischen dem Menschen und seinen Arbeitsbedingungen" (Duden, Fremdwörterbuch, 1980). In der Ergonomik wurden sowohl die Menschen den Produktionsbedingungen als auch diese den Menschen angepaßt, wobei es einer Schnittstelle bedurfte, um sowohl die Bedingungen des Arbeitsplatzes als auch den Menschen zu beschreiben. Ohne eine übergreifende Sprache wäre die Anpassung nicht durchführbar gewesen.

Den Arbeitsplatz zu beschreiben ist einfach. Das Bestreben der marktwirtschaftlichen wie auch sozialistischen, bzw. kommunistischen großindustriellen Betriebe ging ohnehin in die Richtung, Produktionsmittel und Produkte weitgehend zu normieren; die Maßstäbe entstammten der Physik und stützten sich zumeist auf Länge, Breite, Höhe, Gewicht oder auch Zeit. Die vorindustriellen Beschreibungsmodelle zum Menschen hingegen waren sprichwörtlich noch nicht so sehr auf den Punkt gebracht. Dennoch bot sich die Physik auch aus historischen Gründen als gemeinsames Sprachsystem zur Beschreibung sowohl der Arbeitsbedingungen als auch des Menschen an, wie die folgende Definition von Arbeit aus dem vorliegenden Buch "Sportanatomie und Bewegungslehre" verdeutlicht:

Hebt man einen Gegenstand von 10 kg vom Boden und setzt ihn auf einem 1 m hohen Tisch ab, hat man physikalisch gesehen eine Arbeit von 100 Nm (Newtonmeter) geleistet. Arbeit (W) wird als das Produkt aus Kraft (F) und der mit dieser Kraft zurückgelegten Strecke (s) definiert. (S. 43)

Die Bewegungslehre benutzt nicht nur die gleiche physikalische Sprache wie die Ergonomik, mit ihr wird auch das gleiche Ziel der Leistungsoptimierung verfolgt. In seinem Vorwort schreibt Rolf Wirhed dazu:

Das Interesse für die Analyse verschiedener Bewegungsphasen ist in den letzten Jahren vor allem in den technischen Zweigen (Leichtathletik, Turnen, Tennis usw.) deutlich gestiegen. Auch im Freizeitsport hat man erkannt, daß man durch die richtigen Bewegungen den Trainingseffekt steigern und das Verletzungsrisiko senken kann.

Anstelle des Arbeitsbegriffs aus der Ergonomik ist hier lediglich der des Trainings getreten, was jedoch prinzipiell keinen Unterschied macht. Wer wollte bestreiten, daß an Hochleistungssportler extreme Leistungsanforderungen gestellt werden und die Beteiligten auch bereit sind, sich häufig weit über das noch als gesund erachtete Maß hinaus zu verschleißen? Nahezu 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche sind sie damit befaßt, ihren Körper einerseits so zu formen, daß er auf Belastungen mit einer potentiellen Leistungssteigerung antwortet, andererseits aber die Grenze zur Schädigung niemals überschreitet. Daß dies eigentlich nur sehr selten gelingt und sich die Hochleistungssportler entweder kurz vor dem schmalen Grat ihrer Leistungsspitze bewegen oder ihn überschritten haben, zeigt die Verletzungshäufigkeit in diesem Beruf.

Der Freizeitsport hat ebenfalls erkannt, daß durch "richtige Bewegungen" der Trainingseffekt (also die Leistung) gesteigert und das Verletzungsrisiko gesenkt werden kann, wie Wirhed ausführt. Man kann auch sagen, daß der regenerative Nutzen, mehr noch, daß die Notwendigkeit zur Regeneration erkannt wurde und deshalb der Freizeitsport im vorigen Jahrhundert an Bedeutung gewonnen hat. Inzwischen macht sich in Hochindustriestaaten wie Deutschland sogar die Tendenz breit, Freizeitsport in sein Gegenteil zu verkehren und ihn gegen den Menschen anzuwenden: Regeneration außerhalb der Arbeitszeit wird zur Pflicht, und wer sich dem widersetzt (indem er raucht, sich nicht adäquat ernährt oder ein ganz und gar bewegungsarmes Leben bevorzugt), muß mit Sanktionen wie der Verweigerung bestimmter Krankenkassenleistungen rechnen.

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, daß sich ein Buch über Bewegungslehre sowohl an den Übungsleiter und Trainer als auch den Freizeitsportler wendet; beide haben das Interesse an der Bemessung ihrer Leistungsfähigkeit. Als ehemaliger Universitätsdozent an der Turn- und Sporthochschule Stockholm, der das Fach Bewegungslehre unterrichtet hat, ist Rolf Wirhed erwartungsgemäß so sehr von der Nützlichkeit der Erkenntnisse seiner Fachrichtung überzeugt, daß er ein grundlegendes Problem vollständig vermeidet: die biomechanischen Modelle eignen sich nur bedingt zur Beschreibung körperlicher Vorgänge.

Die Idealisierung von Bewegungen mit Hilfe physikalischer Größen wie Schwerkraft, Drehmoment, Arbeit, Leistung, Reibungs- oder Luftwiderstandskraft, Schwerpunkt, Beschleunigung, Impuls, Trägheit, etc., denen der Autor in seinem Buch jeweils eigene Abschnitte widmet, suggeriert Vergleichbarkeit zwischen Bewegungen und damit auch Menschen, aber gerade wegen dieser Abstraktion bleiben die Beschreibungen zwangsläufig ungenau. Wirhed beschreibt biomechanische Prinzipien, mit denen die Menschen vergleichbar werden, aber der Anspruch, durch die Berechenbarkeit gesundheitliche Verschleißfolgen vermeiden zu können, wird nicht erfüllt.

Doch das Fachgebiet der Bewegungslehre geht über das Maß einer normierten Beschreibung von Sport- und Produktionsbedingungen weit hinaus. Schließlich stellt sie nicht das Umfeld von Sport und Arbeit in den Mittelpunkt der Beschäftigung, sondern den menschlichen Körper. Die Geschichte der wissenschaftlichen Spekulationen, wie der menschliche Körper aufgebaut sei und funktionieren soll, ist die der analytischen Zergliederung des Körpers. Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. machten sich die ersten Anatomen auf, deren Namen sich von ihrer Tätigkeit des Zerschneidens von Körpern ableitet, den menschlichen Körper zu erforschen. So ist es vor allem Herophilos und seinem Schüler Erasistratos zu verdanken, daß der menschliche Körper nicht mehr als eine Gesamtheit aufgefaßt wurde. Im Sinne der Aufgliederung des Körpers wurde der Begriff der Körperteile geprägt. Doch damit war noch längst nicht der Endpunkt des wissenschaftlichen Eifers erreicht, sondern stellte den Ausgangspunkt zu einer bis dahin nicht gekannten Form der Forschung dar. Die Körper von Verstorbenen - auch hier ist es kein Zufall, daß der Begriff des Körpers sich etymologisch von dem der Leiche ableitet -, deren die Anatomen habhaft werden konnten, wurden zerschnitten, so daß eine weitere Zergliederung des Körpers in seine Bestandteile vorgenommen werden konnte.

Es wurden unter anderem die Knochen, Muskeln und Eingeweide aus den Körpern herauspräpariert und deren Körperhöhlen dargestellt. Doch waren diese Strukturen für die damaligen Anatomen noch keine Gewebe, sondern Organe und Organverbände, die die ihnen zugewiesenen Funktionen zu erfüllen hatten. Die weitere Zergliederung in einzelne Gewebe bis hin zum Aufbau der einzelnen Zellbestandteile wurde erst später vorgenommen, stellte jedoch eine konsequente Weiterentwicklung der damaligen Vorgehensweise dar.

Das Denken, das die Wissenschaftler - damals wie heute - beflügelte, waren mechanische Vorstellungen und Konstruktionen, die dann auf den menschlichen Organismus angewendet wurden. So wurde der Muskulatur die Funktion der Kraftverursachung zugewiesen, während das Gerüst der Knochen die Aufgabe der Kraftübertragung des durch sie stabilisierten Körpers zu übernehmen hatte.

Auch wenn die Anatomie in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens vor allem eine beschreibende Wissenschaftsdisziplin darstellte, wurden schon in der Antike mit ihr Konzepte und Modelle transportiert, die ein Abbild der damaligen gesellschaftlichen Zustände als auch des technologischen Entwicklungsstands waren. So beruhte die Vorstellung, daß vor allem dem Skelett - von griechisch skeletón "Mumie" - eine Trägerfunktion des Körpers zuzuschreiben sei, ursprünglich darauf, daß an Mumien beobachtet werden konnte, daß die menschenähnliche Form der Körper auf Grund der noch in den Mumien enthaltenen Substanz gesichert wurde. Auch fanden die Anatomen der Antike bei ihren zerschneidenden Untersuchungen unter anderem Fleischklumpen unterschiedlicher Größe, Form und Farbe. Um diese in ein Ordnungsgefüge einzubinden, formten sie den Begriff der Organe - gr. "órganon", was so viel wie "Werkzeug, Hilfsmittel" bedeutet -, die nach ihrem Verständnis nicht nur die Körperteile mit einer einheitlichen Funktion wie die Organe des Bauchraums und des Brustkorbs umfaßten, sondern ebenso die Muskeln einschlossen. Schon die Entlehnung des Namens aus dem Handwerk zeigt deutlich die zugrundeliegenden Vorstellungen, denen die antiken Anatomen folgten, und woher sie ihre Analogien nahmen. Gleichzeitig entsprach diese Sichtweise des menschlichen Körpers dem Gesellschaftssystem der Antike mit seiner Zweiteilung in Sklaven und ihren an der allgemeinen Arbeit nicht beteiligten Besitzer. So erstaunt es nicht, daß von altersher der Sklavenkörper, also der Körper, welcher durch dauernde Belastungen spezifische, muskuläre Ausprägungen zeigte, als Leistungsbringer favorisiert wurde.

Im Jahr 1543 revolutionierte Andreas Vesal mit seiner anatomischen Abhandlung "De Humani Corporis Fabrica" nicht nur die Anatomie, sondern die gesamte wissenschaftliche Lehre. Er teilte den Körper in verschiedene Hauptsysteme (Knochenbau, Muskeln, Blutgefäße und innere Organe) ein, denen er unterschiedliche Funktionen zuordnete. Sein neues Ordnungsgefüge entsprach mehr dem Bild, das die damaligen - und heutigen - Wissenschaftler vom Menschen hatten, nämlich dem einer Maschine, deren defekte Einzelteile man beliebig reparieren oder austauschen konnte. Die Einzelteile wie Knochenstrukturen und Gelenke wurden von den Anatomen an sezierten Leichen definiert.

Heute gilt Vesal als Begründer der funktionellen Anatomie. Seine Sichtweise des menschlichen Körpers als übersichtlicher Baukasten kompatibler Funktionsträger trägt sich bis heute durch und diente der Disziplin der Bewegungslehre als Matrix. Die Ersatzteilmedizin mit ihren Spezialisierungen wie die Chirurgie, die Transplantationsmedizin oder die Orthopädie stellen die Übertragung von Vesals Vorstellungen auf die heutige Situation dar. Dabei wird der Körper als ein kybernetisches System von Einzelkomponenten angesehen, die, wenn sie im Laufe der Beanspruchung schadhaft werden oder sich einfach abnutzen, repariert oder ausgetauscht werden. Die Adaptationen zu den Produktionsbedingungen und -verhältnissen in einer industriellen Gesellschaft liegen hierbei auf der Hand.

Und während sich die Bewegungslehre als konsequente Fortführung der funktionellen Anatomie darstellt, muß die Sportanatomie als der nächste Schritt der Entseelung des menschlichen Körpers angesehen werden. Denn heute wird der menschliche Körper nicht mehr nur als ein Produktionsmittel im Arbeitsprozeß angesehen, das unter dem Motto der Regeneration in der Freizeit und beim Freizeitsport immer zur besten Verfügung gehalten zu werden hat. Er ist selbst zum Produkt geworden, dem die Industrie ihre Aufmerksamkeit schenkt. Begriffe wie Körperkult und Funsport seien hier die Stichworte.

Ging Michel Faucaults Studie über das Wachen und Strafen noch davon aus, daß die frühe Industriegesellschaft mit Hilfe von Drill und Dressur, Übungen und Prüfungen bis dahin unbekannte Körpertechniken entwickelte und einen gelehrigen, seine Fähigkeiten immer mehr steigernden Körper fabrizierte, scheint heute zumindest in den industriellen Ländern Europas und Nordamerikas der Drill schon so weit verinnerlicht worden zu sein, daß es kaum noch eines äußeren Anstoßes bedarf. Automatengleiche Arbeiter, exerzierende Soldaten und problemlos funktionierende Familienmitglieder entsprechen in der heutigen Generation junger Menschen, denen letztlich die Erlangung eines Sklavenkörpers zur verinnerlichten Maxime geworden ist, nicht mehr dem Bedarf der Gesellschaft.

Ich glaube, daß heute der Sport eine Rolle spielt, die ihn, man kann fast sagen, ins Zentrum der Gesellschaft bringt. Also nicht nur, weil er so viel Zuschauerinteresse anzieht, sondern weil er ein ganz bevorzugter Modellgeber für die Körpergestaltung ist. Und dann kommt eines hinzu: Es gibt inzwischen eine regelrechte Industrie der Körperformung. Die ist viel wirkungsvoller als alle Schönheitschirurgie und Brigitte-Diäten zusammengenommen. Das sind Fitneßstudios, das sind City-Marathons, die großen Sportevents, die ganzen Sportveranstaltungen, die in Golfklubs veranstaltet werden. Wo es immer darum geht, daß es bestimmte Modelle gibt, die oft auch an den Wänden dann der Fitneßstudios oder Klubhäuser hängen. Oder die im Fernsehen ständig auftreten, wo es sogar darum geht, deren Bewegungen nachzuahmen, wenn man an Golf-Vorbilder denkt - Tiger Woods mit seinen fließenden, weichen, geschmeidigen Bewegungen. Oder die Bewegungen der Basketballer, die bei Jugendlichen ja dieses Ghetto-Image hervorrufen. Rollende Schultern, schleppender Gang usw., sehr kalifornisch. Das sind Möglichkeiten, die vom Sport angeboten werden, die jetzt vom 12jährigen Jungen oder Mädchen bis hin zum 60jährigen Steuerberater mit großer Begeisterung aufgenommen und nachgeahmt werden. (Gunter Gebauer, Sozialphilosoph)

Mit dieser Entwicklung hat der Sport seine Rolle erweitert. Während er ursprünglich Bewegungen aus Arbeit und Alltag wie das Laufen, Springen oder Werfen nachahmte und sie zu einer eigenen Kunst stilisierte, ist er heute zum Vorbildgeber für den Alltag geworden. So geben Leistungssportler die Grenzen des Erreichbaren vor und normieren es damit. Gleichzeitig wird auch der menschliche Körper normiert, indem nach Maßstäben der Sports Bedingungen und Gesetze für seine Gestaltung aufgestellt werden. Auch hier stößt man wieder auf den Sklavenkörper, der heute mehr denn je zum Ideal aller Bestrebungen erhoben wird. Auch wenn Wirhed mit seinem Bezug zum Freizeitsport - und nicht Funsport - auf dem ersten Blick etwas antiquiert wirkt, erfüllt er mit seinem Buch "Sportanatomie und Bewegungslehre" seine Funktion als Wegbereiter der modernsten Ausprägung des Körperkults. Auch bei ihm wird dem Sportler- bzw. Sklavenkörper bedingungslos gehuldigt. So taucht bei keinem seiner zahlreichen Abbildungen, die im Zeichen der political correctness abwechselnd weibliche und männliche Figuren zeigen, ein dicklicher Freizeitsportler auf. Ohne diesen Aspekt der Körperlichkeit weiter zu thematisieren, zeigt er in seinen Kapiteln über die "Grundregeln der Mechanik" und der "Biomechanik im Sport", welche Körperform er favorisiert. So legen seine Aussagen zur Schwerkraft und zum Drehmoment nahe, daß leichte Menschen weniger Widerstand zu überwinden hätten und daher zu höheren sportlichen Leistungen befähigt seien.

Daß Wirhed damit eine weit verbreitete Sichtweise vertritt, macht es vielen Lesern sicherlich leicht, sich in seinen Aussagen getroffen und repräsentiert zu sehen. Denn auch wenn bemängelt werden kann, daß der Autor nicht die von ihm verwendeten Modellvorstellungen der Biomechanik und Anatomie auch als solche darstellt, ist diese Form der Darstellung heute in der Wissenschaft so üblich geworden, daß ihm dies kaum vorgehalten werden kann, ohne Kritik an der gesamten Wissenschaft zu üben.

Ich hoffe sehr, daß die Beispiele und Ideen des Buches für die Leser (Übungsleiter, Trainer, Turnlehrer, Krankengymnasten) anwendbar sind. Das Buch ist z. B. als Lehrbuch in der Sportpädagogik geeignet. Für naturwissenschaftlich interessierte Schüler ist das Buch eine interessante Lektüre für Referate und Trainingsplanung im Bereich des Sports. (s. Vorwort)

Wirhed geht es dabei nicht um die direkte Disziplinierung der Sporttreibenden oder der von ihm immer wieder angeführten Freizeitsportler, sondern er setzt eine Stufe höher - sozusagen auf der Metaebene - an. Wer auf Grund schulischer, universitärer oder auf Grund einer Tätigkeit als Trainer auftretender Anforderungen nach einem Lehrbuch sucht, in dem ihm das Basiswissen zu Modellen und Konzepten der Biomechanik und Anatomie auf leicht verständliche Weise nahegebracht wird, der wird mit dem vorliegenden Buch gut bedient. Der Text ist sachlich, aber selbst für physik-scheue Leser nachvollziehbar gehalten und wird durch gelungene Illustrationen ergänzt. Wirhed schweift nicht ab, sondern führt den Leser bereits durch die Gliederung sanft in eine wissenschaftliche Materie ein, vor der die meisten Menschen sicherlich zunächst Scheu empfinden. Auch scheinbare Kleinigkeiten wie die farbliche Absetzung von Hinweisen im Text auf Abbildungen am Rand erleichtern die Lektüre und hinterlassen am Ende des Buchs den Eindruck, leichtgängig und ausreichend über Sportanatomie und Bewegungslehre informiert worden zu sein. Auch als Nachschlagewerk ist das Buch gut geeignet. Wer jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit den beschriebenen Konzepten, dem Sportbegriff und seiner politischen Einordnung sucht, wird bei Wirhed nicht fündig.


Rolf Wirhed
Sportanatomie und Bewegungslehre
Schattauer GmbH, 3. Auflage 2001
158 Seiten / 429 Abbildungen
ISBN 3-7945-2081-5