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REZENSION/043: Clifford Stoll - Die Wüste Internet (Computer) (SB)


Clifford Stoll


Die Wüste Internet

Geisterfahrten auf der Datenautobahn



'Endlich einmal ein Buch, das die nun auch in Deutschland ausgebrochene Internet-Euphorie und den Glauben daran, daß in der Nutzung und Fortentwicklung dieser Technologie die elektronische Zukunft der Menschheit liegt, kritisch unter die Lupe nimmt und sich im Detail mit den Argumenten für und gegen das Internet auseinandersetzt', dachte ich, als mir das neue Buch von Clifford Stoll in die Hände fiel.

Aus dem Klappentext erfährt man: "Die schlechte Nachricht dieses Buches lautet: So wunderbar, wie sie uns versprochen wurde, ist die schöne neue Welt des Internet gar nicht. Die gute Nachricht lautet - ebenso."

Nach der eigenen Aussage Stolls diente das Schreiben dieses Buches der kritischen Auseinandersetzung des Autors mit dem Internet. Er beschreibt seine Motivation für diese Niederschrift mit den Worten:

Nicht die Computer als solche bereiten mir Kopfzerbrechen, es ist die Kultur, die sie umgibt. Das Folgende zeigt, wie ich vermute, die zunehmend zwiespältigen Gefühle, die ich gegen diese voll im Trend liegende Gemeinschaft hege. Wie die Netze entwickeln sich auch meine Ansichten über sie, und meine auseinanderstrebenden Eindrücke bringen widersprüchliche Standpunkte hervor.
(Seite 15)

Aus eigener Erfahrung bringt der Autor viel Verständnis für die zahlreichen Phänomene auf, die mit dem Internet verknüpft sind: zum Beispiel das nächtelange Surfen, die ungezielte, aber durchaus spannende Suche nach interessanten Nachrichten und Informationen oder das langwierige und zeitaufwendige Beantworten von E-Mails anderer unbekannter Internet-User, um nur einige zu nennen. Doch der Stellenwert dieser Dinge hat sich für Clifford Stoll im Laufe der Zeit verändert, und nun versucht er, sie an den richtigen Platz in seinem Leben zu rücken.

Hatte ich zunächst befürchtet, mir einen mühsamen Leseweg durch die trockene Internet-Materie suchen zu müssen, so wurde ich beim Lesen der ersten Kapitel positiv überrascht. Neben leicht verständlichen Informationen zum Internet beschreibt der Autor persönliche Erlebnisse, die seine Einstellung zu dem Medium Computer entscheidend geprägt haben, und er verknüpft Erinnerungen und freie Assoziationen mit den Gedanken, die er sich über das Internet macht.

Die biographischen Episoden lesen sich recht kurzweilig und amüsant. So berichtet Stoll mit viel Selbstironie von einer etwas chaotischen Höhlenwanderung, zu der er sich von einem Kommilitonen überreden ließ, oder von einer peinlichen Begebenheit, die sich in China zutrug und dem Autor zu einer tieferen Erkenntnis verhalf.

Der lockere Erzählstil und die scheinbar ungeordnete Aneinanderreihung von Ideen und Gedanken mögen manchen Leser vielleicht abschrecken, doch wird auf diese Weise ein Eindruck des oberflächlich "flapsigen" Umgangstons vermittelt, der in den Netzen vorherrscht.

Ein tieferer Einblick in die Struktur des Internet wird in diesem Buch nicht geboten. In erster Linie geht es hier um die Auseinandersetzung mit dem Internet als einem gesellschaftlichen Phänomen unserer Zeit. Dabei ist es höchst interessant, die Entwicklung der Computer- und Internetgeschichte praktisch aus erster Hand geliefert zu bekommen von jemandem, der von sich mit Recht behaupten kann, er sei von Anfang an dabei gewesen.

Die ungezwungene Art zu erzählen und zu assoziieren beschert dem Leser immer wieder überraschende Details, wie z. B. das Rezept für einen Schokoladenkuchen oder Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Schreibmaschine. Nie kann man vorhersehen, in welche Richtung sich das Kapitel entwickeln wird.

Der Autor selbst beschreibt seine Vorgehensweise beim Schreiben dieses Buches treffend wie folgt: "Ich mache mich also aus einem Zustand der Verwirrung heraus an die Niederschrift dieser freien Meditationen". (Seite 15)


Nach fünf Kapiteln wird das Buch langsam etwas anstrengend. Das episodenhafte Erzählen tritt in den Hintergrund und die Aufmerksamkeit des Lesers verliert sich in zahllosen Beispielen, Zitaten und Argumenten. Was zunächst eine spritzige Auseinandersetzung zu werden versprach, entwickelt sich zu einer seichten Aneinanderreihung kritischer Betrachtungen ohne jegliche Höhepunkte und ohne Stringenz.

Der Eindruck des jugendlich-idealistischen, wenn auch inzwischen studierten Computerfreaks, der auf den ersten Seiten durch den lockeren Umgangston entstanden ist, weicht allmählich dem Bild des im Grunde etablierten und gesetzten Akademikers, der zwar die heiße Zeit der rasanten Entwicklung des Computers von Anfang an miterlebt hat, dessen jugendliche Euphorie inzwischen jedoch einer "erwachsenen" und "vernünftigen", an den bürgerlichen Normen orientierten Betrachtungsweise gewichen ist.

Dabei beschleicht den Leser nach und nach ein ungutes Gefühl. Ist es die zunehmende Schwarz-Weiß-Malerei, die an manchen Stellen die Bemühung um die kritische Auseinandersetzung verdrängt, oder ist es die etwas langweilige und umschweifige Art des Autors, die gute alte Zeit, in der noch alles ganz anders und viel besser war, heraufzubeschwören?

C. Stoll stellt zum Beispiel das ausschließliche Lernen per Computer dem persönlichen Lernen in kleinen Gruppen gegenüber, das Malen allein mit ausgetüftelten Computerprogrammen dem tatsächlichen Malen mit echten Farben und all den positiven sensorischen und motorischen Eindrücken und Erfahrungen, die sich damit verbinden. An einigen Stellen geht der Autor sogar so weit, den Nutzer von Computer und Internet für unmündig zu erklären. Dieser scheint nicht in der Lage zu sein, den Bildschirm auch einmal abzuschalten und statt dessen ein Buch zu lesen. Er versteckt sich hinter dem Bildschirm und meidet soziale Kontakte. Er benutzt das Internet als Ablenkung und lernt nicht, sich auf das wirklich Wesentliche zu konzentrieren. Kurz gesagt: Es besteht die Gefahr, daß die bewährten gesellschaftlichen Werte durch das Surfen im Internet über Bord fallen, ohne daß der "dumme" Internet-Nutzer dies überhaupt bemerkt!

Ein Beispiel für solche Pauschalitäten findet sich auf Seite 268, wo es um die Nutzung von Online-Bibliotheken geht:

Mit anderen Worten: Die Menschen sind faul. Bequemer Gebrauch ist ihnen wichtiger als Inhalte. Bringen Sie etwas ins Netz, was auch immer, und die Forscher werden darauf abfahren, ob es nun richtig ist oder nicht.

Zugute halten muß man dem Autor, daß er wirklich alle gängigen Argumente für und gegen das Internet aufgreift. So versetzt er auch den nicht allzu Internet-bewanderten (oder besser Internet- besurften?) Computernutzer, dessen Kenntnisse mehr theoretischer als praktischer Natur sind, in die Lage, sich an der Diskussion um die Folgen dieses Phänomens für unsere Gesellschaft zu beteiligen.

Für ein gezieltes Suchen bestimmter Themenkomplexe eignet sich das Buch allerdings nicht. Denn Kapitelüberschriften wie beispielsweise

Weitere Erforschung der Computerkultur und Behandlung weiterführender Themen wie die Einsamkeit des Anwenders, die Natur der Werkzeuge, die Nützlichkeit der Kanalisation sowie den andauernden Zwiespalt des Verfassers; mit einer Abschweifung in die Allraddiskussion über den Unterhalt der Nationalen Infrastruktur

oder

Der Autor untersucht die umfassende Fähigkeit des Computers, Frustration zu erzeugen

oder

Der Autor widmet sich der Zukunft der Bibliothek, dem Mythos der freien Information und einer neuartigen Methode, Badewasser zu erhitzen

sind zwar dazu geeignet, den Leser neugierig zu machen, nicht aber, ihn über den Inhalt zu informieren.

Den Anspruch an eine klare Gliederung hatte der Autor ja auch gar nicht. Vielmehr ging es ihm offensichtlich darum, den Zwiespalt zu klären, der für ihn aus seiner Entwicklung vom euphorischen Computerfreak zum skeptischen und pragmatischen Computernutzer entstanden ist. Denn trotz allen Liebäugelns mit der erfolgreichen Position des gestandenen Astronomen und Spezialisten für Datenschutz und Computersicherheit, als der er häufig von US-Senatsausschüssen angehört wird, muß Stoll den Wandel seiner Ansichten während des Erwachsenwerdens immer wieder vor sich selbst rechtfertigen. Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem Internet im Grunde genommen nur das Mittel zum Zweck.


Trotz allem, was man an Kritik äußern muß, ist "Die Wüste Internet" zumindest für diejenigen, die ihr Spektrum an kritischen Argumenten für die Diskussion um Datenautobahnen und Netze noch erweitern wollen, ein durchaus lesens- und empfehlenswertes Buch.

Der Autor selbst faßt das Resümee seiner Überlegungen im letzten Kapitel wie folgt zusammen:

Ich begann die Niederschrift dieser Überlegungen in einem Zustand des Zweifels und inneren Zwiespalts gegenüber Computern, Netzen und der Kultur, in die sie sich einbetten.

Zuerst wollte ich über technische Angelegenheiten nachdenken. Doch ich fand mich immer wieder bei demselben Gedanken wieder: daß wirkliches Leben und authentische Erfahrung weit mehr bedeuten, als ein Modem jemals bieten kann. Informationskultur ist nicht gleichbedeutend mit Wissen. Elektronische Netze untergraben wichtige Teile unseres Gemeinwesens. Wie Autos und Fernsehgeräte erteilen sie uns eine höchst verführerische Freiheit, nämlich die "Freiheit zu". Während ich zu den lockenden Botschaften aus meinem Computer auf Distanz gehe, fange ich an, mich mit einer anderen Sorte Freiheit vertraut zu machen - nennen wir es die "Freiheit von".


Clifford Stoll
Die Wüste Internet
Geisterfahrten auf der Datenautobahn
Originaltitel: Silicon Snake Oil
Second Thoughts on the Information Highway
S. Fischer Verlag GmbH
Frankfurt am Main 1996
350 Seiten
ISBN 3-10-075105-1