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REZENSION/014: Hans M. Enzensberger - Die große Wanderung (Politik) (SB)


Hans Magnus Enzensberger


Die Große Wanderung



Hans Magnus Enzensbergers Buch "Die große Wanderung" findet als Beitrag für die aktuelle Asyldebatte wohl auch Anerkennung. Da es an Deutlichkeit in der Beschreibung der betrachteten sozialen Verhältnisse nicht mangelt, empfiehlt die "FAZ" dieses Buch den "Matadoren des "Asylstreits"".

Nach gewissenhaftem Lesen der in diesem Buch gesammelten Ansichten und Meinungen des Autors bleibt dennoch beim Leser nur der Eindruck zurück, altbekannte Thesen in zwar neuer Komposition und ungewohnt umgänglicher Sprache, aber von nicht weiterführendem Inhalt in Betracht gezogen zu haben.

Der Titel des Buches "Die große Wanderung" ist durchaus dazu geeignet, den Eindruck zu erwecken, man könnte hier etwas über die Wanderungen der Völker der vergangenen Jahrhunderte erfahren. Dem ist ganz und gar nicht so. Allerdings muß entschuldigend erwähnt werden, daß es auch mit keinem Wort als ein wissenschaftliches Buch ausgewiesen wird, und von daher mag es wohl in den Bereich der künstlerischen Freiheit fallen, lose Assoziationen in Fragmenten zu einem Text zu gestalten. Vielleicht wählte er aus diesem Grund den zusätzlichen Titel "33 Markierungen". Jedenfalls befreite Enzensberger sich auf diese Weise von der Anforderung, eine inhaltlich zusammenhängende Analyse und Beschreibung des Problems heutiger wie auch vergangener Wanderbewegungen vorzunehmen. Der Leser wird also mit einer Anzahl von Teilaspekten konfrontiert, die jedoch nicht einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Thema entstammen können, beschreiben sie doch lediglich die sozialen Erscheinungsformen, die vom Autor leider als die eigentliche Problematik verkannt werden. Dabei bewegt er sich nicht selten auf dem Gebiet der psychologischen Erklärungsversuche, was insgesamt betrachtet zu unausgesprochenen Appellen führt, soziale Verhaltensweisen zu überdenken und seine Anständigkeit neu zu beleben.

Die auch von Enzensberger erwähnten schon immerwährenden Wanderungen und Anfeindungen gegenüber Fremden dürften allerdings für die Vergeblichkeit derartiger Appelle Beispiel genug sein. Zudem weist die Kontinuität dieser Entwicklung in der Menschheitsgeschichte auf so zwingende Verhältnisse hin, denen sich anscheinend kein menschliches Wesen entziehen konnte oder wollte. Allen Menschen, ja allen Lebewesen, ist die Körperlichkeit gemein. Damit verbunden bleibt die ewige Not des Überlebens. Hunger, die Suche nach Nahrung, das Bestreben, die Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse zu sichern, sind und waren letztendlich die einzigen Beweggründe für Menschen, zu rauben und zu töten, zu unterwerfen und in Besitz zu nehmen. Selbst wenn für dieses wohl schwierigste Problem des Menschen keine Lösung bekannt oder in Aussicht steht, ist es doch keine Rechtfertigung dafür, es als Problem gänzlich zu verleugnen.

Genau mit dieser Verleugnung mischt sich Enzensberger mit ganz gewöhnlichen Empörungen und Anschuldigungen in die sogenannte "Asyldebatte" ein. Das einzig Hervorstechende bleibt dann die etwas dreiste und zornige Sprache, derer er sich bedient. Etwas wenig, meine ich, gemessen an dem Anspruch, etwas zum Thema zu schreiben.

Unter dem Titel "Die Große Wanderung" vergleicht Enzensberger die weltweite Migration (lat. migratio = "Wanderung", "Auswanderung") mit einer Art Klimakarte, auf welcher blaue und rote Pfeile in verschiedene Richtungen weisen, und schlußfolgert:

"Der normale Zustand der Atmosphäre ist die Turbulenz. Das gleiche gilt für die Besiedlung der Erde durch den Menschen". (S.9)

Der Autor selbst erwähnt zwar Kriege, Eroberungsfeldzüge, Hungersnöte, Verschleppung und Sklavenhandel als Anlässe für Wanderungsbewegungen, doch bleiben dies in der gewählten Form der Darstellung soziale Phänomene, mehr oder weniger plötzlich auftretende Ereignisse, denen ein Hauch von Schicksalhaftigkeit anhaftet. Gerade in unserer Zeit könnten wir sehr gut wissen, daß der u.a. durch fortgesetzte Gebietsansprüche hervorgebrachte Nahrungs- und Wassermangel Anlaß für kriegerische Auseinandersetzungen ist. Sicherlich wird das nicht in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gestellt, bleibt aber für den Interessierten leicht erkennbar.

Man erinnere sich nur an das Beispiel Israel. Der Kampf um die Golanhöhen, um das Westjordanland ist ein Kampf ums Wasser. Laut einer Studie der amerikanischen Regierung drohen auch an mindestens zehn anderen Orten der Welt zwischenstaatliche Kriege um grenzüberschreitende Wasserressourcen. Weltweit gibt es über 200 Wassereinzugsbecken, die von mehreren Staaten genutzt werden. In einigen Regionen ist die Frage um das Wasser schon heute äußerst heikel.

Eine ständig wachsende Bevölkerung bringt einen höheren Wasserbedarf mit sich, was nicht gerade zur Entspannung der Verhältnisse beitragen wird. Not und Mangel an grundlegenden Nahrungsressourcen werden sich weiter ausbreiten.

Angesichts dieser Lage dann auf Verhaltensmuster des Menschen zu verweisen, halte ich für den Versuch, von den eigentlichen Schwierigkeiten abzulenken. So beschreibt der Autor anhand von Reisenden in einem Eisenbahnabteil die Verhaltensweisen Fremden oder Neuankömmlingen gegenüber. Daß die Menschen sich in diesem Abteil mit ihrem Hab und Gut ausbreiten und fremden, neu hinzugekommenden Reisenden gegenüber territoriales Verhalten an den Tag legen, ist für den Autor "irrational" und "um so tiefer verwurzelt". (S. 12) Und für den Umstand, daß tätliche Auseinandersetzungen in dem Bahnabteil unterbleiben, hat Enzensberger folgende Erklärung: "Das liegt daran, daß die Fahrgäste einem Regelsystem unterliegen, das nicht von ihnen abhängt. Ihr territorialer Instinkt wird einerseits durch den institutionellen Code der Bahn, andererseits durch ungeschriebene Verhaltensnormen wie der Höflichkeit gebändigt." (S. 12)

Es darf jedoch mit Sicherheit angenommen werden, daß jegliche Höflichkeit dann aufhört und jegliche Unterordnung unter bestimmte Verhaltens-Codes dann nicht mehr geleistet wird, wenn die Not so groß ist, daß er Einzelne seine Existenz bedroht sieht. Im Kampf ums Überleben zählt nur der Erfolg, keine Gesetzestreue, kein Anstand und überhaupt nichts von alledem, was sich Menschen einbilden, als beständige Werte geschaffen zu haben.

Als Ausgangspunkt für diese "Turbulenz", also wohl das, was Herr Enzensberger mit Migration meint, nimmt er in Übereinstimmung mit den meisten Paläontologen Afrika an. Von dort aus habe sich die Migration in "komplizierten" und "riskanten" Schüben über den ganzen Erdball ausgebreitet. Um diesen Punkt einen Streit zu entfachen, kann nicht weiterführen. Man geht davon aus, daß über dreieinhalb Millionen Jahre lang alle Hominoiden nur in der südöstlichen Hälfte Afrikas gelebt haben. Der homo erectus war der erste, der diesen Lebensraum wesentlich erweiterte. Um 500 000 v. Chr. war er über Afrika hinaus bis nach Europa und Asien und auch bis zu den indonesischen Inseln vorgedrungen. Ein Grund für diese Wanderung ist nicht sicher bekannt, doch kann man davon ausgehen, daß auch dieser Mensch ein Interesse am Überleben hatte und vielleicht auf der Suche nach Nahrung weiterwanderte.

Nachweisbar und unseren Vorstellungen etwas näher ist allerdings eine außergewöhnliche "Wanderung" von Afrika in der Zeit von ca. 1500 bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Doch fand sie keinesfalls freiwillig statt. Viele Millionen Afrikaner wurden gefangen, versklavt und zum größten Teil nach Amerika, speziell nach Südamerika, verschleppt. Eine vergleichsweise kleinere Anzahl wurde nach Europa verschifft. Wenn man so will, zählt auch dies dann zu den "normalen" Turbulenzen bei der Besiedlung der Erde.

H.M. Enzensberger stellt seine eigene Theorie zur Seßhaftigkeit des Menschen dar. Er geht davon aus, daß sie nicht zu den "genetisch fixierten" Eigenschaften des Menschen gehört und behauptet:

"Unsere primäre Existenz ist die von Jägern, Sammlern und Hirten". Daß all die sozialen Formen menschlicher Existenz eine Gemeinsamkeit haben, die wohl schwerer wiegen mag, als jede "genetische Fixierung" einer Eigenschaft, welche ja letztlich nur ein Modell ist, um sogenannte menschliche Verhaltensweisen als unabänderlich, naturgegeben, eben "genetisch fixiert" erscheinen zu lassen und damit schicksalshaft, läßt der Autor unerwähnt.

Vielleicht weil damit das Bild von den ursprünglichen sozialen Verhältnissen als die besseren im Vergleich zu den heutigen aufrecht erhalten werden kann. Doch Jäger und Sammler wie auch Hirten waren von der gleichen Not des Überlebens getrieben.

Ackerbau und Viehzucht sind dann weitere Formen, dieses Bemühen möglichst effektiv umzusetzen. Schon immer ist dem Streben der Überlebenssicherung Raub und Besitz vorausgegangen. Und zwar in dieser Reihenfolge.

Seit Menschen ein-, ver- oder zuteilen, Güter, Tiere und Menschen abzählen und sich als Einzelwesen gegenseitig das Überlebensrecht streitig machen, existieren auch die entsprechenden Herrschaftsverhältnisse. Geprägt ist diese Struktur durch die mittels Raub (also Gewaltanwendung, Krieg) entstandenen Besitzverhältnisse, die den Besitzenden (also Gewaltausübenden) absolute Vorrechte einräumen. An dieser Struktur hat sich bis heute nichts geändert, wenn auch der Aufwand, dieses Grundverhältnis zu verdecken, enorm gewachsen ist.

Zum Schluß sei noch ein ganz zentraler Punkt in der Argumentation von Hans Magnus Enzensberger genannt:

Völkerwanderung und Fremdenhaß hat es nach Meinung des Autors schon immer gegeben. Er wendet sich gegen das Verdrängen von den bereits gemachten Erfahrungen mit diesen Erscheinungen. Im Abgrenzung zu bereits bestehenden Erklärungsversuchen nennt er "Gruppenegoismus und Fremdenhaß" als "anthropologische Konstanten", die jeder Begründung vorausgehen müssen. Ihre universelle Verbreitung spricht dafür, daß sie älter sind als alle bekannten Gesellschaftsformen. (S. 13)

Zu allererst Forderungen an die Vernunft des Menschen zu stellen, die sich gegen "Gruppenegoismus" und "Fremdenhaß" richten müßte, kann sich doch nur noch als fromme Hoffnung erweisen. Hat sich etwa über die Jahrtausende hinweg durch Appelle an die Vernunft die durch Gewalt gezeichnete Geschichte der Menschen in der vorgeblich gewünschten Weise geändert?

Die von ihm genannten Phänomene "Gruppenegoismus" und "Fremdenhaß" als absolut grundlegend anzunehmen leitet abermals auf eine psychologisierende Sicht, die unausgesprochen Veränderungen und Korrekturen durch Zucht, Ordnung und Disziplin nahelegen. Die Implikation von Gewaltverhältnissen - im einzelnen wie auch staatlich organisiert - schwingt hier ebenso mit. Ein Staat wie beispielsweise die BRD muß sich, so auch Enzensbergers Auffassung, gegen Anfeindungen wehren und die Demokratie wahren.

Doch allein bei der Vorstellung, die Hungernden aus der Dritten Welt würden zu einem Marsch gen Norden aufbrechen, um sich Nahrung und Überlebensgüter zu beschaffen, läßt doch deutlich werden, welche Mittel angewendet werden müßten, um diesen "Schutz" des Staates zu gewährleisten. Und wem wollte man dann "Gruppenegoismus" und "Fremdenhaß" vorwerfen? Wer wollte entscheiden, welche Menschen mehr Recht auf Überleben haben?

Die Frage ist zu weitreichend und existentiell, als daß sie auf der sozialen bzw. psychologischen Ebene abgehandelt werden könnte.


Hans Magnus Enzensberger
Die Große Wanderung - 33 Markierungen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994
76 Seiten