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BUCHBESPRECHUNG/203: Sahra Wagenknecht - Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt (Klaus Ludwig Helf)


Sahra Wagenknecht

Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt

von Klaus Ludwig Helf, 2. Juli 2021


Bereits vor seinem offiziellen Start im Buchhandel hat der vorliegende Band der ehemaligen Fraktionschefin der Linken für erheblichen Wirbel gesorgt - sowohl in ihrer eigenen Partei als auch in der politischen Öffentlichkeit. Er rangiert auf den Bestsellerlisten ganz oben. In ihrem Buch geht es nach dem Willen der Autorin um Linkssein im 21. Jahrhundert "jenseits der Klischees und modischen Phrasen". Dazu gehöre für sie auch das Lernen von einem aufgeklärten Konservatismus: "Mit diesem Buch positioniere ich mich in einem politischen Klima, in dem cancel culture an die Stelle fairer Auseinandersetzungen getreten ist. Ich tue das in dem Wissen, dass ich nun ebenfalls 'gecancelt' werden könnte" (S. 18). Sie wolle mit ihrem Buch die gesellschaftliche Debatte über die Rolle aller linken Parteien anstoßen, ein spezifisches Verständnis von Links-Sein kritisieren, das die linken Parteien in Europa geschwächt und vielfach in die Bedeutungslosigkeit geführt habe. Wer die politischen Positionen von Sahra Wagenknecht kennt, wird beim Lesen wenig überrascht werden und viele bekannte Argumente etwas ausführlicher formuliert vorfinden wie z.B. zur EU und zum Nationalstaat, zur Familien- und Flüchtlings- und Migrationspolitik oder zur Globalisierung. Neu im Band sind die polemisch und satirisch zugespitzten Angriffe auf die "Lifestyle-Linke", die sie für viele misslungenen Entwicklungen von der Schwächung der Linken in Deutschland und Europa über den Niedergang der Debattenkultur bis zum wachsenden Erstarken der Rechten verantwortlich macht.

Der Band ist in zwei fast gleich große Teile gegliedert. Im ersten Teil analysiert Sahra Wagenknecht "Die gespaltene Gesellschaft und ihre Freunde" und versucht in einem analytischen Zugriff die Ursachen für den Niedergang der sozialdemokratischen und linken Parteien in Deutschland und in Europa zu finden. Im zweiten Teil entwirft sie ein persönliches "Programm für Gemeinsamkeit, Zusammenhalt und Wohlstand". Danach folgt eine Liste der weiterführenden Literatur und die Anmerkungen.

Das öffentliche Bild der gesellschaftlichen Linken - so ihre These - sei maßgeblich geprägt von "Lifestyle-Linken", meist gutverdienenden und akademisch gebildeten Kosmopoliten. Von der klassischen Linken mit ihrer Nähe zu den "kleinen Leuten" und den Gewerkschaften seien sie weit entfernt und entfremdet. Im Mittelpunkt dieser urbanen "Salon-Linken" stünden nicht mehr soziale und politische Probleme, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und der moralischen Haltungen. Moralisieren statt Argumentieren sei die Devise. Identitätspolitik sei das Grundgerüst des linksliberalen Weltbildes, bei dem es nicht um die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten gehe, sondern um deren Privilegierung: "Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie einen Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein." (S. 102). Dagegen sei die Herkunft aus sozial schwierigen Verhältnissen, Armut oder ein Job, in dem man seine Gesundheit ruiniere, eher ungeeignet, als Opfer zu gelten. Identitätspolitik lenke die Aufmerksamkeit weg von gesellschaftlichen Strukturen und Besitzverhältnissen und richte sie auf individuelle Eigenschaften wie Ethnie, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung. Die traditionelle Linke habe die Menschen ermutigt, ihre Identität vor allem über ihre soziale Stellung zu definieren.

Die Identitätstheorie finde die wichtigste identitätsstiftende Zustimmung des Menschen in Merkmalen außerhalb und unabhängig von seinem sozialen und gesellschaftlichen Leben und spalte damit die sozialen Gruppen, was fatale Auswirkungen für den gesellschaftlichen Zusammenhang habe. Dieses Politik-Angebot sei dominierend geworden in den meisten europäischen Ländern bei Sozialdemokraten, sozialistischen und anderen linken Strömungen und auch bei den Grünen. Die "Lifestyle-Linke" habe im Verbund mit dem ökonomischen Neoliberalismus einen neuen identitätspolitischen "Linksliberalismus" politisch durchgesetzt. Sie sei überheblich, verkläre ihren eigenen Lebensstil zur Tugend und kümmere sich mehr um Themen wie Identitätspolitik, Klima, Umwelt, Gender, Diversität, Veganismus und Antirassismus, habe die Bodenhaftung verloren und schaue auf diejenigen herab, die ein einfacheres oder traditionelleres Leben führen. An die Stelle sozio-ökonomischer Gesellschaftsanalyse seien Cancel Culture und eine lockere Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik gerückt. Mit dieser Symbolpolitik sei eine Entsolidarisierung mit dem unteren Drittel unserer Gesellschaft geschaffen worden.

Ähnlich wie in den USA sei auch die Gesellschaft in Deutschland tief gespalten, der gesellschaftliche Zusammenhalt zerfallen: "Auch in unserem Land ist aus dem gesellschaftlichen Miteinander ein über weite Strecken feindseliges Gegeneinander geworden. Gemeinwohl und Gemeinsinn sind Worte, die aus der Alltagssprache nahezu verschwunden sind. Das was sie bezeichnen, scheint nicht mehr in unsere Welt zu passen" (S. 9). Vier Jahrzehnte Wirtschaftsliberalismus, Sozialabbau und Globalisierung hätten die westlichen Gesellschaften so gespalten, dass sich das reale Leben vieler Menschen mittlerweile nur noch in der Filterblase des eigenen Milieus abspiele. Unsere angeblich offene Gesellschaft sei von sozialen Mauern durchzogen. Nicht erst seit Corona habe sich die Diskussionskultur in unserer Gesellschaft verabschiedet, es werde moralisiert statt argumentiert, geballte Emotion ersetze Inhalte und Begründung wie z.B. bei den Debatten über Zuwanderung/Flüchtlingspolitik und über Klima/Umwelt.

Unsere Gesellschaft habe es verlernt, ohne Aggression und Respekt über ihre Probleme zu diskutieren. An die Stelle des demokratischen Meinungsstreits seien emotionalisierte Empörung, Rituale, Anfeindungen und offener Hass getreten. Das Klima sei nicht nur von rechts vergiftet worden, vielmehr sei die erstarkte Rechte nicht die Ursache, sondern selbst das Produkt einer zerrissenen Gesellschaft: "Viele sozialdemokratische und linke Parteien haben den Aufstieg der Rechten aber auch politisch und kulturell unterstützt, indem sie sich auf die Seite der Gewinner schlugen und viele ihrer Wortführer seither die Werte und die Lebensweise ihrer einstigen Wählerschaft, ihre Probleme, ihre Klagen und ihre Wut verächtlich machen" (S. 11).

Sarah Wagenknecht überdreht mit aggressiver Schärfe ihre analytisch nicht völlig überzeugenden und zutreffenden Angriffe auf den "Linksliberalismus", der am Niedergang unserer Debattenkultur einen großen Anteil habe: "Linksliberale Intoleranz und rechte Hassreden sind kommunizierende Röhren, die sich gegenseitig brauchen, gegenseitig verstärken und voneinander leben. Ob Flüchtlingspolitik, Klimawandel oder Corona, es ist immer das gleiche Muster: Linksliberale Überheblichkeit nährt rechte Terraingewinne" (S. 13).

Im Gegensatz zu Nancy Fraser oder Nils Heisterhagen, die sich bereits vor Jahren mit dem programmatischen und realpolitischen Verhältnis von Linken zu Neoliberalismus und Links-Liberalismus intensiv und differenziert beschäftigt haben, wirft Wagenknecht vieles undifferenziert und analytisch unscharf in einen Topf und mischt alles zu einem giftigen Gebräu, in das sie ihre Speerspitzen gegen die "Lifestyle-Linken" eintaucht.

Im zweiten Teil des Bandes stellt Sahra Wagenknecht ein auf Gemeinsinn und Zusammenhalt orientiertes, wertkonservatives Programm vor, das sie selbst als links-konservativ bezeichnet. Es ist in weiten Teilen klassisches sozialdemokratisches Programmgut, wenig visionär-radikal ambitioniert, eher bieder und moderat - erstaunlich für eine Autorin, die einst Mitglied der "Kommunistischen Plattform" war. Insgesamt ist der Band trotz der völlig eindimensionalen, polemisch zugespitzten und soziologisch wenig fundierten Attacken lesenswert, regt zum Nachdenken und Diskutieren an, da auch einige Volltreffer und scharfsinnige Beobachtungen über gesellschaftliche Entwicklungen zu finden sind.

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus, Frankfurt a. M. 2021, 345 Seiten, 24,95 Euro.

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Quelle:
© 2021 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 13. Juli 2021

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